Blickles zentrale These besagt, dass sich die Menschenrechte aus dem Institut der Leibeigenschaft entwickelt hätten. Diese auf den ersten Blick ungewohnte These ist besser verstehbar, wenn gleich zwei Prämissen des Autors mit angeführt werden: 1) Auch in Nordamerika und Frankreich, den klassischen Modellen eines auf die Menschenrechte gestützten Staates, habe es sich trotz des Wortes "Menschenrechte" nur um in den betreffenden Staaten geltende Rechte gehandelt, mithin staatsbürgerliche Grundrechte. 2) Das Institut der Leibeigenschaft habe man bis Ende des 18. Jahrhunderts unter verschiedenen Bezeichnungen nicht nur in Deutschland, sondern auch etwa in Frankreich und England (von anderen Ländern ganz zu schweigen) gefunden. Schon über diese zwei Aspekte könnte man lange diskutieren, etwa den Umstand, dass in Nordamerika im 18. Jahrhundert die 'rights of men' als nichts anderes denn 'rights of Englishmen' verstanden wurden [1] - was noch weniger ist als staatsbürgerliche Grundrechte im Vergleich mit Menschenrechten.
Blickle streift die allgemeine historische Diskussion um die Menschenrechte regelmäßig, doch geht es ihm um eine "Geschichte der Freiheit in Deutschland" (so der Untertitel), ganz im Sinne eines, an Frankreich und England gemessenen, so könnte man sagen, deutschen historischen Normalweges zu den Menschenrechten. Der Autor legt zunächst das hochmittelalterliche rechtliche und soziale Institut des "Eigen" dar, die städtische Freiheit und schließlich die Leibeigenschaft. Dies geschieht in Gestalt von zwei Durchläufen, wobei im zweiten Teil vor allem die Zentralthese ausgeführt wird. Anhand detaillierter Fallbeispiele wird der unterschiedlichen Ausbildung der Leibeigenschaft im Süden, Südwesten und mittleren Westen Deutschlands beziehungsweise im Dreieck Kiel-Berlin-Danzig Plastizität verliehen (302/304 kartografiert), aber auch die Makrohistorie im gewählten geografischen Rahmen (einschließlich Eidgenossenschaft) kommt nicht zu kurz.
Blickle bleibt seinen schon früher entwickelten Grunderkenntnissen treu: Das Menschenrecht der Freiheit ist nicht so sehr Ergebnis der Implementierung naturrechtlicher Diskurse, sondern zu allererst Ergebnis freiheitlichen Handelns der Menschen. Movens dieses Handelns ist immer wieder das Sich-dem-Zwang-Entziehen: einerseits die Flucht - in die Stadt, die frei macht; das Wegziehen oder Wegheiraten (Ehe macht frei) in eine andere Herrschaft und so weiter (Sonderfall des "Wildfangs") -, andererseits der Protest, der Widerstand, die Revolte, der Aufstand, der Bauernkrieg, der Gerichtsprozess et cetera. Juristische und philosophische (Natur-)Rechtsdiskurse bauen darauf auf und zielen zumindest im 18. Jahrhundert allmählich in dieselbe Richtung. Eigenschaft und Leibeigenschaft werden selbstredend in ihrem herrschaftlichen Zwangscharakter aufgezeigt, doch beide Rechtsinstitute wurden auf unterschiedliche Weise zu Vorstufen der späteren Bürgerrechte. Blickle betont die Beteiligung der Eigenleute an der Herstellung von Recht und am Gericht sowie die Rolle der Leibeigenschaft als Instrument der Territorialisierung von Herrschaft, die ihrerseits eine Vorbedingung der modernen Staatlichkeit ist. Mit der nach 1500 sich ausbreitenden Leibeigenschaft wurden die Menschen zu Untertanen, aber es wurde durch die Bindung an Haus und Hof auch die Voraussetzung dafür geschaffen, dass das Menschenrecht des Eigentums im Kern als verdiente Frucht der eigenen Arbeit verstanden wurde [2], dass aus dem Untertan der Bürger wurde.
Es bleiben einige Fragezeichen bestehen: Blickle betont, dass seine Freiheitsgeschichte beide Geschlechter umfasst, schon aus dem Grund, dass in den spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen, die er ausgiebig heranzieht, immer beide Geschlechter genannt werden, wenn beide gemeint sind. Vielfach entsprach dies auch einer sozialen Wirklichkeit, aber spätestens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hörte diese relative und nicht durchgängige Simultannennung der Geschlechter auf. Menschenrechte waren vielfach Männerrechte, gerade in Frankreich. Sollte es in Deutschland anders gewesen sein? Das wäre eine spannende Frage. Blickle schreibt, dass Freiheit "keine Erfindung der Moderne" sei, sondern "die von Menschen immer gewollte Grundform der Existenz" (299). So in etwa hat das auch Pierre Chaunu geschrieben [3], der das allerdings aus Judentum und Christentum ableitete, während Blickle, etwas enger argumentierend, der christlichen Theologie keine fundamentale Bedeutung für die Freiheitsidee beimisst, wohl aber jenen fundamentalreligiösen Ansichten, wie sie sich in den Zwölf Artikeln niederschlugen. Die Sache ist nicht ausdiskutiert!
Das Buch stellt einen wichtigen Diskussionsbeitrag zur Sozialgeschichte der Menschenrechte dar, die trotz mancher Forschungsmeilensteine viel zu wenig vorangetrieben wird. Blickles Buch wird dazu ermutigen, sei es, um ihm zu widersprechen, sei es, um bei ihm entwickelnd anzudocken.
Anmerkungen:
[1] Vergleiche Thomas Fröschl: Rights of Englishmen, Rights of Mankind, Human Rights. Die universale Geltung von (Menschen-)Rechten als Versprechen der Amerikanischen Revolution, in: Margarete Grandner / Wolfgang Schmale / Michael Weinzierl (Hg.): Grund- und Menschenrechte. Historische Perspektiven - Aktuelle Problematiken, Wien / München 2002, 119-135.
[2] Vergleiche ergänzend zu Blickles Literaturzitaten den breiten, zur Eigentumsthese ebenfalls einschlägigen Überblick von Margarete Grandner: Das Recht auf Arbeit, in: dies. / Wolfgang Schmale / Michael Weinzierl (Hg.): Grund- und Menschenrechte. Historische Perspektiven - Aktuelle Problematiken, Wien / München 2002, 257-291.
[3] Pierre Chaunu: La Liberté, Paris 1987.
Peter Blickle: Von der Leibeigenschaft zu den Menschenrechten. Eine Geschichte der Freiheit in Deutschland, München: C.H.Beck 2003, 426 S., 7 Abb., ISBN 978-3-406-50768-7, EUR 36,90
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