Mit seinem Programm der "Kleinen Geschichten" der europäischen Nationen ist es dem Reclam-Verlag in den letzten Jahren gelungen, eine echte Lücke auf dem Büchermarkt zu schließen: Knappe, handbuchartige Überblicksdarstellungen, von ausgewiesenen Fachvertretern verfasst und auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand, ohne gelehrten Apparat, aber leserfreundlich mit knappen Epochenüberblicken, Chronologien in Tabellenform, Namensregister und weiterführenden Literaturhinweisen versehen. Zu Recht erfreuen sich die dabei entstandenen modernen Nationalgeschichten gerade in (akademischen oder nichtakademischen) Lehrveranstaltungen großer Beliebtheit. Dies mag den Verlag dazu bewogen haben, die 1994 erstmals erschienene "Kleine Geschichte Frankreichs" nun in einer gebundenen Ausgabe erneut auf den Markt zu bringen. Dieses neue (und jetzt nicht mehr "kleine") Modell ist dabei weitgehend mit seinem Vorgänger textidentisch; Stefan Martens hat seine Darstellung der Zeitgeschichte bis ins Jahr 2001 erweitert, die weiteren Änderungen am Text scheinen ausschließlich redaktioneller Art gewesen zu sein.
In acht etwa gleichlangen Abschnitten führen die sechs Autoren den Leser von der Teilung des karolingischen Großreiches im Vertrag von Verdun (843) bis in die Fünfte Republik. Die Beiträge sind durchweg sehr flüssig und anschaulich geschrieben und auch für ein Laienpublikum vermutlich ohne größere Schwierigkeiten verständlich. Das Epochenjahr 1789 teilt den Band in zwei etwa gleichgewichtige Teile; das nachrevolutionäre Frankreich wird relativ ausführlich behandelt, die Darstellung von Mittelalter und Früher Neuzeit ist zwangsläufig gedrängter. Bernd Schneidmüller und Heribert Müller zeichnen dabei mit knappen Strichen, aber niemals verkürzt den Übergang vom fränkischen Teilreich zur französischen Monarchie nach, der in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts so weit abgeschlossen ist, dass Schneidemüller nun nicht mehr von "Westfranken", sondern von "Frankreich" sprechen will (28). Der Herausbildung und Konsolidierung der französischen Monarchie, ihrer langsamen Durchsetzung gegen die internen Konkurrenten in den Grafschaften und die äußere Bedrohung durch die englische Krone sowie der Entwicklung vom "Königsstaat" zur "Königsnation" (leitende Begriffe, die leider nicht weiter definiert werden) gilt auch in den folgenden Abschnitten die Hauptaufmerksamkeit der Autoren.
Erfreulich ist, dass sie dabei niemals der Versuchung erliegen, das traditionelle deterministische Narrativ, das die Nationalgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts entwickelt hat und das bis weit ins 20. Jahrhundert wirksam blieb, zu reproduzieren und die Entwicklung hin zur starken, auf das Bündnis von Thron und Altar gestützten Monarchie als quasi zwangsläufig darzustellen. Etwas störend dagegen ist das strikte Festhalten beider Autoren an einer chronologischen Darstellung, die sich weitgehend an den aufeinander folgenden Herrschern entlang hangelt und sich strikt bemüht, keinen von ihnen auszulassen. Auch die folgenden Beiträge, in denen Herausgeber Ernst Hinrichs den Leser über Reformation, Religionskriege und Absolutismus bis zur Krise des Ancien Régime führt, Heinz-Gerhard Haupt die revolutionären Wirren und die vergebliche Suche nach einer stabilen neuen Ordnung schildert, Charlotte Tacke den Weg zum Herrschaftskompromiss der Dritten Republik analysiert und Stefan Martens die Epoche der Weltkriege und die Entwicklung Frankreichs zu einer modernen Industriegesellschaft behandelt, zeichnen sich durch eine mal mehr (Martens), mal weniger (Hinrichs, Tacke) starke Orientierung an der Chronologie aus. Ein starres Gliederungsschema oder eine gemeinsame, sich durch den ganzen Band ziehende Fragestellung wurde den Autoren nicht vorgegeben: Jeder Abschnitt ist somit durchaus eigenständig und kann auch für sich gelesen werden. Dennoch erscheint der Band als ein homogenes Ganzes: Staat und Politik, die Arrondierung und Verteidigung des nationalen Territoriums, der Kampf um oder das Aushandeln von Herrschaftsansprüchen stehen jeweils im Vordergrund der Darstellungen, denen es sichtlich um die Vermittlung von Überblickswissen und grober Orientierung, nicht um das Angebot neuer Gesamtdeutungen geht. Eine Einleitung, die den Band in der bisherigen Historiografie zur französischen Nationalgeschichte verorten würde, fehlt ebenso wie eine reflektierende Schlussbetrachtung. Der Versuch, neuere Tendenzen der Forschung aus dem Bereich der Mentalitätsgeschichte, der Gender-Forschung oder der Geschichte der Repräsentationen in die Darstellung zu integrieren, wird hier nicht unternommen - im Unterschied etwa zu der im Jahr 2000 erschienenen "Geschichte Frankreichs" von Wolfgang Schmale, die sich sehr viel stärker darum bemüht, die Konventionen zu sprengen und zu einer neuen Sicht auf die französische Nationalgeschichte zu kommen, was natürlich einem einzigen Autor auch leichter fällt als einer Gruppe von sechs Individualisten.
Die Stärken des Buches liegen somit eindeutig bei der schnellen und zuverlässigen Information - Detailfehler wie die Datierung der Einführung des Nationalfeiertages am 14. Juli auf 1881 (207) beziehungsweise 1879 (273) (richtig ist 1880) sind selten -; hier hat schon die Ausgabe von 1994 gute Dienste geleistet; die Neuauflage wird dies ebenso tun. Weshalb aber sollte der Leser zu der - gegenüber dem Taschenbuch - fast viermal so teuren gebundenen Ausgabe greifen? Neben der formatbedingten größeren Leserfreundlichkeit macht die "reiche Bebilderung" (so der Klappentext) des Bandes den Hauptunterschied gegenüber der Ausgabe von 1994 aus. 115 zum Teil mehrfarbige Abbildungen (in ausgesprochen guter Druckqualität), 11 Karten und 5 Stammtafeln ergänzen den Text, wobei sich neben offenbar unumgänglichen "Klassikern" wie Hyacinthe Rigauds Porträt Ludwigs XIV oder Delacroix' "Liberté guidant le peuple" auch zahlreiche weniger bekannte Gemälde, Grafiken, Karikaturen und (für das 20. Jahrhundert) Fotografien finden. Dass dabei zumindest eine Abbildung fehlerhaft beschriftet ist (Léon Gambetta, der auf Seite 255 laut Legende mit einer jubelnden Menge bei der Proklamation der Zweiten Republik vor dem Pariser Rathaus zu sehen sein soll, war zu diesem Zeitpunkt keine 10 Jahre alt; die Darstellung zeigt daher entweder den Sturz des Second Empire am 4. September 1870, oder aber der bärtige Herr im Vordergrund ist - trotz unverkennbarer Ähnlichkeit - eben nicht Gambetta), ist ein ärgerlicher, aber verzeihlicher Lapsus. Gravierender ist, dass Text und Illustrationen weitgehend unverbunden nebeneinander stehen. "Lektürehilfen" für die Abbildungen werden nicht angeboten, die Legende ist zumeist auf das Allernötigste, nämlich die Angabe von Künstler und Titel, beschränkt. Gerade die interessanteren, komplexen ikonografischen Strategien folgenden Bilder bleiben dadurch dem nicht mit der Materie vertrauten Leser / Betrachter verschlossen: Wer erkennt schon Gambetta, Thiers, Victor Hugo und Garibaldi neben den Allegorien der Republik, der Freiheit und des Handels auf der wunderbaren Lithografie zum 14. Juli 1880 (272)? Und wer versteht, was Napoleon I. in ihrer Mitte zu suchen hat? Die Autoren von Hachettes fünfbändiger "Histoire de France" (der zahlreiche, passagenweise sogar alle Abbildungen entnommen sind) haben vor einigen Jahren gezeigt, welchen Gewinn eine wirklich "reiche", nämlich kommentierte Bebilderung bringen kann. Hier dagegen lassen Verlag und Autoren die Möglichkeiten, die das zusätzliche Medium bietet, ungenutzt; die Abbildungen haben rein illustrativen Charakter, Erkenntnisgewinn bringen sie nicht.
Dennoch sollte auch die "große" Geschichte Frankreichs ihren Weg in die Bibliotheken und Historischen Seminare finden; Studenten allerdings kann man auch weiterhin mit gutem Gewissen empfehlen, das klassisch-gelbe Taschenbuch zu kaufen.
Ernst Hinrichs (Hg.): Geschichte Frankreichs, Stuttgart: Reclam 2002, 389 S., 115 ein- und mehrfarb. Abb., 11 Karten, 5 Stammtafeln, ISBN 978-3-15-010494-1, EUR 39,90
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