sehepunkte 4 (2004), Nr. 11

Michael Kißener: Zwischen Diktatur und Demokratie

Die Frage nach der politischen Stellung von Justiz und Verwaltung in Deutschland vor und nach 1918, vor und nach 1933 und in besonderem Maße vor und nach 1945 hat in den vergangenen Jahrzehnten eine höchst unterschiedliche Beurteilung erfahren. Es handelt sich um ein politisch und moralisch aufgeladenes Thema, dessen ernste und unvoreingenommene Erforschung gerade erst begonnen hat. Insofern darf die aus einer Habilitationsschrift hervorgegangene Arbeit Michael Kißeners eine besondere - über die engere Fachöffentlichkeit hinausreichende - Aufmerksamkeit für sich beanspruchen. Originell erscheinen der wissenschaftliche Ansatz und der Zugriff des Autors gleich in dreifacher Hinsicht. Erstens handelt es sich um eine Regionalstudie, die sich bewusst auf ein damaliges Reichsland (beziehungsweise bis 1952 Bundesland) beschränkt, daher die Quellen intensiver und stärker in die Tiefe gehend auswerten kann; zweitens wird ein weit ausgreifender prosopographischer Ansatz verfolgt, der sich vor allem auf personengeschichtliches Aktenmaterial stützt; und drittens schließlich überschreitet der Autor bewusst die üblichen Epocheneinteilungen, indem er den Bogen seiner Untersuchungen mit der Weimarer Republik beginnen und erst in der noch jungen Bundesrepublik Deutschland des Jahres 1952 enden lässt.

Die quellendichte Darstellung ist ein besonderer Vorzug der - trotz ihres nach allgemeiner Auffassung etwas "trockenen" Gegenstandes - flüssig geschriebenen und gut lesbaren Untersuchung. Der Autor hat ungedruckte Quellenbestände aus insgesamt dreißig Archiven in Deutschland und Frankreich (Colmar) ausgewertet und dabei besonderen Wert auf die Gruppe der Personalakten gelegt - und zwar nicht nur auf die im eigentlichen Sinne regionalen Aktenbestände, sondern ebenfalls auf die seit 1935 im Berliner Reichsjustizministerium zentralisiert geführten Personalakten der deutschen Richter. Hinzu kamen die für die Analyse der NS-Zeit besonders wichtigen Berichte und Gutachten des Gauamts für Beamte, des Nationalsozialistischen Rechtwahrerbundes, der Kreisleitungen der NSDAP und der Gestapo und für die Jahre nach 1945 die Personalakten derjenigen, die nach dem politischen Umbruch und nach erfolgter Entnazifizierung wieder in den Justizdienst aufgenommen wurden. Den untersuchten Personenkreis hat der Autor aus nachvollziehbaren arbeitsökonomischen Gründen beschränkt "auf die zwischen 1933 und 1945, also dem Kernzeitraum der Studie, in richterlichen Funktionen amtierenden Juristen" (29). Damit ist also eine zeitlich eingegrenzte Berufsgruppe erfasst, die schon in der Weimarer Zeit entweder im Amt war oder damals seine Ausbildung erfahren hat, und die sich, in Teilen jedenfalls, schließlich auch nach 1945 am Aufbau einer neuen rechtsstaatlichen Justiz beteiligt hat.

Nachdem Kißener im ersten Kapitel die Grundlagen und die Traditionen der Justiz im liberalen Baden knapp skizziert hat, untersucht er im zweiten Kapitel die Ära der ersten deutschen Republik. Er kommt zu dem Resultat, dass es der Regierung des Landes - ungeachtet mancher Probleme mit der "älteren Generation" geistig noch strikt im Kaiserreich verwurzelter Richter - dennoch weitgehend gelang, die Justiz auf demokratische Grundlagen zu stellen. Indem man republikfreundliche Juristen bevorzugt in wichtige Stellungen berief und den Juristennachwuchs konsequent aus allen Schichten der Bevölkerung rekrutierte, gelang es tatsächlich, die Zahl politisch voreingenommener Gerichtsurteile (die gleichwohl auch im liberalen Baden vorkamen!) relativ gering zu halten. Der Anteil derjenigen badischen Richter, die auf dem Boden der Republik standen, konnte bis 1933 permanent vergrößert werden. Diese Entwicklung kennzeichnet Kißener zutreffend als "einen Wandlungsprozess [...], der notwendigerweise bei dem Wechsel der Staatsformen vollzogen werden muss und der ganz natürlicherweise Reibungsverluste, retardierende, aber auch progressive Momente einschließt" (131).

Ähnliches gilt erstaunlicherweise, nun natürlich mit umgekehrtem Vorzeichen, für die Zeit des Nationalsozialismus. Zwar wurden Juristen jüdischer Abstammung mit der üblichen Rücksichtslosigkeit sofort entlassen und zumeist durch politisch zuverlässige NS-Aktivisten ersetzt; doch zu einem vollständigen Revirement der Richterschaft kam es nicht, weil sonst ein Weiterfunktionieren des Justizapparates, auf den auch das neue Regime nun einmal angewiesen war, nicht möglich gewesen wäre. Das harte Vorgehen gegen Richter, die sich der Weimarer Republik und den sie tragenden Parteien in besonderer Weise verbunden gezeigt hatten, wirkte abschreckend und disziplinierend auf diejenigen, die weiterbeschäftigt wurden. Hinzu kam die Tatsache, dass der NS-Staat die nachwachsende Richterschaft durch Schulungslager und ähnliche gezielte Indoktrinationsmaßnahmen nachhaltig politisch zu imprägnieren verstand. Nach Kißeners Berechungen, die sich auf den gesamten Zeitraum zwischen 1933 und 1945 beziehen, konnte sich das Regime auf etwa 150 Richter verlassen, die sich als überzeugte Nationalsozialisten verstanden (etwa 35 % der Gesamtrichterschaft). Auf der anderen Seite mußte man 12 % der Richter "als dauerhaft nonkonform, wenn nicht sogar widerständig einstufen" (260); zumeist wurde die Tätigkeit dieses Personenkreises auf möglichst "politikferne" Arbeitsgebiete eingeschränkt. Freilich waren, und auch dies betont der Autor, richterliche Unangepasstheit und zumeist nur indirekt artikulierte Widerständigkeit "zu keinem Zeitpunkt [...] in der Lage, den NS-Staat und die Realisierung des NS-Unrechtssystems in Baden auch nur in Ansätzen in Frage zu stellen" (261). Besonders entlarvend und erschreckend sind nicht zuletzt die Passagen, in denen der Verfasser die Auflösung jeglicher, auch politisch begründeter Rechtsprechung in bloßer Polizeiwillkür schildert, die seit etwa 1942 einsetzte.

Wie sah es nach 1945 aus? Kann man davon sprechen, so jedenfalls ein gängiges Klischee unter manchen Zeithistorikern, dass es bei weitgehender Übernahme der alten Justizeliten zugleich eine extreme Verdrängung der eigenen Fehlleistungen, ja eine "Renazifizierung" innerhalb der deutschen - hier: der badischen - Richterschaft gegeben hat? Kißener kann auch hier eine wesentlich differenziertere Antwort geben: Trotz mancher Versäumnisse und Defizite ging man nach 1945 in Baden einen Weg, der zum Neuaufbau einer demokratischen, neuen rechtsstaatlichen Leitbildern folgenden Justiz führte. Denn in der politischen Verantwortung standen jetzt vielfach "Justizjuristen, die vor 1945 entweder aus rassischen oder politischen Gründen verfolgt worden waren oder aber zahlreiche andere Konflikte mit dem NS-Staat durchgestanden hatten" (323). Freilich konnte ein Personalaustausch in großem Stil ebenso wenig durchgeführt werden wie nach 1918 und nach 1933; man setzte insgesamt auf ähnliche Eingriffsarten, wie es sie bei den vorherigen Umbrüchen gegeben hatte: Stark Belastete wurden aussortiert, Minderbelastete hingegen weiterbeschäftigt, zuweilen auf untergeordneter oder politisch weniger ausschlaggebender Position. Große Anstrengungen wurden zudem unternommen, um mittels politischer "Umerziehung" und vor allem auf dem Wege der Heranbildung eines jungen, jetzt demokratisch geprägten Richternachwuchses die Justiz innerlich und äußerlich zu erneuern.

Kißeners prosopographische Analyse hat zwar kein völlig neues, aber doch ein wesentlich differenzierteres Bild des Problems von Kontinuität und Erneuerung der deutschen Justizeliten gezeichnet - freilich nur für einen regional begrenzten Bereich. Von einer "Renazifizierung" der badischen Justiz nach 1945 kann jedenfalls ebensowenig gesprochen werden wie von einem radikalen personellen Neuanfang, und dies gilt, wenngleich unter veränderter Perspektive, bereits für die vorherigen Umbrüche von 1918/19 und 1933. In seinen abschließenden Überlegungen plädiert Kißener dafür, das Konzept der "longue durée" auch für den Bereich der Zeitgeschichte gelten zu lassen und eben nicht nur die grundstürzenden Umbrüche, sondern auch den "langsamen" Wandel in den Blick zu nehmen. Juristen sind in ihren Überzeugungen und Werthaltungen ebenso zeitverhaftet wie Angehörige anderer Berufsgruppen, und jede Veränderung im Bewusstsein - selbst unter dem Eindruck gravierender zeitgeschichtlicher Erfahrungen - braucht ihre Zeit: "Einstellungen, Denkhaltungen und Gewohnheiten zu verändern, bedarf auch in diesem Bereich eines hinreichenden Zeitansatzes, will man nicht zu revolutionären Einschnitten greifen, die bekanntlich nicht weniger, sondern nur anderes Unrecht schaffen" (326). Diese zutreffende Feststellung hätte Kißener durchaus mit einem vergleichenden Blick auf die Entwicklung in der frühen SBZ/DDR untermauern können, wo viele der schlimmsten Unrechtsurteile von so genannten "Volksrichtern" zu verantworten waren, die man bald nach Kriegsende in Schnellkursen zu Richtern ausgebildet hatte und die deshalb um so leichter politisch zu manipulieren waren.

Die Darstellung Kißeners, so ist zu resümieren, sollte zu weiteren Regionalstudien anregen, um die bei ihm noch fehlende vergleichende Perspektive zu ermöglichen. Es ist zu hoffen, dass diese Arbeiten zu ähnlich differenzierenden und präzisierenden Erkenntnissen gelangen wie die in allen Teilaspekten ertragreiche und rundum gelungene Studie des Mainzer Historikers.

Rezension über:

Michael Kißener: Zwischen Diktatur und Demokratie. Badische Richter 1919-1952 (= Karlsruher Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus; 7), Konstanz: UVK 2003, 373 S., ISBN 978-3-89669-760-8, EUR 34,00

Rezension von:
Hans-Christof Kraus
Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Hans-Christof Kraus: Rezension von: Michael Kißener: Zwischen Diktatur und Demokratie. Badische Richter 1919-1952, Konstanz: UVK 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 11 [15.11.2004], URL: https://www.sehepunkte.de/2004/11/4995.html


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