Auf den ersten Blick betrachtet, sieht die Entwicklung des Rundfunks seit seiner Einführung 1923/24 in Deutschland wie eine unaufhaltsame Erfolgsgeschichte aus. Ende 1924 registrierte die Deutsche Reichspost bereits rund eine halbe Million Rundfunkteilnehmer, ein Jahr später mehr als eine Million. Ende 1928 war die zweite Million erreicht, die dritte Anfang Dezember 1929 und die vierte Million im Februar 1932. Damit hatte die technische Neuerung Radio das viel ältere Telefon in seinem Verbreitungsgrad überrundet: Je 1 000 Einwohner gab es 66 Rundfunkgenehmigungen, aber nur 52 Telefonanschlüsse. Die beeindruckenden Zahlen täuschen jedoch darüber hinweg, dass der Siegeszug des damals neuen Mediums auch von Rückschlägen und Fehleinschätzungen begleitet war. Wie die Industrie mit diesen umging und versuchte, dem potenziellen Publikum den Erwerb von Empfangsgeräten schmackhaft zu machen, ist Thema des vom Deutschen Rundfunkmuseum Berlin-Potsdam herausgegebenen Buches von Ralf Ketterer.
In sechs Kapiteln nähert sich der Autor seinem Untersuchungsgegenstand. Ausgangspunkt ist ein umfangreiches Kapitel über die deutsche Funkindustrie und deren neuen Geschäftszweig, den Bau von Radioempfängern, zunächst von Detektor betriebenen, noch vor Ende der 20er-Jahre aber vorwiegend von mit Röhren bestückten Geräten. Viele neue Hersteller drängten neben den alt etablierten wie AEG, Telefunken und Siemens auf den Markt und verschwanden wieder. Erst für den Jahreswechsel 1928/29 konstatiert der Autor eine Stabilisierung der Branche, der zu Beginn des 'Dritten Reiches' 28 Firmen zuzurechnen waren. Diese Firmen produzierten in einer Art "Zwangskartell" ab 1933 die "politischen" Radiogeräte "Volksempfänger" und "Deutscher Kleinempfänger"; für manches Kleinunternehmen war es die Chance zum Überleben, für die Großen der Zunft bedeuteten Produktion und Verkauf dieser Apparate ein Zusatzgeschäft.
Die technische Entwicklung der Geräte, die immer bedienungsfreundlicher wurden und ihre Tonqualität für den Empfang über Kopfhörer und Lautsprecher laufend verbesserten, interessiert den Verfasser ebenso wie das Design, wobei er die entsprechenden Entwicklungsschritte nachzeichnet: von der offenen Bauweise bis zur Integration des Lautsprechers in den Empfänger. Mehr Komfort allein aber hätte den Absatz nicht forcieren können, weswegen die Rundfunkindustrie auch auf Werbekampagnen zurückgriff, die insbesondere Bevölkerungsschichten anzusprechen versuchte, die technischen Neuerungen eher ablehnend gegenüberstanden.
Ralf Ketterers reich mit mehr als 100 Abbildungen - Fotos von Geräten und Faksimiles von Werbeplakaten und -prospekten - aus dem Fundus des Deutschen Rundfunkmuseums ausgestattetes Buch liefert nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Rundfunkgeschichte, sondern auch zur Alltags- und Konsumgeschichte. Es zeigt die Unwägbarkeiten bei der Einführung einer technischen Neuerung auf, insbesondere was die Akzeptanz beim Publikum angeht. Ein Wermutstropfen bleibt: Offenbar kennt der Autor wichtige Literatur zum Rundfunk der Weimarer Republik nicht, beispielsweise zur Wirtschaftsgeschichte oder zur Geschichte des Werbefunks. Etwas umständlich ist auch die Nutzung des Buches angelegt, weil die Fußnoten am Ende kumuliert abgedruckt sind und damit ein andauerndes Hin- und Her-Blättern unumgänglich ist.
Ralf Ketterer: Funken - Wellen - Radio. Zur Einführung eines technischen Konsumartikels durch die deutsche Rundfunkindustrie 1923-1939, Berlin: Vistas Verlag GmbH 2003, 266 S., ISBN 978-3-89158-375-3, EUR 25,00
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