Nach Ablauf der zeithistorischen "Karenzzeit" von 30 Jahren öffnet sich gegenwärtig mit den 60er und frühen 70er-Jahren ein Zeitabschnitt für die Forschung, der durch das Jahr 1968 eine besondere symbolische Bedeutung erhalten hat. Selbst rechtshistorische Lehrbücher widmen dieser Epoche nunmehr einige Abschnitte. [1]
Die Historisierung dieses Zeitraums ist gerade wegen der ihm innewohnenden Widersprüchlichkeit besonders reizvoll. So stand den Wünschen nach Befreiung des Individuums ein aus heutiger Sicht naiver Glaube an die Gestaltbarkeit moderner Gesellschaften gegenüber, die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit korrespondierte mit der Suche nach neuen, unbelasteten Traditionen. Rechtsordnung und Justiz nahmen eine Schlüsselstellung in der zeitgenössischen Reformdiskussion ein, sowohl als Projektionsfläche für Veränderungswünsche, als auch als Kampfplatz, an dem das zu bewahrende Normengefüge verteidigt werden sollte.
Die Autoren des Sammelbands und sein Herausgeber, der Bielefelder Historiker Jörg Requate, ziehen eine erste Bilanz des Forschungsstandes und stellen sich dabei ganz bewusst solchen Ambivalenzen. Das Buch basiert auf einer von der VW-Stiftung geförderten interdisziplinären Tagung, die im Frühjahr 2000 unter Leitung von Heinz-Gerhard Haupt und Jörg Requate im "Zentrum für interdisziplinäre Forschung" der Universität Bielefeld stattfand. Geografisch konzentrieren sich die Beiträge auf die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland, Italien und Frankreich, wobei die drei Länder jeweils getrennt untersucht werden. Die Verklammerung der Länderberichte zu einem europäischen Gesamtbild wird durch eine sehr lesenswerte Einleitung des Herausgebers erleichtert.
Wie bereits im Titel angedeutet, werden die insgesamt 18 Aufsätze des Bandes durch die plausible, allerdings nicht mehr ganz taufrische These zusammengehalten, die Zeit zwischen etwa 1960 bis 1975 stelle für alle drei untersuchten Länder eine Phase des gesellschaftlichen "Aufbruchs" dar, der nicht ohne Rückwirkungen auf den Bereich Recht und Justiz bleiben konnte. Diese Wechselwirkungen im einzelnen zu beleuchten ist das Anliegen des Buches, dessen Erträge in insgesamt fünf Themenkomplexe gebündelt sind: Drei überblicksartigen Aufsätzen über die jeweiligen gesellschaftlichen Grundkonstanten schließen sich Beiträge an, die die Vergangenheitspolitik der einzelnen Länder in den Blick nehmen. Es folgen drei Aufsätze über die Rolle der Justiz im Prozess der Demokratisierung. Die beiden abschließenden Abschnitte beschäftigen sich dann mit der Entwicklung in zwei seinerzeit besonders umstrittenen Gebieten der Rechtsordnung, nämlich dem Arbeitsrecht und dem Strafrecht mit seinen kriminologischen Grundlagen.
Es gehört zu den Stärken des Bandes, dass er ganz unterschiedliche Ansätze und Perspektiven zur Lösung dieses Problems versammelt. So stehen individualbiografische und generationenbezogene Ansätze (Matthias Meusch über den Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, Klaus Weinhauer über "Eliten, Generationen, Jugenddelinquenz und innere Sicherheit") neben regionalgeschichtlich orientierten Beiträgen (Michelle Zancarini-Fournel über die Dynamik der französischen Gesellschaft am Beispiel der Stadt Grenoble). Im engeren Sinne soziologisch inspirierte Analysen (Gerd Bender zur Zeitgeschichte des Arbeitskampfrechts) finden sich neben wissenschaftshistorischen Einblicken (Hendrik Schneider zum Perspektivwechsel der Kriminologie) und klassisch dogmengeschichtlicher Analyse (Friedrich Dencker über die "NS-Justiz vor Gericht").
Auch wenn es nicht immer einfach ist, die These von der Umbruchzeit schlüssig zu belegen, meistern die Beiträge Schwierigkeiten bei der Orientierung in dem unübersichtlichen und oft widersprüchlichen Faktorengeflecht zumeist überzeugend.
Gerade in seinen strafrechtshistorischen Teilen ist das Buch eine echte Pionierleistung. Nicht nur der Aufsatz von Petra Gödecke über die Strafrechtsreform von 1969 hat lehrbuchersetzenden Charakter. Der Beitrag von Hendrik Schneider über den Perspektivwechsel der Kriminologie bietet zum ersten Mal einen Überblick über diesen kriminologiegeschichtlich besonders wichtigen Zeitabschnitt, der durch die teilweise verzerrte Rezeption amerikanischer kriminalsoziologischer Modelle (labeling approach) gekennzeichnet ist. Dieser Befund wäre allerdings zu kontrastieren mit einer Analyse der Beharrungskräfte des biologistisch-ätiologischen Modells. Die Traditionslinien des Lombrososchen Konzepts vom "geborenen Verbrecher", das derzeit in Gestalt der modernen Hirnforschung eine Renaissance erlebt [2], scheinen nämlich trotz aller Soziologisierung der Kriminologie ungebrochen.
In anderen Abschnitten wird teilweise erstmalig ein deutschsprachiger Zugang zu Problemen der französischen und italienischen juristischen Zeitgeschichte geboten. So bietet etwa der lesenswerte Beitrag von Michele Luminati eine wertvolle Übersicht über die spezifisch italienischen Aspekte bei der Vergangenheitsbewältigung in der Justiz.
Weniger überzeugend ist dagegen Friedrich Denckers Versuch, durch die Analyse der zeitgenössischen Rechtsprechung seine These zu belegen, die Verurteilung von Exponenten der nationalsozialistischen Justiz wegen Rechtsbeugung sei nicht zuletzt durch die über-positivistische Formel Gustav Radbruchs von der Bindung des Richters an "ungerechte Gesetze" verhindert worden. So unbestreitbar die misslungene strafrechtliche Bewältigung des NS-Justizunrechts auch ist, allein der - im Übrigen nicht neue - Rekurs auf Radbruchs Aufsatz "Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht" von 1946 [3] reicht für ein Verständnis dieses Phänomens nicht aus. Dies zeigt sich schon darin, dass die "Radbruchsche Formel" bis heute sowohl von positivistischer als auch von naturrechtlicher Seite zur Diskreditierung des jeweiligen Gegners immer wieder gerne zitiert wird. Die Forderung Radbruchs, dem positiven Recht die Rechtsnatur zu versagen, wenn die "Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde" [4], ist im Prinzip eine Leerformel, die durch ganz unterschiedliche Maßstäbe für die strafrechtliche Vergangenheitsbewältigung gefüllt werden kann. So wertvoll die Rechtssprechungsanalyse Denckers als Beleg für die anhaltende Radbruch-Konjunktur ist, für tiefere Einsichten in das Versagen der Nachkriegsjustiz greift sie zu kurz.
Redaktionelle Unsauberkeiten (Nummerierung der Fußnoten im Aufsatz von Michele Luminati, Seite 159 und folgende, "Satzung" statt "Setzung" beim Zitat der "Radbruchschen Formel" im Beitrag von Friedrich Dencker, Seite 95) sind die Ausnahme. Terminologisch zumindest verwunderlich ist allerdings die Formulierung im Beitrag von Zancarini-Fournel, die Jugend habe in den 60er und 70er-Jahren, "so die allgemeine Sicht, eine potenzielle Herausforderung für die gesamte Volksgemeinschaft (sic!)" dargestellt (65).
Solche Einwände schmälern den Ertrag des Sammelbandes jedoch kaum. Er erschließt erstmalig die bislang kaum bearbeitete Rechtsentwicklung der 60er und 70er-Jahre, weist aber auch auf weiterhin bestehende Forschungslücken hin. Nicht zuletzt die Erforschung der im vorliegenden Sammelband unterrepräsentierten zivilrechtlichen Entwicklung dieser Epoche stellt eine große Herausforderung für die (rechts)historische Forschung dar.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Hinrich Rüping / Günter Jerouschek: Grundriß der Strafrechtsgeschichte. 4. Auflage, München 2002, Rn. 319ff.; Karl Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 3, 3. Auflage 2001, 272ff.
[2] Vgl. hierzu: Franz Streng: Von der "Kriminalbiologie" zur "Biokriminologie"? - Eine Verlaufsanalyse bundesdeutscher Kriminologie-Entwicklung. In: Justizministerium des Landes NRW (Hg.): Kriminalbiologie. Düsseldorf (Juristische Zeitgeschichte Nordrhein-Westfalen, Bd.6) 1997, 213-244.
[3] Süddeutsche Juristenzeitung 1946, 105ff.
[4] Ebd., 107.
Jörg Requate (Hg.): Recht und Justiz im gesellschaftlichen Aufbruch (1960 - 1975). Bundesrepublik Deutschland, Italien und Frankreich im Vergleich (= Interdisziplinäre Studien zu Recht und Staat; Bd. 28), Baden-Baden: NOMOS 2003, 327 S., ISBN 978-3-8329-0326-8, EUR 74,00
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