Hinter dem Titel "Jan Brueghels Antwerpen" verbirgt sich nicht nur der Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, sondern auch ein umfassender Bestandskatalog zur flämischen Malerei im Staatlichen Museum Schwerin. Das Buch antwortet damit auf ein dringendes Desiderat, da der Schweriner Bestand flämischer Gemälde bisher nur unvollständig bearbeitet und mit Abbildungen veröffentlicht war. Das Verdienst des von Gero Seelig bearbeiteten Kataloges erscheint umso größer, wenn man die Bedeutung der flämischen Gemälde bemisst, die einen wichtigen Sammlungsschwerpunkt des Staatlichen Museums Schwerin bilden. So kann das Museum nicht nur fünf Landschaften Jan Brueghels d. Ä. sein Eigen nennen, sondern auch qualitätvolle Werke anderer namhafter Künstler wie etwa Adriaen Brouwer, David Teniers, David Rijckaert und Gillis van Coninxloo. Einen Großteil der Schweriner Sammlung machen dabei die kleinen Formate aus, die der Wiedergabe der Alltagswelt und der Landschaft gewidmet sind. Daneben finden sich auch Tier- und Architekturstücke, Porträts, Stillleben sowie Historienbilder.
Im einleitenden Aufsatz wird ein kurzer Überblick über die Geschichte der Sammlung flämischer Gemälde gegeben, die bis zu ihrem Begründer Herzog Christian Ludwig II. zurückverfolgt werden kann. Ein Großteil der Erwerbungen erfolgte zwischen 1725 und 1756 und wurde von Agenten in Hamburg, Amsterdam und Den Haag unterstützt. Es folgten weitere wichtige Ankäufe aus der Sammlung des Kurfürsten Maximilian von Köln 1817, aus der Sammlung des Schweriner Zementfabrikanten Albrecht 1862 und 1891 aus dem Besitz des David Thormann aus Wismar. Eine schmerzhafte Lücke riss der Zweite Weltkrieg, als 20 Gemälde der ausgelagerten Sammlung verloren gingen.
Der Aufsatz endet mit einer historischen Problematisierung des Begriffs "flämische Malerei", der sich bekanntermaßen nicht allein auf die Provinz Flandern bezieht, sondern als pars pro toto auf alle unter der spanischen Krone stehenden südlichen Provinzen der Niederlande angewendet wird. Darüber hinaus ist auch die Abgrenzung der Begriffe "flämisch" und "holländisch" problematisch, da sie dem zeitgenössischen Bewusstsein nicht entsprach. "Flämische Malerei" bildet dementsprechend keine abgeschlossene Einheit, sondern eine aus Zweckmäßigkeit eingeführte konstruierte Kategorie.
Der Katalog gliedert sich in zwei Teile, von denen der erste der Ausstellung gewidmet ist und eine Auswahl aus dem Gesamtbestand des Museums vorstellt. Die einzelnen Werke werden farbig abgebildet und ausführlich besprochen, wobei der Schwerpunkt auf Fragen der Zuschreibung, Datierung und Ikonographie sowie der Identifizierung von Varianten oder Kopien liegt. Der zweite Teil ist als Gesamtkatalog flämischer Gemälde des Staatlichen Museums Schwerin angelegt, in dem alle Werke mit Angaben zur Technik, Provenienz, Literatur und mit weiteren Bemerkungen aufgeführt und in schwarz-weiß abgebildet sind. Der Katalog schließt mit den ehemals vorhandenen, heute jedoch verschollenen Werken. Im Anhang werden die veränderten Zuschreibungen noch einmal gesondert verzeichnet, gefolgt von einer Konkordanz und einer Liste der abgekürzt zitierten Literatur.
Dass dieses zunächst so einleuchtende Konzept nicht vollständig aufgeht, hat wohl mehrere Ursachen. Die unglückliche Wahl des Titels kann als eine davon gelten. Zum einen lockt die Überschrift "Jan Brueghels Antwerpen" den Leser mit einem populären Namen, ohne die geweckten Erwartungen wirklich einlösen zu können, da Brueghel neben den anderen Künstlern keine herausragende Rolle zugewiesen wird. Zum anderen lässt der Titel eigentlich eine intensivere Auseinandersetzung mit der Rolle Antwerpens als Handels- und Kunstmetropole erwarten. In den Texten wird jedoch auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung der Stadt und ihres Kunstmarktes nicht eingegangen, und auch in den Literaturangaben sucht man Hinweise darauf vergeblich.
Als problematisch erweist sich außerdem, dass das Buch in seiner Doppelfunktion als Ausstellungs- und Bestandskatalog zwei ungleiche Ziele verfolgt, die nicht ganz leicht miteinander in Einklang zu bringen sind. So erwartet man mittlerweile von einem Ausstellungskatalog die breite inhaltliche Auseinandersetzung mit einem Thema, die über die bloße Auflistung und Besprechung der gezeigten Werke hinausgeht. Ein entsprechender Bedarf besteht umso mehr, wenn es sich um eine Epoche wie das flämische 17. Jahrhundert mit seinen bedeutenden Umwälzungen im sozialen, politischen, religiösen und kulturellen Bereich handelt. Die einzelnen Bildbesprechungen im Schweriner Katalog bleiben jedoch sehr dicht an ihrem Gegenstand, wobei viele Zuschreibungen und Datierungen wegen fehlender Vergleichsabbildungen nur für Experten nachvollziehbar sind.
Um die Werke in einen größeren Kontext einzubinden, hätten zusätzliche Aufsätze den Katalog sinnvoll ergänzen können. So vermisst man weiterführende Informationen über die Geschichte des Kunstsammelns, des Kunstmarktes und der Geschmacksentwicklung. Auch über die Entwicklung und Funktion der verschiedenen Gattungen, die die flämische Kunst so entscheidend prägen, wird der Leser nicht informiert. Längst hat man jedoch den großen kunst- wie kulturhistorischen Wert auch der "nae t'leven" (Van Mander = "nach dem Leben") gemalten Bilder flämischer Meister erkannt und ihnen eine Vielzahl von Publikationen und Ausstellungen gewidmet. Diese werden im Katalog aber nur dann aufgeführt, wenn sich dort ein Bild aus der Schweriner Sammlung direkt zitiert oder abgebildet findet.
Die angemessene Würdigung der flämischen Genre- und Landschaftsmaler, die häufig "neben dem Weltruhm ihrer drei großen Kollegen Rubens, Jordaens und van Dyck" (8) vergessen würden, wie im einleitenden Aufsatz beanstandet, lässt sich auf diese Weise nicht erreichen. Und so gilt hier nach wie vor, was Ekkehard Mai und Hans Vlieghe bereits 1992 als Manko bezeichneten, dass nämlich die Forschung zur flämischen Kunst "immer noch besonders stark auf Bestandsaufnahme ausgerichtet" sei. Weiter bedauern die Autoren, dass der "fruchtbare Austausch zwischen verschiedenen Forschungsmethoden, der für die heutige Beschäftigung mit der holländischen Kunst so charakteristisch" sei, "bei der Auseinandersetzung mit der flämischen Kunst eine viel geringere Rolle" spiele. [1]
Nun wird jedoch bereits im Vorwort auf die eigentliche Funktion des Schweriner Ausstellungskataloges als Sammlungskatalog hingewiesen. Die flämischen Gemälde sollen "der Öffentlichkeit und den Fachkollegen vollständig und in angemessener Weise zur Verfügung" gestellt werden. Dies setze eine "Hinwendung zum konkreten Kunstwerk" (7) voraus. Akzeptiert man also das Buch als traditionellen Bestandskatalog, der die Grundlagen für die weiterführende Forschung liefern soll, so erweist es sich als wertvolles Arbeitsmittel. Nicht nur die Höhepunkte der Sammlung, sondern der gesamte Bestand wird in gut lesbaren, informativen Texten in angemessener Länge und mit Abbildungen vorgestellt.
Dabei vermögen die Beiträge im Ausstellungsteil trotz ihrer Kürze, die Werke ihrer Bedeutung entsprechend zu würdigen: Nach einer kurzen Einführung in die Biografie des jeweiligen Künstlers wird ausführlich auf gestalterische und ikonographische Besonderheiten der Bilder eingegangen. Diese Informationen werden ergänzt durch eine Diskussion von Zuschreibungs- und Datierungsfragen sowie der Varianten oder Kopien, sodass eine Einordnung des Werks in das Gesamtœuvre eines Meisters vorgenommen werden kann. Durch Verweise zwischen den einzelnen Katalogeinträgen kommen die Gemälde unter verschiedenen Gesichtspunkten zur Sprache. Das Potenzial der Sammlung wird dadurch optimal ausgenutzt. Die sehr gute Qualität der Farbabbildungen ermöglicht zudem einen relativ authentischen Eindruck der Gemälde. In kritischer Auseinandersetzung mit bisherigen Meinungen konnten mehrere Neuzuschreibungen vorgenommen werden, deren Gültigkeit - wie im Fall von Jan Brueghels d. Ä. Fischmarkt vor einer Stadt am Wasser, das bisher als Werk eines Nachahmers galt - die zukünftige Forschung erproben muss. Als Neuentdeckung kann etwa das von Frans Francken II. signierte Gastmahl des Herodes gelten, das nicht im Werkkatalog von Ursula Härting von 1989 aufgeführt ist.
Die Beurteilung des Buches hängt letztlich stark von der jeweiligen Motivation und Erwartungshaltung des Lesers ab. Die flämische Malerei des 17. Jahrhunderts in ihrer kulturgeschichtlichen Komplexität zu ergründen, wird anderen Publikationen vorbehalten bleiben. Gleichwohl ist "Jan Brueghels Antwerpen" ein funktional sehr gelungenes und schönes Buch, das als Arbeitsmittel unerlässliche Dienste leisten wird.
Anmerkung:
[1] Ekkehard Mai / Hans Vlieghe in Von Bruegel bis Rubens. Das Goldene Jahrhundert der flämischen Malerei, hrsg. v. Ekkehard Mai u. Hans Vlieghe. Ausstellungskatalog Wallraf-Richartz-Museum Köln u.a. 1992/93, 14.
Gero Seelig (Bearb.): Jan Brueghels Antwerpen. Die flämischen Gemälde in Schwerin, hrsg. v. Kornelia von Berswordt-Wallrabe. Ausstellungskatalog Staatliches Museum Schwerin, Schwerin 2003, Schwerin: Staatliches Museum Schwerin 2003, 175 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-86106-083-3, EUR 19,45
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