Vor fast 40 Jahren, im Sommer 1966, versetzte Chinas Jugend die Welt in fasziniertes, bisweilen entsetztes Staunen: Einem ins Groteske übersteigerten Personenkult um Mao Zedong stand der anarchische Kampf der Jugend gegen jede Autorität und die so genannte "alte Welt" gegenüber. Es galt, den "Revisionismus" an der Wurzel auszureißen und die Fackel der Revolution weiter zutragen. Rote Garden zogen skandierend durch die Straßen, verwüsteten Geschäfte mit "dekadentem" Warenangebot, plünderten Wohnungen, misshandelten so genannte "schlechte Elemente". Öffentlich zelebrierte Demütigungen in Form von "Kritikversammlungen" sollten über Jahre hinaus auf der Tagesordnung stehen. Kaum eine Familie in China, die nicht unmittelbar von den traumatisierenden Ereignissen der Kulturrevolution betroffen war.
Li Zhensheng (Jahrgang 1940) hielt diese Ereignisse im Auftrag einer Tageszeitung in Chinas nördlichster Provinz, Heilongjiang, auf tausenden von Filmrollen fest. Ihm und seinen Kollegen war es jedoch ausdrücklich untersagt, die Nachtseiten der Kulturrevolution zu dokumentieren. Li Zhensheng tat es trotzdem. Seine Existenz riskierend, versteckte er das Filmmaterial und sandte es später an die Agentur Contact Press Images in New York. Er wolle der Welt zeigen, "was während der Kulturrevolution wirklich geschah - wie diese Bewegung die Menschen gegeneinander aufbrachte" (254). Robert Pledge, der Herausgeber des Bandes, weckt in seinem Vorwort gleichfalls hohe Erwartungen, wenn er verspricht, "die Geschichte einer größtenteils unbekannten Ära" zu rekonstruieren (7).
In der Einleitung erläutert der renommierte Sinologe Jonathan D. Spence die Hintergründe der verschiedenen Phasen der Kulturrevolution anhand ausgewählter Bildstrecken. Diese knappe Skizze erleichtert zusammen mit der Chronologie am Ende des Bandes die Einordnung der Texte und Fotografien in den historischen Kontext. Eine Karte des Einsatzgebietes von Li Zhensheng und ein Index tragen ebenfalls zur Benutzerfreundlichkeit bei.
Auf Vorwort und Einleitung folgen fünf chronologisch angeordnete Kapitel, in denen Li Zhensheng die "Zeit des Schreckens" (11), vom Vorabend bis zum offiziellen Ende der Kulturrevolution im Jahr 1976, in Wort und Bild dokumentiert. Durch die streng chronologische Abfolge der Bildstrecken, solle der "historische Prozess bestmöglich" nachgezeichnet werden (7). Jedes Kapitel beginnt mit einem autobiografischen Text. Hier beschreibt Li - illustriert mit privaten Aufnahmen - sein persönliches Schicksal, das in mancher Hinsicht charakteristisch für die zwiespältigen Erfahrungen seiner Altersgenossen ist: Als aktiver "Rebell" leitete Li jene berüchtigten Kritikversammlungen gegen Kollegen, um sich wenig später selbst in der Rolle des Angeklagten zu finden. Beide Erfahrungswelten, die des Teilnehmers und die des Beobachters, zeichnet Li in seinen Erinnerungen detailliert und lebendig nach.
Auf den autobiografischen Teil folgen die Bildstrecken. Die Begleittexte sind leider nicht belegt, Literaturhinweise fehlen ganz. Jedes Bild ist jedoch mit präzisen Orts- und Zeitangaben und einer kurzen Erläuterung versehen, die durch aufwändige Recherchen verifiziert worden sind.
Die Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeichnen sich durch feine Körnung, Kontrastreichtum und große Tiefenschärfe aus, was den Bildern eine auffallende Klarheit und Plastizität verleiht. Li Zhensheng dokumentiert auf diese Weise beides: die ikonoklastische Zerstörungswut, den fanatischen Eifer der Roten Garden, aber auch ausgelassene, fröhliche Gesichter bei den happening-artigen Massenaufmärschen im Sommer 1966. Er zeigt die bizarren Auswüchse des Mao-Kultes, die Fahnenmeere, die ubiquitären Mao-Portraits, die "Loyalitätstänze" verzückter Rotgardisten, die allgegenwärtigen "Worte des Vorsitzenden Mao".
Wie jenes handliche Vademecum, das in der westlichen Welt unter dem Namen "Mao-Bibel" bekannt wurde, ist der Bildband "Roter Nachrichtensoldat" in leuchtend rotes, glänzendes Plastik gebunden. Ein sensorisches Zitat, das in das Sujet dieses ungewöhnlichen Bandes einzustimmen vermag. An Stelle des kleinen goldenen Sterns, der die "Mao-Bibel" ziert, findet sich ein goldener Punkt, der auf die Kameralinse des Pressefotografen Li Zhensheng verweist.
In den Kapiteln über die Jahre 1965 bis 1968 überwiegen Aufnahmen der oft viele Stunden dauernden öffentlichen Kampfversammlungen: In filmartigen Bildsequenzen, die eine große Unmittelbarkeit erzeugen, hält Li Zhensheng die rituelle, sadistische Demütigung der Verurteilten fest. Dabei dokumentiert er die Qual der Gepeinigten auch in den Nahaufnahmen mit respektvoller Distanz. Schwer zu ertragen sind die ohne jedes Pathos festgehaltenen Stationen einer öffentlichen Hinrichtung, die umgestürzten Körper vor gekipptem Horizont. Mit einem Gespür für den richtigen Moment, die richtige Perspektive wird Li Zhensheng zuweilen zum subversiven Kommentator, zum Zweifler und Ankläger.
Andererseits finden sich eine Reihe "positiver" Bilder, wie sie damals massenweise in den Zeitungen verbreitet wurden: Eifrige Aktivisten bei politischen Schulungen, militärischer Drill, nach allen Regeln der Kunst heroisch ins Licht gesetzte Modellarbeiter - Li Zhensheng beherrschte sein Handwerk als Propagandist ebenso wie als gewissenhafter Chronist des Schreckens.
Das Kapitel über die Jahre 1969-1971 enthält die wenigsten Fotografien - Li Zhensheng war in dieser Zeit in ein Umerziehungslager verbannt. Im letzten Kapitel (1973-1976) kehrt Normalität ein: Statt anarchischer Tribunale unter freiem Himmel sehen wir die Mitglieder eines Revolutionskomitees artig in ordentlich nebeneinander aufgestellten Sesseln vor ebenso akkurat platzierten Teetischchen sitzen. Revolutionärer Eifer und grenzenlose Mao-Verehrung scheinen einer erschöpften Routine gewichen.
So eindrucksvoll das präsentierte Bildmaterial ist, wirklich neue Einsichten kann Li Zhenshengs Beitrag nicht vermitteln. Wichtige Aktenbestände sind zwar bis heute nicht zugänglich, ein großer Teil ist in den Jahren nach der Kulturrevolution vernichtet oder "bereinigt" worden. Dennoch kann die umfangreiche Forschung zur Kulturrevolution auf einen substanziellen Quellenfundus zurückgreifen. Von einer "größtenteils unbekannten Ära" (7) zu sprechen, ist deshalb irreführend. Zudem werden nicht alle Fotos - wie die etwas reißerische Reklame auf der Banderole des Bildbands suggeriert - hier erstmalig veröffentlicht. Eine der "brillantesten Sequenzen" (14) ist bereits 1988 in einem Bildband in der Volksrepublik China erschienen. Darüber hinaus sind viele Motive, etwa die zerstörten Tempel, die Mao-Bibel schwenkenden Rotgardisten, seit langem fest im kollektiven Bildergedächntis verankert. Das Gezeigte bleibt ausschnitthaft und thematisch begrenzt. Manche Facetten der Kulturrevolution, wie die neue Schaffenslust der Jugend oder die blutigen Kämpfe konkurrierender Rotgardisten, werden nur angedeutet oder bleiben im Dunkeln.
Die Stärken dieses außergewöhnlich ansprechend gestalteten Bandes liegen in anderen Bereichen: Durch die verschiedenen, sich gegenseitig kommentierenden Text- und Bildschichten entsteht eine plastische, vielschichtige Dokumentation, die der Komplexität des noch lange nicht enträtselten Phänomens "Kulturrevolution" Rechnung zu tragen bemüht ist. Dass das erste Kapitel bereits im Jahr 1964 einsetzt, unterstreicht etwa die wenig bekannte Tatsache, dass die Kulturrevolution in eine politische Kontinuität eingebettet und kein isoliertes Ereignis war. Tatsächlich gelingt es Li Zhensheng, "etwas von den quälenden Paradoxien" zu vermitteln, "die zentrale Momente dieser langwierigen menschlichen Katastrophe waren" (11). Die Nachtseiten der Kulturrevolution werden zwar nicht erschöpfend aber eindringlich dokumentiert. Wer sich mit der Kulturrevolution befasst, sollte das Vermächtnis des "Roten Nachrichtensoldaten" kennen.
Robert Pledge (Hg.): Li Zhensheng - Roter Nachrichtensoldat. Ein chinesischer Fotograf in den Wirren der Kulturrevolution. Einleitung v. Jonathan D. Spence. Aus dem Englischen v. Martina Bauer, Berlin: Phaidon Verlag 2003, 316 S., ISBN 978-0-7148-9381-5, EUR 39,95
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