Denkt man das Kunstwerk im Spannungsfeld zwischen Geist und Materie, so gehört es zu den ureigensten Aufgaben eines Museums, der Wissenschaft die Materialität eines Werkes in all ihren Aspekten zu erschließen, die anderen Forschern gemeinhin nicht oder kaum zugänglich ist. Diese Auseinandersetzung mit materiellen und technologischen Fragestellungen ist nicht zuletzt deshalb von besonderer Wichtigkeit, weil diese den Künstler selbst mehr oder minder intensiv beschäftigt haben und sich die Wissenschaft so ein Stück seiner künstlerischen Auffassung erschließen kann. Derartige Fragestellungen rücken außerdem das künstlerische Original in den Vordergrund, was in diesen reproduktionsfreudigen Zeiten sicher Not tut, am Ende aber selten genug eingelöst wird.
Um so erfreulicher ist die Initiative der Tate Gallery in London, die grafischen Techniken William Blakes (1757-1827) zu untersuchen. In diesem Projekt treffen zahlreiche glückliche Umstände zusammen: So nennt diese Sammlung umfangreiche Bestände aus dem Œuvre dieses seltenen Künstlers ihr Eigen, ferner verfügt das Haus über die Erfahrungen einer Turner-Studie der 1980er-Jahre und außerdem hatte man in der Person Blakes einen Künstler auserkoren, der sich sehr früh gegen künstlerische und technische Vorstellungen der Royal Academy wandte und vielfach unkonventionelle, eigenständige Wege ging. Im Zuge einer mehrjährigen Studie wurden die Blake-Bestände der Tate unter Leitung des eigenen Conservation Departments nach allen Regeln der Kunst untersucht, dokumentiert und beispielhaft publiziert. Für bestimmte Analysen wurden Kooperationen mit Forschungseinrichtungen etabliert, zum Beispiel mit der Northumbria University in Newcastle (Bindemittel) und mit der Fakultät für Chemie des University College London (Pigmente mithilfe der Raman-Spektroskopie). Methodisch steht das Buch in bester Tradition des angelsächsischen Empirismus. Das Ergebnis ist ein ungewöhnlich plastisches Bild vom Künstler, seiner Zeit, der Entstehungsgeschichte und des Erhaltungszustandes seiner Werke, das sich durch eine erfrischende Lebensnähe auszeichnet.
Der knapp zweihundert Seiten umfassende Sammelband gliedert sich in fünf Abschnitte, die ihrerseits aus zwei bis drei - meist von mehreren Autoren verfassten - Aufsätzen bestehen. In der Einleitung resümiert Robin Hamlyn zunächst den aktuellen Kenntnisstand im Hinblick auf Kunstauffassung, Lebensumstände und Arbeitsgewohnheiten Blakes, und untersucht dann die Frage, wo er in verschiedenen Lebensphasen gearbeitet hat und wie sich Raumgröße, verfügbare Arbeitsfläche, Fenstergröße sowie Lichteinfall von Süden oder Norden auf seine Arbeiten ausgewirkt haben. Studien zu Blakes Gesundheit belegen dessen - über eine erhaltene Brille nachzuweisende - "moderate Kurzsichtigkeit", die ein Arbeiten in kleinem Maßstab begünstigt hat (24). Ein Aufsatz von Bronwyn Ormsby und Joyce H. Townsend unter Mitarbeit von Brian Singer und John Dean referiert den bisherigen Wissensstand im Hinblick auf Blakes Pigmente und Bindemittel. Ein dritter Aufsatz desselben Abschnitts erläutert die eingesetzten Untersuchungsmethoden, darunter Mikroskopie, technische Fotografie, unter anderem in Streiflicht, unter ultraviolettem Licht, mithilfe der Infrarot-Reflektographie, ferner Röntgenaufnahmen, Falschfarben-Infrarot-Reflektographie und schließlich Raman-Spektroskopie zur zerstörungsfreien Pigmentbestimmung.
Die folgenden Abschnitte widmen sich technisch determinierten Werkgruppen, darunter Aquarell, großformatiger Farbendruck und Temperabilder. Ein Epilog untersucht die Präsentationsformen der Werke Blakes wie Rahmung und Ausstellungspraxis. Anmerkungen, Werklisten der im Text erwähnten Arbeiten, Übersichten der in der jeweiligen Gattung nachgewiesenen Pigmente sowie ein Index beschließen den Band. Der hier verfügbare Platz reicht bei weitem nicht aus, der Fülle der Erkenntnisse gerecht zu werden. Die empirische Analyse der Werke lässt kaum Wünsche offen. Peter Bower etwa untersucht Blakes Papiere und deren Oberflächenbeschaffenheit, die durch Streiflichtaufnahmen anschaulich gemacht wird. Offenbar griff Blake teilweise auf bis zu dreißig Jahre alte Papiere zurück. Im Hinblick auf Blakes Wasserfarbentechnik ist bemerkenswert, dass er die erste Umrisszeichnung zunächst mit Grauwerten modellierte, die er mit jeweils reinen Lokalfarben überging.
Kapitel 3 untersucht die Farbendrucke, die bislang manche Rätsel aufgaben. Bei ihrer Herstellung wurden die erwähnten "millboards" erst bezeichnet und dann von Hand mit Farben bemalt, wovon Blake zwei bis drei Abzüge anfertigte, die er von Hand nachbearbeitete. Das Bindemittel war meist wässrig, im wesentlichen Gummi Arabicum und Tragacanth mit Zusätzen von Zucker oder Honig (87). Nur bei den Visions of the Daughters of Albion wurde ein ölhaltiges Bindemittel nachgewiesen (86). Bei der Erzeugung der Mehrfarbigkeit ging Blake unterschiedlich vor: Während er bei God Judging Adam die Farben separat nacheinander druckte (84), legt ein schwächer gedruckter Abzug von The Night of Enitharmon's Joy nahe, dass Blake hier verschiedene Farben auf demselben "millboard" übereinander strich und so in einem einzigen Druckarbeitsgang eine erstaunliche Mehrfarbigkeit erzeugte (89).
Das vierte Kapitel, verfasst von Bronwyn Ormsby mit Brian Singer und John Dean, ist den Temperagemälden gewidmet, die Blake selbst - entgegen der historisch korrekten - Terminologie als "frescoes" bezeichnete. Dabei interessierte ihn Schärfe und Präzision der Linie sowie die extreme Transparenz der Farbe, die im Gegensatz zu der von der Royal Academy propagierten Ölmalerei standen. Zwischen 1799 und 1827 malte Blake circa hundert Bilder in dieser Technik, von denen etwa siebzig erhalten sind. Die allermeisten waren auf Leinwand gemalt, seltener verwendete er verzinktes Eisenblech oder Kupfer (112). Die Leinwand wurde mit tierischem Leim abgeleimt und mit einem weißen Kreidegrund grundiert. Auch nach einzelnen Arbeitsgängen, etwa nach Abschluss der Unterzeichnung oder dem Auftrag einzelner Farbschichten, versiegelte er die Malerei im Sinne eines "Zwischenfirnis" mit dünnen Leimschichten, wobei vielfach variierte Mischungen aus Gummi Arabicum, Tragacanth, tierischem Leim sowie Zusätzen zum Einsatz kamen. Auch hier trug Blake die Pigmente weitgehend unvermischt in Schichten auf. Originell ist auch seine Verwendung von Blattmetallen, die er in Art von Lüsterungen mit farbigen Lacken überzog (123-127). Der Schlussfirnis bestand ebenfalls aus einer Schicht Leim, auf die zu guter Letzt ein lösungsmittelhaltiger Schlussfirnis mit Harz oder Ölbestandteilen, ein so genannter "white spirit varnish" aufgetragen wurde (118). Trotz Blakes' nachweislichem Interesse an alt-italienischer Maltechnik, zum Beispiel dem Traktat Cennino Cenninis (37), und der wohl intendierten Annäherung an das Erscheinungsbild "gotischer Malerei", ist seine Temperatechnik eher kongenial zu den historischen Vorbildern als eine richtige Nachahmung. Eine Ausstellung dieser Temperabilder im Jahre 1809 sollte gleichwohl seine Reputation auch als Maler etablieren (123). Möglicherweise beinhaltete die besondere Ästhetik so genannter "experiment pictures" eine Polemik gegen Reynolds Nachahmung Alter Meister (126).
Der Epilog in Kapitel fünf untersucht Präsentationsfragen, vor allem der Rahmung, wobei aus heutiger Sicht insbesondere der Preis großformatigen Rahmenglases überrascht, der demjenigen des Druckes selbst sehr nahe kam. Der Goldrahmen für das Temperabild The Body of Christ Borne to the Tomb wurde möglicherweise von Blake selbst ausgesucht. Einige Bemerkungen zur Präsentation der Werke Blakes in der Tate in den vergangenen Jahrzehnten beschließen den Band.
Die eingangs geforderte Auseinandersetzung mit dem Original wird von dem vorliegenden Band in exemplarischer Weise eingelöst. Dies betrifft nicht nur die gut geschriebenen Texte, sondern umfasst auch die Vielzahl der Farbabbildungen, darunter Makro-, Mikroskop-, Röntgen- und Streiflichtaufnahmen sowie Mikroschnitte der Malschicht. Die Erforschung der künstlerischen Arbeitspraxis ist bei Blake deshalb besonders fruchtbar, weil sich diese seinem exzentrischen Charakter und seiner ungewöhnlich selbstständigen Existenz abseits der etablierten Pfade korrelieren lässt: Die selbstgewählte Isolation korrespondierte mit vollkommen neuartigen technischen Experimenten und optischen Effekten von äußerster Originalität, die erst auf der Basis der vorliegenden Studie überhaupt in vollem Umfang gewürdigt werden können. Dass Blakes maltechnische Neuerungen stark von seiner Polemik gegen die Ästhetik und künstlerische Praxis der Royal Academy inspiriert war, zeigt, wie eng technische und ästhetische Fragen im Bewusstsein eines Künstlers verknüpft sein können. Die Verdienste dieses Bandes beschränken sich demnach keineswegs auf die beträchtliche Fülle von Detailerkenntnissen, sondern umfassen auch weitreichende methodische Erkenntnisse im Hinblick darauf, wie stark sich die Entstehung des einzelnen Werkes der Auseinandersetzung des Künstlers mit der Materie verdankt.
Joyce H. Townsend (ed.): William Blake. The Painter at Work, London: Tate Publishing 2003, 192 S., 118 color plates, 28 halftones, ISBN 978-1-85437-468-4, GBP 19,99
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