Der vorliegende Tagungsband versammelt Ergebnisse, die aus dem umfassenden Forschungsprojekt am Mainzer Institut für Europäische Geschichte zu den Eliten in verschiedenen europäischen Staaten in der "Sattelzeit" zwischen 1750 und 1850 hervorgegangen sind. Die einzelnen Beiträge fragen nach der Rolle und dem Verhalten der Eliten in dieser Umbruchszeit. Im Mittelpunkt steht die Gestaltungskraft der Eliten; aber auch Abgrenzungsmechanismen oder Zugangserleichterungen - etwa als Reaktion auf die Vorgänge der Französischen Revolution oder das Ende des Alten Reiches - werden thematisiert. Elite wird dabei als ein Analyseinstrument verstanden, das hilfreich ist, um - anders als die Begriffe Stand oder Klasse - in Zeiten gesellschaftlichen Wandels Strukturveränderungen besser erfassen zu können. Gefragt wird dabei nach Positions-, Wert-, Reputations-, Leistungs- oder Funktionseliten.
Die 21 Beiträge des vorliegenden Bandes nehmen dem entsprechend ländliche, städtische, adelige und bürgerliche Eliten im Alten Reich, aber auch in der Schweiz, Spanien und in den Niederlanden in den Blick. Der Band ist in vier Bereiche gegliedert: Als Erstes stehen Personen mit ihren Lebensentwürfen und Lebensläufen und im zweiten Teil Familien im Vordergrund. Drittens geht es um Integrations- und Abgrenzungsleistungen von Gruppen, bevor in einem vierten Bereich unter der zusammenfassenden Überschrift "Konzepte" übergreifende Fragen thematisiert werden.
Der vierte Bereich erweist sich dabei in seiner konzisen Bearbeitung als der überzeugendste: Zunächst argumentiert hier Siegfried Grillmeyer, wie der Begriff des Hauses im adeligen Selbstverständnis von entscheidender Bedeutung war: Bewies das Haus real-räumlich die noch vorhandene Macht und Exklusivität des Adels, symbolisierte es auch die durch Beziehungsnetze gefestigte Stellung als politische Elite. Andreas Schulz fragt hingegen nach Generationserfahrungen bürgerlicher Eliten im Vormärz. Er geht über bestehende Netzwerkanalysen hinaus, da neben den "sozialen harten Daten" (410) eben auch und gerade Aussagen zu kulturellen Praktiken und Identitäten zu treffen sind. Eliten bilden dabei keine Einheit, die innerhalb einer Generation deckungsgleiche Handlungsmuster hervorbrachte. Kollektiv sei hier allein die gemeinsame Selbstzuordnung zu einer politischen Umbruchsphase.
An die Frage nach Identitäten knüpft William D. Godsey an, der die Genese des Begriffs "Uradel" nachzeichnet. Geschaffen als Kunstbegriff in den 1780er-Jahren entwickelte er sich sukzessive zu einer Form von Selbstbeschreibung und Selbstlegitimierung des Adels. Der Begriff "Uradel" kompensierte damit die wachsende Bedeutungslosigkeit des reinen "Blutadels", die nach der Aufhebung zahlreicher Dom-, Ritter- und Damenstifte nach 1803 einsetzte. Ähnlich übergreifend argumentiert Wijnand W. Mijnhardt in seinem Beitrag zur niederländischen Bürgerlichkeit: Er nimmt als Einziger die Entwicklung bürgerlicher Konzepte durch Vertreter nicht-konfessioneller Gruppen (Mennoniten, Arminianer) in den Blick. Wissen und Tugend wurden hier zum verbindenden Aspekt einer neuen Gesellschaftsordnung, der konfessionelle Grenzen übersprang.
Überzeugt im Bereich "Konzepte" die Zuordnung der Beiträge, so ist dies bei den drei weiteren Abschnitten Person, Familie und Gruppe nicht ohne weiteres gegeben. Die Beiträge, die hier versammelt sind, könnten problemlos auch in die jeweils anderen beiden eingeordnet werden: So thematisieren Gabriela Schlick, Peter Voss und Małgorzata Morawiec zwar unter der Überschrift "Person" Wechselmakler, Kaufhändler und Breslauer Professoren, doch können sie hier nicht dezidiert individuelle Reaktionen auf die Umbrüche extrapolieren. Einzig Ann T. Gardiner gibt Einblicke in die individuellen Erfahrungen des Schweizer Staatsmannes Karl Viktor von Bonstetten. Hier ist das Potenzial der gegenwärtigen und umfangreichen Diskussionen zu Selbstzeugnissen und Ego-Dokumenten noch nicht ausgeschöpft, auch wenn sich im Beitrag von Gunter Mahlerwein entsprechende Ansätze finden, der die Selbststilisierung ländlicher Eliten in "erinnerten Lebensläufen" untersucht.
Monika Wienfort nimmt im folgenden Bereich zu Familien Männer und Frauen einer preußischen Richterfamilie in den Blick. Sie steht der Zuschreibung "Elite" kritisch gegenüber, beobachtet aber das Selbstbewusstsein preußischer Beamter, als staatstragende Schicht verstanden zu werden. Nicolas Rügge thematisiert die Verschränkungen von alter und neuer Elite am Beispiel der Landstadt Herford, in der er die Herausbildung einer Funktionselite erkennt. Vor einer Überbewertung sozialer Kontinuität warnt hingegen Frans Willem Lantink am Beispiel der Haarlemer Familie Enschede. Dabei rückt er auch das eigentliche "Wesen" der Elite (117) in den Blick. Dies wird auch von Karine Rance thematisiert, die nach der Sozialisierung junger französischer Adeliger fragt.
Am umfangreichsten ist die Kategorie "Gruppen": Ingrid Mittenzwei zeigt in ihrem Beitrag die Entwicklung der Wiener Großkaufleute zu kapitalistischen Unternehmern, deren wachsendes Selbstbewusstsein dazu führte, dass sie zunehmend den eigenen Nutzen mit dem "allgemeinen Besten" identifizierten. Dieses "allgemeine Beste" war auch Movens für die Hamburger Eliten, wie Frank Hatje in seinen Erwägungen zum Ehrenamt ausführt. Ehrenamtlichkeit wurde zu einem Element bürgerlicher Herrschaft. Hier verknüpfte sich kommunale Selbstverwaltung mit politischer Partizipation.
Mit regionalen politischen Eliten befassen sich die abschließenden vier Beiträge dieses Bereichs: Während Bettina Blessing nach einem spezifischen Karrieretypus der Regensburger Ratsherren fragt, verweist Thomas Maentel auf die städtischen Bürokraten Leipzigs, die einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur politischen Reform nach 1815 geleistet hätten. Für Trient erkennt Mariapia Bigaran, dass die alte Elite der Stadt sich einerseits etwa durch neue Wahlgesetze veränderte, andererseits aber auch eine "Gegenelite" (326) auftrat, die sich unter liberalen, konstitutionellen und patriotischen Werten sammelte. Um die Herausforderung der bestehenden Elite geht es auch Marició Janué, der für Barcelona betont, dass hier die Adeligen und Bürokraten insbesondere im Zuge militärischer Auseinandersetzungen oder liberaler Reformen (1820, 1833) ihre Macht an die wirtschaftliche Elite abtreten mussten. Nach den Zugangsbestimmungen zu politischen Ämtern in Genf fragt Anja Hartmann. Sie zeigt, dass der Zugang zur Macht weder im Ancien Régime noch nach 1814 zwingend von Besitz und wirtschaftlichem Erfolg abhing. Vielmehr war das Verhältnis zwischen Geld und Macht dauerhaft von Misstrauen, Entfremdung und Rivalität geprägt.
Auch wenn sich in dem Band kein durchgängiges Argumentationsmuster zu Eliten um 1800 offenbart und die Einteilung nach Person, Familie und Gruppe nicht unproblematisch ist, besticht er doch durch seine konzisen und detailreichen Einzelbeiträge, die neue Einsichten in die Binnenstrukturen elitärer Gruppen bieten. Darüber hinaus werden hier neuere methodische - wenn auch ausbaufähige - Zugänge (Selbstzeugnisse, Generationenerfahrungen) genutzt, die auch künftig neue Ergebnisse für die Elitenforschungen in der "Sattelzeit" hervorbringen werden.
Anja Victorine Hartmann / Małgorzata Morawiec / Peter Voss (Hgg.): Eliten um 1800. Erfahrungshorizonte, Verhaltensweisen, Handlungsmöglichkeiten (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Universalgeschichte; Bd. 183), Mainz: Philipp von Zabern 2000, IX + 442 S., 4 Abb., ISBN 978-3-8053-2669-8, EUR 45,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.