Der vorliegende Sammelband ist aus einer gemeinsamen Tagung des "Vereins für Reformationsgeschichte" und der nordamerikanischen "Society for Reformation Research" im August 1999 hervorgegangen. Thematisiert wurde das historische Phänomen nonkonformistischer Religiosität im 16. Jahrhundert. Die verschiedenen Aufsätze gehen von dem Begriff der radikalen Reformation aus, den G. H. Williams 1962 in seinem Epoche machenden Werk "The Radical Reformation" prägte.
Die Erforschung des reformatorischen Dissens hat aus den USA entscheidende Impulse erhalten. Dies ist in der Religionsgeschichte begründet, konnten doch gerade in Amerika eine Vielzahl dissentierender reformatorischer Gruppen aus dem Reich und seinen Randgebieten sowie aus England überleben. In Europa dagegen wurde bis in unsere Zeit die radikale Reformation immer als Abweichung vom Luthertum und vom Reformiertentum gelesen, während ihre Eigenständigkeit im angelsächsischen Bereich viel stärker betont wurde. Insofern treffen in diesem Sammelband auch zwei unterschiedliche Wissenschaftstraditionen aufeinander. Die deutschen Beiträge thematisieren radikale Gruppen immer in Beziehung zu etwas, sei es zu den Reformatoren, sei es zur Obrigkeit, während in den amerikanischen Beiträgen das religiöse Phänomen aus sich heraus zu beschreiben versucht wird.
In der Einleitung entwickelt James M. Stayer den Begriff der radikalen Reformation von der Studie Williams' her, den dieser gegen die "Magisterial Reformation" und die "Counter Reformation" abgrenzte. Der Sammelbegriff der radikalen Reformation war zuerst als ein theologischer Begriff gedacht: die von den sich durchsetzenden Mehrheitskonfessionen abweichenden religiösen Strömungen. Insofern definierte der politische Misserfolg den Status der Radikalität, denn die Reformation an sich war bereits ein radikaler Vorgang.
Dieser Einsicht sind die ersten drei Beiträge verpflichtet ("I. Die Radikalität der Reformation"). Hans Jürgen Goertz betont die Ausweitung des Begriffs der radikalen Reformation zu einem sozialgeschichtlichen Begriff. Die Reformation an sich war eine radikale Bewegung, und Teile davon wurden erst im Konfessionalisierungsprozess konformistisch. Scott Hendrix hingegen versucht den Radikalismus der Reformation in Jean Delumeaus Christianisierungsthese zu verorten: Erst mit der Reformation habe eine tiefe Verchristlichung der Gesellschaften Europas eingesetzt, die bis dahin weitgehend heidnisch in Glaube und Praxis gewesen sei. In gewisser Weise sahen sich die Reformatoren jedweder Couleur als Vollstrecker dieser Christianisierung. Ihnen galt der alte Glaube als heidnische Praxis, der sie ein wahres Christentum entgegensetzen wollten. Am Beispiel Thomas Müntzers zeigt Günter Vogler beispielhaft den Weg eines Theologen zum Radikalismus in den Stufen "Konsens - Konflikt - Dissens" auf. Müntzer strebte nach einer radikalen Verchristlichung der Welt.
Die nächsten beiden Aufsätze stehen unter der Überschrift "Täufer". Zunächst gibt James M. Stayer einen Überblick über die Forschungen zur Täufergeschichte seit der Mitte des 20. Jahrhunderts und betont den Einfluss angelsächsischer Arbeiten auf eine gerechtere Bewertung der Täufergeschichte. Eike Wolgast behandelt die obrigkeitliche Politik, und zwar auf Reichsebene, in den Territorien und den Städten, gegenüber den Täufern. Hervorgehoben werden die differierenden Haltungen der Obrigkeiten gegenüber den Täufern. Tendenziell wurden sie in den katholischen Gebieten am härtesten verfolgt, wohingegen in den Reichsstädten und in Hessen die Verfolgungsmaßnahmen milder waren. Weiterhin wird das Obrigkeitsverständnis wichtiger Täuferführer angesprochen, das ebenfalls äußerst differenziert war. Der Separatismus der frühen Täufer war gleichermaßen Reaktion auf und Ursache für die Verfolgungen.
Der nächste Themenblock ist den Spiritualisten gewidmet. R. Emmet McLaughlin beginnt mit einem Überblick über die Formen des Spiritualismus und betont dessen Vielgestaltigkeit. Der Spiritualismus ist schwieriger zu beschreiben als die Mehrheitskonfessionen oder das Täufertum, da er von seinem Strukturprinzip her, der radikalen Individualisierung des Glaubens, gar nicht kirchenbildend wirken konnte. Außerhalb der "Schwenckfelder Church" hat der Spiritualismus nicht kirchenbildend gewirkt. Und auch die "Schwenckfelder Church" war und ist eine außerordentlich kleine Gemeinschaft. Am Beispiel zweier Kontroversen, zwischen Brenz und de Soto, dem Beichtvater Karls V., sowie zwischen Flaccius und Schwenckfeld, diskutiert Wilhelm Schmidt-Biggemann die Bedeutung des Geistes bei der Schriftauslegung und als autoritative Quelle. In dem Beitrag wird nicht ganz deutlich, dass die beiden dargestellten Konflikte nichts miteinander zu tun hatten. Brenz betonte die Schriftautorität im Sinne Luthers, de Soto daneben die Tradition als Quelle des Glaubens, während Schwenckfeld eine spiritualistische Schriftinterpretation vertrat. Gary Waite untersucht das Verhältnis zwischen dem Täufer und Spiritualisten David Joris und Johannes Weyer, der 1563 ein wichtiges Traktat zur Hexerei schrieb. Er formuliert dabei die These, dass der antisakramentale Charakter des Spiritualismus eine Haltung gegen die Hexenverfolgungen förderte.
Der vierte Themenblock steht unter der Überschrift "Dissenters und Konfessionalismus" und behandelt die Variationsbreite des Dissens. Susan C. Karant-Nunn beschreibt abweichendes religiöses Verhalten als Reaktion auf die Pfarrer als Fremde in der Dorfgemeinde, die Agenten der Obrigkeit und sozial nicht integriert waren. Widerstand gegen die sozialdisziplinierenden Pfarrer war nicht unbedingt ein Anzeichen für die Widerständigkeit heidnischer Religion gegen die Christianisierungsprozesse der Reformation oder die Existenz täuferischer Religiosität. Im Gegensatz zu den meisten Territorien im Reich setzte Landgraf Philipp von Hessen nicht auf die Politik der blutigen Verfolgung der Täufer, sondern auf das Instrument der Kirchenzucht. Robert von Friedeburg beschreibt diese Politik, die in einem Dilemma gefangen war. Setzten die Pfarrer eine weitgehende Kirchenzucht in den Gemeinden durch, dann führte dies zu erheblichem Widerstand, da die Gemeindeglieder ihr Gemeindeleben zu verteidigen suchten. Führten sie die Kirchenzucht dagegen lax durch, so standen die Pfarrer unter dem Verdacht, aus ihrem Glauben keine entsprechenden Früchte sprießen zu lassen. Letztendlich wollten die Gemeinden aber auch nicht täuferisch werden, da sie die strenge Lebensführung der Täufer nicht teilen wollten. Im letzten Beitrag zeigt James D. Tracy am Beispiel der katholischen Gemeinden in den Niederlanden, dass Dissens das Ergebnis der Haltung der Mehrheit gegenüber der religiösen Minderheit war. In den Niederlanden resultierte die vergleichsweise tolerante Haltung aus dem Konflikt mit den Spaniern, die es der Obrigkeit angeraten sein ließ, die Minderheitsbekenntnisse zu dulden, um den Widerstand gegen die Spanier nicht zu schwächen. Darüber hinaus suchte die Obrigkeit aber die Öffentlichkeit zu kontrollieren, um dem Untertanenverband Anspruch auf "Würde und Respekt" zu dokumentieren. Abgerundet wird der Band mit einem Mitarbeiterverzeichnis.
Der eindrucksvolle Sammelband zeigt die Unterschiede in der kontinentaleuropäischen und der angelsächsischen Reformationsforschung. Wichtige Einsichten wurden ebenso formuliert wie auch Überblicke über die bisherigen Forschungen gegeben. Eindrücklich zeigen die Beiträge die Weite des Forschungsgebietes, in dem noch viel zu leisten ist, ebenso wie die Früchte einer international orientierten Reformationsforschung.
Hans-Jürgen Goertz / James M. Stayer (Hgg.): Radikalität und Dissent im 16. Jahrhundert. Radicalism and Dissent in the Sixteenth Century (= Zeitschrift für Historische Forschung; Beiheft 27), Berlin: Duncker & Humblot 2002, 233 S., ISBN 978-3-428-10744-5, EUR 38,00
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