sehepunkte 4 (2004), Nr. 11

Marcel van der Linden: Transnational Labour History

Hat Arbeitergeschichte eine Zukunft? Und wenn ja - welche? Die beziehungsweise der daran aus den verschiedensten Gründen Interessierte mag dies mit einem entschiedenen Ja beantworten und auf den zweiten Teil der Frage mit den vielfältigsten Antworten aufwarten. Aber doch stößt jeder neue Versuch einer Standortbestimmung in einem Feld, das seit langem schon kein geschlossenes Aussehen mehr kennt, auf eine äußerst willkommene Aufnahme. Denn nur zu gern suchen diejenigen, die zu Themen der Arbeitergeschichte forschen, nach Argumenten, um den wirklichen oder vermeintlichen Trend weg von der Sozialgeschichte aufzuhalten.

Marcel van der Linden hat in seinem schmalen Bändchen eine solche Standortbestimmung vorgelegt. In elf zwischen 1988 und 1999 veröffentlichten Aufsätzen und zwei Originalbeiträgen bilanziert van der Linden nicht nur seine eigene, ungemein breit angelegte empirische Arbeit. Er sucht darüber hinaus in jedem seiner thematischen Kapitel nach tragfähigen Aussagen zu übergreifenden kausalen Zusammenhängen und Erklärungen, die für eine theoretische Weiterentwicklung taugen. Er formuliert ferner, verbunden mit zahlreichen Hinweisen auf schmerzhafte Forschungslücken, ein implizites Programm für eine zukünftige Arbeitergeschichte, die auch nach dem ersten Ansturm der "neueren Kulturgeschichte" in ihren verschiedensten Schattierungen noch wettbewerbsfähig ist.

Die Zukunft der Arbeitergeschichte liegt in den Augen van der Lindens in ihrer konsequenten transnationalen Erweiterung. Dabei fasst er "Transnationalität" auf vier unterschiedliche und nicht unbedingt immer fugenlos anschlussfähige Weisen auf:

Der Begriff verweist erstens auf nationenübergreifende strukturelle Entwicklungen, auf die dann variierende Formen von Arbeiterbewegung, die sich (zunehmend und zumeist) in nationalen Bahnen bewegten, signifikant ähnliche oder unterschiedliche institutionelle Reaktionen herausbildeten. Diese untersucht er zum Beispiel in den Kapiteln zur "nationalen Integration europäischer Arbeiterklassen", zu den Entstehungsbedingungen kommunistischer Parteien zwischen 1918 und 1923 oder zu den "Metamorphosen der europäischen Sozialdemokratie" zwischen 1870 und 2000.

Zweitens lenkt der Fokus auf "Transnationalität" van der Lindens Blick auf Organisationen der Arbeiterbewegung, die sich selber als "international" verstanden und/oder grenzübergreifend wirkten und diesen Anspruch, wie bei der "Internationalen Arbeiter-Assoziation" oder den "International Workers of the World", auch in ihrem Namen vorweg trugen. Die Studien zum "revolutionären Syndikalismus" und zur internationalen Gewerkschaftsbewegung, die zum Teil von notwendig international ausgerichteten Beschäftigtengruppen (zum Beispiel den "Schauerleuten [longshoremen]" in den Seehäfen der Welt) getragen wurden, ordnen sich dieser Lesart des Begriffs zu.

Drittens erfordert "Transnationalität" für Marcel van der Linden den energischen Ausbruch aus den konzeptionellen und methodischen Fallen des Euro- beziehungsweise Anglozentrismus. Der Blick der zukünftigen Arbeitergeschichte soll systematisch weiter schweifen als nur zwischen Nordamerika und Europa oder Großbritannien und dem Kontinent hin und her. Asien, Afrika und die als Vergleichspartner vermutlich sofort instruktiven Australien und Neuseeland sollen eine solche Arbeitergeschichte nicht nur empirisch und thematisch bereichern; ganz abgesehen von der "historischen Gerechtigkeit", die jenen breiteren Blick für van der Linden auch politisch-moralisch nahe legt. Vielmehr kann eine verstärkte Beschäftigung mit außereuropäischen beziehungsweise außernordamerikanischen Gebieten auch eingefahrene begriffliche Gewohnheiten infrage stellen und damit die theoretische Diskussion weitertreiben. Das führt van der Linden in einem der beiden innovativsten Beiträge eindrucksvoll vor, der die inzwischen auch bei uns so empfindlich bedrohte "Normalität" des "Normalarbeitsverhältnisses" nahezu auf den Status eines historischen Randphänomens zurückstutzt (Kapitel 12).

Viertens folgt daraus das uneingeschränkte Bekenntnis zum internationalen Vergleich. Und Vergleich ist nicht Vergleich, wie er in einem stark formal argumentierenden Traktat über die methodischen, logischen und technischen Seiten komparativer Sozialwissenschaft in allem Detail ausführt (Kapitel 11). Vielmehr drängt die "transnationale" Ausrichtung die Arbeitergeschichte zum einen zumindest der Tendenz nach zum Vergleich zunehmend vieler (nationaler) Fälle, was zur Folge hat, dass die Bandbreite der anhand der nationalen Fälle untersuchten Erscheinungen notwendig auf eine Auswahl der für wichtig befundenen Variablen zusammenschnurrt. Zum anderen erlaubt auch das Spüren nach möglichst eindeutigen kausalen Verbindungen, die dann über eine möglichst große Anzahl von Fällen hinweg Erklärungskraft beanspruchen, nur eine asketische Modellbildung. Insgesamt führen diese Vorentscheidungen in der Sache Marcel van der Linden zu einem deutlich verstärkten, aber nicht mehr eigens zum Thema gemachten, Anschluss an die selbst in ihren qualitativen Forschungen noch stark formal und quantitativ ausgerichtete historische vergleichende Soziologie. Gegen einen solchen Schulterschluss mit sozialwissenschaftlichen Ansätzen wie etwa dem der "Contentious Politics" (Charles Tilly, Doug McAdam, Sidney Tarrow) lässt sich gar nicht viel einwenden, wenn Marcel van der Linden ihn nicht so unkommentiert vollzöge und sein Programm nicht so präsentierte, als sei dies der künftige Königsweg der Arbeitergeschichte schlechthin, ganz ungeachtet (und im Band unbemerkt) nicht nur dessen, was an Anregungen aus der "Kulturgeschichte" zumindest nicht zu ignorieren ist, sondern was an anderen Orten in der Arbeitergeschichte selber seit Jahren geschehen ist und floriert.

So zieht die Erweiterung zur "Transnationalität" in den Beiträgen des Bandes sichtbare Einschränkungen nach sich. Die Interpretation verbleibt auf einer atemberaubenden Flughöhe, aus der sich die in doch so vielen Dokumenten, die im Internationalen Institut für Sozialgeschichte gesammelt liegen, eindrucksvoll vertretenen Arbeitersubjekte, allemal Akteure im eigenen Recht, nur noch als Ameisen erkennen lassen. Die Betriebe und Unternehmen, Orte der Arbeit und des Konflikts, bleiben als Untersuchungsbereiche völlig ausgeklammert. Die "mikropolitische", unter anderem zur Unternehmens- und zur Geschlechtergeschichte so ungemein anschlussfähige Strömung der Arbeitergeschichte, die trotz ihrer Mikrobohrungen den Vergleich und die größere Theorie nicht aus den Augen verliert, findet man bei van der Linden weder in seinen Darstellungen noch im in anderer Hinsicht oft überbordenden Anmerkungsapparat präsent. Das Konzept des "Milieus" spielt selbst dort keine Rolle, wo es sich, unter Rückgriff auf Klaus-Michael Mallmanns Forschungen zur Kommunistischen Partei im Deutschland der 1920er-Jahre (anstatt auf die ältere Literatur), unbedingt aufgedrängt hätte.

Das alles mündet in einer mangelhaften Kontexteinbindung der Phänomene, denen Marcel van der Linden seine Beiträge widmet, aber auch in einer unbefriedigenden Beliebigkeit der Kausalmodelle, die er zu ihrer Erklärung anbietet. Die Erste Internationale sei an der zunehmenden nationalen Integration der europäischen Arbeiterbewegungen strukturell gescheitert und nicht am Hahnenkampf zwischen Marx und Bakunin - interessant, aber dann hätte man doch vielleicht ein wenig mehr über die Funktionsweise exklusiver Berufsgewerkschaften und andere soziale Kontextfaktoren erfahren wollen, die mit dem Bild der nationalen Integration zugleich überdeterminiert und untergebügelt erscheinen. In mehr als einigen Passagen vertrocknet die "transnationale" Arbeitergeschichte unter dem Anspruch der Blickerweiterung zu einer irritierend traditionellen, dürren Organisationsgeschichte - ohne Zugriff auf die Soziologie dieser Organisationen und nur mit zahlreicheren und anderen Beispielen (Australien, Afrika, Asien), als Arbeiterhistoriker dies bisher gewohnt waren.

Damit ist der letzte und - gemessen am eigenen Ausgangsziel wohl gravierendste - Einwand angesprochen: Anders als in Kapitel 11 völlig zurecht gefordert, verändert sich die theoretische Sicht auch auf ur-europäische und -amerikanische Konzepte zumindest in diesem Band keineswegs; die vielen Beispiele werden vielmehr frohgemut den altbekannten Bildern, Modellen und Zeitvorstellungen zugeordnet. Zu etwas anderem scheint auch umso weniger Raum zu bleiben, je mehr Fälle man in eine "transnationale" Arbeitergeschichte einbezieht, die auf die "globale" Ebene zielt, nicht indem sie sich auf die Regionen des Globus wirklich einlässt, sondern indem sie einem universalisierenden Anspruch der politisch korrekten Vollständigkeit nachhetzt.

Erst im letzten Kapitel spricht Marcel van der Linden die Rolle der Arbeitergeschichte in einer künftigen, aufgeklärten Kritik des modernen Kapitalismus an. Das würde nun wirklich ein Neu-Durchdenken zentraler theoretischer Altlasten und begrifflichen Ballasts aus ihrer eigenen Historie erfordern. Aber Marcel van der Linden scheint dabei zum Schluss doch die Angst vor der eigenen Courage zu überwältigen: Nicht nur in dieser Beziehung scheint ihm "die 'altmodische Arbeiterbewegung' - beraubt aller Illusionen - noch immer unverzichtbar" - und mit ihr wohl auch eine begleitende Arbeitergeschichte, die trotz aller Ambitionen noch immer deutlich dieser Historie verhaftet bleibt.

Rezension über:

Marcel van der Linden: Transnational Labour History. Explorations (= Studies in Labour History), Aldershot: Ashgate 2003, XIV + 226 S., 17 tables, 9 figures, ISBN 978-0-7546-3085-2, GBP 47,50

Rezension von:
Thomas Welskopp
Universität Bielefeld
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Welskopp: Rezension von: Marcel van der Linden: Transnational Labour History. Explorations, Aldershot: Ashgate 2003, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 11 [15.11.2004], URL: https://www.sehepunkte.de/2004/11/5804.html


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