Die Feinsystematik der ansonsten weitgehend bekannten deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts wendet sich zum einen verstärkt transnationalen Fragestellungen zu, zum anderen den verdrängten Möglichkeiten und Optionen, die den Geschichtsverlauf noch einmal in einem anderen Licht erscheinen lassen. Zum Ersten leistet die Bremer Dissertation von Karsten Linne einen indirekten, zum Zweiten einen direkten Beitrag. Sie zeichnet die zeitweise ausufernden Planungen deutscher Behörden und "Vordenker" nach, die sich Ende der 1930er- / Anfang der 1940er-Jahre auf Afrika als "kolonialen Ergänzungsraum" der Deutschen richteten. Damit wird der in ihren erschreckenden Weiterungen nachskizzierten "Ostforschung", der sich eine weniger intensive - und weniger gewaltsame - "Westforschung" an die Seite stellen lässt, eine Tradition der Forschung und Planung für den "Süden" zur Seite gestellt. In ihrem Vorlauf wie der Anzahl von Beteiligten stellen diese Afrikaplanungen die beiden anderen potenziellen Expansionsgebiete durchaus in den Schatten, auch wenn man die über zwei Millionen Mitglieder, die der Reichskolonialbund 1942 besaß, nicht alle zu diesen "Vordenkern" zählen darf. Trotzdem waren die Afrikaplanungen, was auch Linne herausarbeitet, zu keinem Zeitpunkt einer Verwirklichung nahe. Vielmehr operierten sie in einem merkwürdigen Zwiespalt aus echter Popularität und peripherer Bedeutung. Denn von Ausnahmen wie Hjalmar Schacht, Kurt Weigelt oder Philipp Bouhler abgesehen war das maßgebliche Führungspersonal des "Dritten Reiches" längst auf ein kontinentaleuropäisches deutsches Großreich geeicht.
Dass Afrika für viele Deutsche, und zumal die alten "Kolonialen", eine hohe mythische Qualität besaß, macht einen Großteil des Phänomens der geradezu fiebrigen kolonialen Naherwartung der Jahre 1937-1941 aus. Der Herausgeber eines auf 21 Bände projektierten "Handbuches der praktischen Afrika-Wissenschaften", Erich Obst, sprach in diesem Zusammenhang von einer den nordischen Völkern eigentümlichen "Tropensehnsucht". Der koloniale Vorlauf im Kaiserreich und der Kolonialrevisionismus bildeten das Reservoir, aus dem sich die Hoffnungen auf einen Wiedererwerb der ehemaligen deutschen Kolonien speiste. Den Mandatsmächten wollte man zugleich beweisen, dass man noch immer in der Lage war, Kolonialpolitik "organisierter" als diese zu betreiben. Zeitweise wurden sogar die Kriegsziele des Ersten Weltkriegs wieder aufgegriffen, nach denen sogar ein zusammenhängendes deutsches "Mittelafrika" in Aussicht stand. Für Hitler jedoch waren überseeische Kolonien bestenfalls zweitrangig. Er nutzte die Kolonialforderung allerdings strategisch, um die Franzosen und vor allem die Engländer zu Konzessionen zu bewegen. Vor allem in rassischer Hinsicht besaß er starke Bedenken, eine "klassische" Kolonialpolitik wieder aufleben zu lassen. Als die Briten im Sommer 1940 einer Eroberung widerstanden, war das weitere Schicksal der Kolonialplanungen im Grunde besiegelt, auch wenn viele noch bis 1943 weiter forschten und sich einsatzbereit hielten. An dieser Folgenlosigkeit änderte auch der Umstand nichts, dass gerade die sozial- und wirtschaftspolitischen Planungen, mit denen Linne sich vor allem befasst, sich in die rassistischen Koordinaten einzufügen versuchten, die auch die Ost- und Westplanungen bestimmten.
Linne meint, unter den zahllosen Instanzen und Personen, die in der charakteristischen, sich selbst radikalisierenden Chaotik des NS-Systems mit Afrika befasst waren, sei das Arbeitswissenschaftliche Institut (AwI) der Deutschen Arbeitsfront die einzige Institution gewesen, die ein konsistentes sozialpolitisches Programm vorgelegt habe. Es entsprach bekannten Vorstellungen: Verhinderung einer Proletarisierung der vermeintlich "entwurzelten" Afrikaner und Stärkung ihres Gemeinschaftsgefühls. Paradoxerweise mussten sie aber an geregelte Lohnarbeit erst herangeführt werden, um sie sogleich wieder an die "Scholle" rückzubinden. Die koloniale Sozialpolitik sah eine rassische Segregation als Vorform eines Apartheidsregimes vor, stand aber insgesamt in der Tradition der klassischen europäischen Kolonialpolitik, die längst zu "milderen" Dominanzformen tendierte, als sie zeitgleich für die Besiedelung des östlichen "Lebensraums" vorgesehen waren. Auch wirtschaftspolitisch hatte sich der Raubbau einer bloßen Extraktion von kolonialen Gütern überholt. Längst stand eine spätkoloniale "Entwicklungspolitik" im Vordergrund, die auf eine mittelfristige Selbstständigkeit der "Eingeborenen" abzielte. Während also im "Dritten Reich" die Kolonialen wie Franz Ritter von Epp, die zentrale Integrationsfigur der "alten Afrikaner", der jungen NS-Führungsriege als "überlebt" vorkamen, verfolgten sie im Grunde die modernere Politik, der gegenüber sich - von heute aus gesehen - die Politik der "völkischen Flurbereinigung" wie ein atavistischer Rückfall in die Frühzeit des europäischen Kolonialismus ausnimmt. Organisatorisch vermochten sich die Kolonialen jedoch mit ihrer wilhelminischen "Weltpolitik" gegenüber den Radikal-Völkischen "Lebensraum"-Eroberern nicht zu behaupten, Ritter von Epp wurde von ihnen als "Baron Depp" verhöhnt.
Linne rekonstruiert aus einer verstreuten Quellenüberlieferung ein bezeichnendes Kapitel deutscher und NS-Geschichte. Erneut wird die ungemeine Streubreite derer sichtbar, die sich an den optimistischen Planungen für eine neue, deutsch dominierte Ordnung beteiligten. Auch die Forschungen über den polykratischen, letztlich kampfbetonten Charakter dieser Initiativen können aus dem Buch reichhaltiges Material schöpfen. Die Bedeutung des AwI erscheint dabei etwas zu stark gewichtet zu sein, doch erhält man im Gegenzug eine minuziöse Aufschlüsselung der Arbeits- und Sozialpolitik, die auf den bisherigen Erfahrungen mit der kolonialen Arbeiterfrage, der Segregation, der "Mischlingsfrage" und der Gesundheitspflege aufbaute und die einmal mehr vorgab, es besser als die anderen Kolonialmächte machen zu können. Bei den wirtschaftspolitischen Planungen konnte ebenfalls auf Vorerfahrungen sowie auf ein Netz an informierten Organisationen aufgebaut werden, die Afrika als "Ergänzungsraum" vor allem in rohstoffpolitischer Hinsicht nach dem Ersten Weltkrieg weiter beobachtet hatten. Der rechtliche und infrastrukturelle Rahmen für die künftigen Kolonien war alsbald abgesteckt, schon 1940 waren mehrere "Sofortprogramme" abrufbar. Zahllose "Freiwillige" waren für den Fall registriert, dass Deutschland in Afrika wieder einmarschieren würde. Manche Krankenschwester, mancher Polizei- oder Verwaltungsbeamte fantasierte sich bereits in ein privilegiertes Leben unter südlicher Sonne hinein. Auch mancher Funktionär hoffte auf einen Gouverneursposten in Afrika. Kurz nach Stalingrad wurden diese Vorbereitungen im März 1943 kategorisch unterbunden - möglicherweise auch, um solche "Fluchträume" auszuschließen. Zeitlich am längsten hielten sich die "Kolonialwissenschaften", weil sie auch ohne die Perspektive einer praktischen Anwendung zu sinnvollen Ergebnissen kamen.
Linne ordnet die Planungen abschließend sozialimperialistischen Konzeptionen zu, die deutschen Arbeitern eine Aufstiegs-Perspektive als "Vorarbeiter der Welt" beziehungsweise ihren Wohlstandserwartungen eine materielle Grundlage verhießen. Auch wenn man solchen Schlussfolgerungen nicht unbedingt folgen mag: Dem "Book on Demand" wünscht man zahlreiche Druckaufträge.
Karsten Linne: "Weiße Arbeiterführer" im "Kolonialen Ergänzungsraum". Afrika als Ziel sozial- und wirtschftspolitischer Planungen in der NS-Zeit, Münster: Monsenstein & Vannerdat 2002, 490 S., ISBN 978-3-936600-13-1, EUR 22,80
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