Historische Jubiläen und Gedenktage gehören zu den seltenen Gelegenheiten, bei denen akademisch geführte Debatten mit einem breiteren öffentlichen Interesse rechnen können. 2004 dürfte in der Bundesrepublik die Aufmerksamkeit neben dem "Wunder von Bern" vor allem auch dem Aufstand der Nama und Herero gegen die deutsche Kolonialherrschaft in Namibia vor hundert Jahren gelten. In der Forschung wird die Vorgehensweise der deutschen Schutztruppe mittlerweile offen als Genozid bezeichnet, und die Frage nach Kontinuitäten des Völkermords in der deutschen Geschichte diskutiert. Die anzuzeigende Neuedition des 1918 von der britischen Regierung veröffentlichten "Report on the Natives of South-West-Africa and their Treatment by Germany" macht dieser Debatte eine wichtige Quelle wieder zugänglich. Die Herausgeber Jeremy Silvester und Jan-Bart Gewald, beides Historiker mit namibischem Hintergrund und Letzterer ein ausgewiesener Experte zur Geschichte der Herero, wollen damit zwar auch einen Beitrag zu den Debatten in Deutschland liefern, haben aber vor allem die postkoloniale Gesellschaft Namibias im Blick. Sie verstehen ihr Buch als Denkmal für die Opfer des Völkermords, a "memorial to those that died" (xxxvi). Die Bedeutung, die Silvester und Gewald dem von der deutschen und europäischen Geschichtswissenschaft praktisch vergessenen "Report on the Natives" beimessen, drückt sich schon im Titel aus: von "the 1918 Blue Book" ist dort die Rede.
Sein außergewöhnlicher Quellenwert liegt in der Prominenz, welche die Autoren des "Blaubuchs" den Berichten von knapp fünfzig afrikanischen Augenzeugen und Zeitgenossen einräumen. Diese unter Eid geleisteten Aussagen, die etwa dreizehn Jahre nach den Kriegsereignissen gesammelt wurden, schildern in bedrückender Eindringlichkeit die brutale Kriegsführung und die menschenverachtende Behandlung der gefangenen Nama und Herero in den Konzentrationslagern der deutschen Schutztruppe. Neben den Briefen des Nama-Chiefs Hendrik Witbooi handelt es sich um rare zeitgenössische Stimmen von afrikanischer Seite, die ein wichtiges Korrektiv zu den zahllosen heroisierenden Autobiografien und Kriegsschilderungen von deutscher Seite darstellen.
Blue Books sind amtliche Publikationen der britischen Regierung, und der "Report on the Natives of South-West-Africa" diente bei seiner Veröffentlichung nach Kriegsende 1918 vor allem dazu, "the most confirmed sceptic of the unsuitability of the Germans to control natives" zu überzeugen, wie es im Vorwort des "Blaubuchs" formuliert wird (17). Das "Blue Book" liefert denn auch unter Rückgriff auf zurückgelassene Dokumente der deutschen Kolonialverwaltung eine detaillierte Anklage der deutschen Kolonialherrschaft in Südwestafrika, angereichert mit bemerkenswerten Ausführungen zur Sozial- und Kulturgeschichte der betroffenen Bevölkerungsgruppen.
Angesichts der propagandistischen Stoßrichtung des "Blaubuchs" wurde sein Quellenwert für die Ereignisse vor Ort in Namibia bislang eher gering veranschlagt. Zu Unrecht, wie Silvester und Gewald anhand von Archivmaterial aus Namibia, Südafrika und Großbritannien in ihrer Einleitung zeigen. Ausführlich diskutieren sie den Entstehungshintergrund des "Blaubuchs", identifizieren seine Autoren und belegen, dass es auf britischer Seite bereits kurz nach der Kapitulation der Schutztruppe 1915 Überlegungen gab, Material zur deutschen "Eingeborenenpolitik" zu sammeln, zumal die deutsche Brutalität während des Krieges den Briten seit langem bekannt war. Die Zusammenstellung des "Blaubuchs" erfolgte ab Herbst 1917 zwar unter großem Zeitdruck, weshalb die Gespräche der Militärverwaltung für Südwestafrika mit den afrikanischen Augenzeugen wohl kaum nach den Erkenntnissen ethnologischer Feldforschung durchgeführt und übersetzt worden sein dürften. Doch verweisen Silvester und Gewald zurecht auf inhaltliche Übereinstimmungen mit zeitgenössischen deutschen Quellen vor allem von missionarischer Seite. Eine 1919 erschienene "Erwiderung auf das englische Blaubuch" des Berliner Reichskolonialamts sah denn auch gar keine große Notwendigkeit, sich gegen die Vorwürfe kolonialer Grausamkeit zu verteidigen. Vielmehr warf sie Großbritannien eine ähnlich schlechte Behandlung der indigenen Bevölkerung in deren eigenen Kolonialgebieten vor und reproduzierte mit ihrem Gestus des "Die anderen doch auch!" im Grunde nur den gleichen Rassismus, der schon als Rechtfertigung der brutalen Vorgehensweise in den deutschen Kolonien diente.[1]
Mit neuen Einsichten warten die Herausgeber auch zu den politischen Entwicklungen 1926 auf, die dazu führten, dass das "Blaubuch" teilweise bewusst aus Bibliotheken entfernt und zerstört wurde und sukzessive in Vergessenheit geriet. Die Anschuldigungen des "Report on the Natives" passten nicht mehr in die politische Landschaft: nicht in Europa, weil angesichts von Deutschlands Eintritt in den Völkerbund auch die Rückgabe einer ehemaligen Kolonie zumindest als Mandat diskutiert und von deutschen Revisionisten gefordert wurde, und vor allem nicht in Namibia. Hier standen zur gleichen Zeit die ersten Wahlen unter der "weißen Herrenschicht" an, und der Vorwurf der "kolonisatorischen Unfähigkeit" der Deutschen vertrug sich kaum mit der erwünschten Integration der im Lande lebenden deutschen Siedler in die herrschende weiße Elite.
Gerade weil nur noch wenige Exemplare des "Blaubuchs" existieren, ist es umso bedauerlicher, dass die Herausgeber die Gelegenheit versäumt haben, mit der Neuauflage auch eine editorisch zuverlässige Textgrundlage zu liefern. Auf eine Erläuterung der editorischen Vorgehensweise wurde gänzlich verzichtet; ob und aus welchen Gründen Eingriffe in den Originaltext vorgenommen wurden, bleibt dem Leser daher unklar. So sucht man vergeblich einen Hinweis, warum die Herausgeber bei der Neuedition auf den Abdruck einer im Original enthaltenen Landkarte der "Territories occupied by Native Tribes" in Namibia um 1890 verzichtet haben. Mit der Karte fehlt nicht nur ein wenig erlässlicher Teil der Quelle, auf den im Text des "Blaubuchs" Bezug genommen wird, gerade nicht landeskundigen Lesern wird durch den gänzlichen Verzicht auf eine Landkarte die geografische Einordnung der Ausführungen des "Blaubuchs" erschwert. Bei einigen Abbildungen werden Bildunterschriften unvollständig wiedergegeben (Abbildungen 3, E.1, E.2), bei Abbildung 2 eine gänzlich andere Bildunterschrift als im Original verwendet (118). Ebenfalls ohne Kennzeichnung werden im Text vorkommende Anführungszeichen durch Kursivsetzung der hervorgehobenen Ausdrücke ersetzt und manchmal ganz weggelassen, womit teilweise deren kommentierende respektive distanzierende Funktion verloren geht. Erst im Verlauf der Lektüre erschließt sich dem Leser, dass mit römischen Fußnotenzeichen generell die Fußnoten des Originals gekennzeichnet werden, während arabische Fußnotenzeichen die Kommentare der Herausgeber anzeigen. Die gewonnene Gewissheit wird aber jäh wieder infrage gestellt, wenn in einer vermeintlich aus dem Original übernommenen Fußnote auf einen Aktenbestand des Berliner Bundesarchivs verwiesen wird (31). Auf eine Kennzeichnung der Seitenzahlen des Originals wurde ebenso verzichtet wie auf einen Abgleich des gescannten Textes der Neuedition mit der Originalvorlage. Nur so erklärt sich, dass anstelle von "time" konsequent "the" im neuen Text steht (43, 50, 61, 64, 67, 178) und sich eine Vielzahl von Druckfehlern eingeschlichen hat, die das Original nicht kennt.
Ausgesprochen hilfreich dagegen nimmt sich das Register aus: es erleichtert den inhaltlichen Zugriff auf die im "Blaubuch" erwähnten Orte, Personen und Sachverhalte. Und manche der Kommentare in den Fußnoten erweisen sich über Hinweise auf weiterführende Quellen und Literatur als wahre Fundgruben, da Silvester und Gewald auch hier oft auf unveröffentlichtes Archivmaterial zurückgreifen. Beim Kommentar überwiegt eindeutig das Interesse an namibischen Verhältnissen und Akteuren, weiterführende Erklärungen zu den deutschen Personen, Ämtern und Einrichtungen finden sich selten. Mit historischen Korrekturen der Aussagen des "Blaubuchs" gehen die Herausgeber insgesamt sparsam um, und nicht immer ist die getroffene Auswahl der kommentierten Textstellen nachvollziehbar. Obwohl beispielsweise die Zahl der Opfer als Kriterium für die Einschätzung als Völkermord bis vor kurzem eine der zentralen Forschungskontroversen darstellte, wird die im Vorwort des "Blue Book" genannte Zahl von 90 000 Opfern zunächst unkommentiert stehen gelassen (11), eine problematisierende Diskussion der Zahlen und der Verweis auf die entsprechende Debatte findet sich erst knappe fünfzig Seiten später (60).
Die Gesamtbewertung des Buches muss daher zwiespältig ausfallen. Die Edition macht eine aussagekräftige Quelle für die Genozidforschung und die vergleichende Kolonialgeschichte wieder zugänglich, und die Diskussion des "Blaubuchs" aus namibischer Perspektive eröffnet Dimensionen der deutschen Kolonialherrschaft in Südwestafrika, die von deutscher Seite trotz der Bemühungen, die Kolonialgeschichte als "geteilte Geschichte" zu begreifen, bislang unterbelichtet geblieben sind. Eine verlässliche Edition des "Report on the Natives of South-West-Africa and their Treatment by Germany" wird angesichts der angesprochenen Mängel allerdings nicht geliefert, und so wird im Zweifelsfall der Griff zu den dicken Findbüchern und voluminösen Wälzern der britischen "Parliamentary Papers" nicht immer zu vermeiden sein.
Anmerkung:
[1] Reichskolonialamt (Hg.): Die Behandlung der einheimischen Bevölkerung in den kolonialen Besitzungen Deutschlands und Englands. Eine Erwiderung auf das englische Blaubuch vom August 1918: Report on the natives of South-West Africa and their treatment by Germany, Berlin 1919.
Jeremy Silvester / Jan-Bart Gewald: Words cannot be found. German Colonial Rule in Namibia. An Annotated Reprint of the 1918 Blue Book (= Sources for African History; Vol. 1), Leiden / Boston: Brill 2003, XXXVII + 366 S., 15 Abb., ISBN 978-90-04-12981-8, EUR 41,00
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