Sakralbauten im Zusammenhang einer Burg sind erst spät ins Blickfeld der Forschung geraten. Ulrich Stevens macht das im einleitenden, der Forschungsgeschichte gewidmeten Abschnitt seines Buches deutlich. Doch ist es immerhin schon Ferdinand von Quast gewesen, der sich der Doppelkapellen in Burgen als einer herausragenden Form kirchlicher Architektur des Mittelalters angenommen hat. Es kam dann bald zur Feststellung verschiedener Bautypen von Burgkapellen, wobei das Freistehen oder das Eingebundensein in ein anderes Burggebäude als ein wesentliches Unterscheidungskriterium galt. Differenziertere Typologien wurden erst später aufgestellt, und auch unser Autor macht sie zum Hauptinhalt seiner Arbeit. Den in frühen Schriftquellen zu beobachtenden Wechsel der Bezeichnungen von "ecclesia" zu "capella" (G. Streich: Burg und Kirche während des deutschen Mittelalters, 1984) möchte er dabei zu Gunsten der von ihm 1978 (U. Stevens, Burgkapellen im deutschen Sprachraum) gewählten Definition unberücksichtigt lassen (11 f.). Danach gliedert sich der Band ausschließlich nach den postulierten Typen Saalkirche (Raum für den Gottesdienst), mehrgeschossige Kapelle (Zeichen der Repräsentation), Tor- und Turmkapelle (Bildliche Wehrhaftigkeit) und Hauskapelle (Ort der Andacht). Burg- und Schlosskirchen (Weitere Formen) bilden den Abschluss der Betrachtungen.
In den einzelnen Kapiteln nimmt die Beschreibung der Bauten den meisten Raum ein. Sie werden nicht chronologisch abgehandelt, sondern nach ihrer Erscheinungsform. So wird der einfache Rechtecksaal, wie er in der Pfalz Tilleda aus dem 10. Jahrhundert ergraben wurde, neben der Burgkapelle in Wolmirstedt mit Hinweisen auf deren nächste Verwandte in Ziesar und in der Hallenser Moritzburg behandelt, wobei aber die architekturgeschichtliche Rolle der beiden letzteren als Vorläufer protestantischer Schlosskirchen des 16. Jahrhunderts nicht erwähnt ist. Detaillierter folgen nun Apsidensäle, Apsidensäle mit Chorjoch und Dreiapsidensäle (als Beispiele Hocheppan und Lobdeburg?). Zu den Saalkirchen mit polygonalem Schluss zählt Stevens überraschenderweise, bei Anerkennung seiner Betrachtungsprämissen aber wohl zutreffend, auch die spätgotische Schlosskapelle in Altenburg. Was er, diesen Abschnitt abschließend, über den Saal und seine Möglichkeiten aussagt, ist, wie Stevens selbst schreibt, in der Geschichtsschreibung zum mittelalterlichen Kirchenbau schon länger erkannt worden, so etwa, dass Rechteckchöre die jüngere Form gegenüber den Apsiden sind, oder dass Westemporen in der Regel als Herren-, hier eben als Burgherrensitze gedient haben. Als zum Zentralen tendierende Säle werden die Schlosskapelle in Marburg und, mit Querhaus und (achteckigem!) Vierungsturm, die freistehende Kirche im Burghof von Querfurt angeführt.
Das Kapitel über mehrgeschossige Kapellen beginnt mit Aachen und seinen Nachfahren bis ins 11. Jahrhundert, gefolgt von den klassischen Doppelkapellen, beginnend mit der Emmeramskapelle am Speyerer und der Gotthardkapelle am Mainzer Dom über Nürnberg und Eger bis Landsberg und Goslar, St. Ulrich, wobei auch die jeweiligen Besonderheiten herausgestellt werden. Allerdings fehlt ein Hinweis auf das Backsteinmaterial, aus dem die drei Apsiden an der Ostseite der Landsberger Kapelle bestehen, was unter dem Gesichtspunkt der Kapitelüberschrift als Zeichen der Repräsentation Beachtung verdient hätte. Kapellen ohne den verbindenden Raumschacht, aber mit einer anderen Öffnung zwischen den Geschossen, nennt Stevens Doppelkapellen mit Raumverbindung. Er zählt dazu die von Arnold von Wied erbaute und 1151 geweihte Kapelle in Schwarzrheindorf und fügt, was den tetrakonchalen Teil angeht, die erst 1983/84 ergrabene Burgkapelle von Sayn hinzu (100 ff.). Ganz anders, aber unter der Voraussetzung dieser Rubrik ebenfalls hier behandelt, stellt sich die Kapelle auf der Neuenburg bei Freyburg an der Unstrut dar, deren Baugeschichte, die über einen Zeitraum von circa 70 Jahren zur jetzigen Baugestalt geführt hat, von Reinhard Schmitt eingehend erforscht worden ist. Über Herkunft und Bedeutung mehrgeschossiger Kirchen und Kapellen lässt sich wahrscheinlich nur mithilfe bisheriger und teilweise zum Klischee gewordener Interpretationen handeln: als Zweck die getrennten Ebenen von Herrschaft und Volk; Aachen immer und überall (mit byzantinischem Einschlag) das Vorbild; der Vierstützentyp von den älteren Krypten (Limburg an der Hardt, Speyer) abgeleitet und so fort. Interessant ist der Hinweis auf mögliche Bestattungsfunktionen, die ja bei Beispielen mit Unter- und Oberkirche, auf ostkirchliche und vorderorientalische Muster zurückgehend, unbestritten ist. Doch reichen die Nachweise bei Burgkapellen für solche Funktionsbestimmung nicht aus (123).
Erst durch die beiden folgenden Kapitel zu Tor-, Turm- und Hauskapellen wird deutlich, dass es sich bei den bisher besprochenen Gebäuden überwiegend um freistehende, selbständige Kapellen oder Kirchen handelt, die allenfalls an ein anderes Burggebäude wie den Palas angeschlossen sind. Jetzt geht es um besonders ausgestaltete Räume zur sakralen Nutzung innerhalb der Baulichkeiten einer Burg. Torkapellen können dabei über (Donaustauf, Gelnhausen) oder neben dem Tor angelegt worden sein. Hier erscheint die Kapelle der Bischofsburg in Ziesar, die man als selbständigen Bau wie auch als Bestandteil des nördlichen Gebäudetrakts mit dem Wohnbau (Palas) und dem zwischen beiden liegendem Torhaus auffassen kann. Tatsächlich ist sie weder Torkapelle noch selbständiger Saalbau; vielmehr bildet sie einen Gebäudeflügel, den sie im Inneren mit drei gewölbten Jochen und Emporen vollkommen ausfüllt, wie die späteren Schlosskirchen in Torgau oder Schmalkalden. Was ihre Bedeutung und auch was ihre baukünstlerische Qualität angeht, ist die bekannte Kapelle in Rheda - sie nimmt in einem donjonartigen Turmhaus dessen zwei mittleren Geschosse zwischen Tordurchfahrt unten und Wohnraum oben ein - mit Torkapelle nicht ausreichend gekennzeichnet.
Ähnliche Definitionsschwierigkeiten ergeben sich bei Turm- und Hauskapellen. Der Autor sieht das selbst (161) und versucht zu differenzieren. Turmkapellen gelten (unter Bezug auf H. Otte) als solche, wenn sie der Bauform Turm untergeordnet sind, in Bergfrieden (Abbildung 90, Trikonchos in Rieneck) und in Wohntürmen. Herausgehoben wird von ihm die Burg Karlstein mit ihrer Häufung von Kapellen, die er im Hinblick auf ihre künstlerische Ausstattung (175 ff.: Die Gestalt) und ihre Ikonologie (179: Der Gehalt) ausführlich würdigt. Der Zusammenhang zwischen Wehrhaftigkeit und sakralem Ort, die Symbolbedeutung von Tor, Turm und Kapelle, kommt verallgemeinernd am Ende des Kapitels zur Sprache.
War bei den bisher betrachteten Formen von Burgkapellen immer eine Repräsentationsabsicht nach außen mit im Spiel, so dürfte das bei den in erster Linie privater Andacht dienenden Hauskapellen weniger der Fall sein. Stevens unterscheidet eigens gestaltete Räume (Säle, Einstützenräume, darunter die Kapelle im Palas der Wartburg) und bloße Altarnischen, die dann meist nach außen als Erker in Erscheinung treten und den Ort des Heiligen doch wieder in mehr oder weniger repräsentativer Gestalt markieren.
Die Bedenken gegenüber der im Buch vorherrschenden typologischen Betrachtungsmethode, die bei der Lektüre aufkommen, teilt der Autor selbst. In seiner Zusammenfassung am Schluss nennt er sie ein Hilfsmittel, um die Vielfalt der Erscheinungen zu ordnen, wobei er zugibt, dass dennoch eindeutige Zuordnungen nicht immer möglich sind. Die architekturgeschichtliche Entwicklung, die bei typologischer Betrachtung meist zu kurz kommt, fügt er am Ende im Überblick hinzu.
Die Kapelle und der Palas sind in der Regel die Gebäude einer Burg, die reicheren Bauschmuck aufweisen, während die reinen Zweckbauten, auch die zur Verteidigung, weitgehend darauf verzichten. Darin mag eine Ursache dafür liegen, dass die Kunstgeschichte der Burg im Mittelalter zwar Aufmerksamkeit, aber in architekturgeschichtlichen Darstellungen doch recht wenig Raum zugestanden hat. Inzwischen hat die Burgenforschung einen erheblichen Aufschwung genommen, auch vonseiten der Kunstgeschichte, und das Buch von Ulrich Stevens ist ein wesentlicher Beitrag dazu. Das besondere Verdienst liegt in dem Versuch, den Überblick zu wagen, also nicht nur an einem Typ oder gar nur monografisch an einem Bauwerk die Aussage zu entwickeln, sondern die Gesamtheit im Blick zu haben. Die sich dabei ergebenden ungelösten Fragen werden die Forschung weiterbringen.
Ulrich Stevens: Burgkapellen. Andacht, Repräsentation und Wehrhaftigkeit im Mittelalter, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, 304 S., 128 Abb., ISBN 978-3-534-14284-2, EUR 49,90
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