Die aktuellen Diskussionen um "Begriff" und "Identität" Europas verweisen in mehrfacher Weise auf das für sie konstitutive Zeitalter der Aufklärung. Nicht nur basieren die Institutionen, Denk- und Legitimationsweisen der Gegenwart vielfach auf Entwicklungen, die sich in jener Epoche entfalteten und seitdem als "europäisches Zivilisationsmodell" gleichsam globalisiert wurden. Vor allem wurde erst im Übergang zum 18. Jahrhundert "Europa" zur dominierenden Kategorie der Selbstreflexion. Die christianitas als identitätsstiftender Bezugspunkt wird nun definitiv durch einen Europabegriff ersetzt, der auf neuartige Weise die Pluralität der Völker, Staaten und Konfessionen zugleich zu übergreifen und zusammenzufassen vermag.
Die Habilitationsschrift von Volker Steinkamp wendet sich diesem Prozess der (Neu-)Bestimmung Europas im Zeitalter der Aufklärung zu, wobei sie von zwei Hypothesen ausgeht. Zum einen sei der neue Europa-Begriff wesentlich von der Aufklärung geprägt, insofern sie als erste "die Vorstellung von Europa als einer historisch gewachsenen, auf bestimmten geistigen Idealen und gemeinsamen politischen sowie zivilisatorischen Lebensformen beruhenden Einheit verschiedener Völker und Nationen" entwickelte (9). Zum anderen betont er die besondere Bedeutung Frankreichs in diesem Prozess; hier habe sich die vorherrschende "Konzeption von Europa als einem aufgeklärten Kontinent [...] am weitaus stärksten" ausgebildet (11). Auf diese Weise könne eine Untersuchung des "Europa-Bild[es] der französischen Aufklärung" zugleich als eine des modernen Europaverständnisses selbst gelten. Diese Annahmen versucht Steinkamp zu plausibilisieren, indem er - im Anschluss an ein summarisches Referat der bekannten Etappen der Verwendungsweisen des Europa-Begriffs von der Antike bis an die Schwelle zum 18. Jahrhundert in Kapitel I (21-44) - "zentrale Motive und Kategorien des aufklärerischen Europa-Bildes in vier systematisch strukturierten Kapiteln" (16) herausarbeitet.
Zunächst handelt Steinkamp in Kap. II "Europas geschichtsphilosophischer Primat" (45-88) mit Fontenelle, Voltaire, Turgot und Condorcet Autoren ab, die das geschichtsphilosophische Denken der Aufklärung prägten. Sie hoben die Stellung Europas als jenes Kontinents hervor, auf dem in Philosophie, Wissenschaften und Technik, zunehmend aber auch in den Bereichen von Politik, Ökonomie und Kultur Fortschritte erzielt wurden, die "nicht nur die Physiognomie des europäischen Kontinents, sondern auch seine Stellung in der Welt und sein Verhältnis zu den anderen Erdteilen neu bestimmt" hätten (70). Sowohl im Hinblick auf die eigene Vergangenheit wie auf die außereuropäische Welt setze sich nun ein für das Jahrhundert typisches Bewusstsein der eigenen Überlegenheit durch (56, 74 und öfter), die bei Condorcet schließlich in "eine neue Form eurozentrischen Denkens" münde, insofern die "angestrebte Universalität der Aufklärung gleichbedeutend mit der Europäisierung der außereuropäischen Welt" sei (88). Leider bleibt Steinkamps Auseinandersetzung mit diesen Konzepten allzu oberflächlich. Oftmals bleibt ungeklärt, ob es sich bei referierten Positionen um normative, deskriptive oder analytische Aussagen handelt. So wird das Bemühen der Autoren, die Spezifik der Entwicklungen Europas durch Rückgang auf historische, kulturelle, ökonomische und andere Erklärungsfaktoren zu begreifen, immer wieder unversehens zur 'ideologischen' Position erklärt, ohne dass die Kriterien einer solchen Bewertung deutlich würden. Fontenelles explizite Relativierungen und Historisierungen eines naiven Fortschritts- und Superioritätsdenkens etwa werden zwar zitiert (48 f. mit Anm. 116, 54 f. u.ö.), dann jedoch ohne weitere Begründung ad acta gelegt (55); und Turgot wird zunächst ein "europäischer Primatanspruch" attestiert (74), bevor es kurz darauf heißt, es sei "nicht Turgots Intention, die Vorrangstellung Europas im Rahmen einer unumstößlichen Hierarchie der verschiedenen auf der Erde anzutreffenden Zivilisationen für alle Zeiten festzuschreiben" (75 f.). Eklatant ist die Diskrepanz von Darstellung und Dargestelltem im Falle Condorcets. Steinkamp stellt dessen Geschichtsverständnis erst als "eschatologische" oder "deterministische" Konzeption eines gesetzmäßigen Gangs der Menschheitsgeschichte vor (88 und 79), 'belegt' diese Aussagen dann aber mit Zitaten, denen zufolge es darum geht, durch historisch gewonnene Kenntnis von Gesetzen und Erfahrungen künftige Entwicklungen mit "une grande probabilité" und "avec quelque vraisamblance" vorauszusagen. In solchen und ähnlichen Fällen wird das dünne Eis sichtbar, auf dem der Verfasser trotz des seine Arbeit zuweilen allzu demonstrativ durchziehenden Gestus, Texte und Forschungslage in Darstellung und Wertung souverän zu beherrschen, tatsächlich wandelt.
Das folgende Kapitel (III) über "Das politische Europa" (89-131) geht der Frage nach, mit welchen Konzepten die französischen Aufklärer auf die Pluralität des neuzeitlichen europäischen Staatensystems nach dem Zerfall der respublica christiana reagierten. Zunächst wendet sich Steinkamp dem Europa-Bild Montesquieus zu, der von den "Lettres persanes" (1721) bis zum "Esprit des Lois" (1748) Reflexionsformen entwickelte, die für das Europa-Bild der französischen Aufklärung von kaum zu überschätzender Bedeutung gewesen sind. Auf methodisch vielfältige Weise reflektiert Montesquieu die Eigenart Europas im Vergleich mit und in der Entgegensetzung zu anderen historischen wie nicht-europäischen Kulturen (91 f.). Dabei durchziehen, wie Steinkamp zeigt, zwei Leitlinien Montesquieus Werk: Einerseits aktualisiert er den aus der Antike stammenden Topos vom Gegensatz von asiatischer Despotie und europäischer Freiheit, den er zugleich auch als zwei innerhalb Europas miteinander ringende Prinzipien ansieht (94 ff., 98 ff., 104 ff.). Andererseits kann Montesquieu in gewisser Weise als 'Erfinder' oder zumindest doch nachdrücklichster Verbreiter der Idee von der Vielfalt als Charakteristikum der europäischen Kultur gelten (92 ff.).
Während Montesquieu eine politische Einigung Europas kategorisch ausschließt, werden in der zweiten Hälfte dieses Kapitels mit dem Abbé de Saint-Pierre und Rousseau zwei Autoren behandelt, die deren Möglichkeit vermessen haben. Im Falle Saint-Pierres begnügt sich Steinkamp freilich damit, einige Allgemeinplätze zu wiederholen, und verzichtet fast vollständig auf die Kenntnisnahme von referiertem Autor und Forschungsliteratur. So belegt die Feststellung, "das Fehlen einer philosophischen oder historischen Grundlage" gehöre zu "den unübersehbaren Schwächen" von Saint-Pierres Projekt (118), denn auch nur den wenig überraschenden Umstand, dass sich ohne vertieften Blick in das Werk behandelter Theoretiker ihr Inhalt nur selten erschließt. Dadurch ist Steinkamp auch verborgen geblieben, dass die Ausdehnung des Fortschrittsdenkens auf die gesellschaftliche und politische Ebene nicht erst "einige Jahrzehnte" nach Fontenelle durch Voltaire geleistet (56) und die strukturelle Instabilität des europäischen Gleichgewichtssystems nicht erst von Montesquieu diagnostiziert wurde (110 f.), sondern beides schon bei Saint-Pierre (und anderen) nachzulesen ist. Auch die Ansicht, Rousseaus Begründung eines europäischen Staatenbundes gehe "über die des Abbé weit hinaus", insofern sie "in unverkennbarer Analogie zu seiner Argumentation im Contrat social" erfolge (123), bestätigt nur, dass Urteile ohne Sachkenntnis selten gut tun, denn Rousseau fand diese kontraktualistische Begründungsstruktur bei Saint-Pierre vor. Rousseau selbst übernahm jedoch, wie Steinkamp dann zutreffend referiert, nicht Saint-Pierres Perspektive einer vertraglichen Begründung einer Europäischen Union, sondern richtete sein Augenmerk auf die "Umgestaltung der Machtverhältnisse im Inneren der Staaten" (124). Vor allem mit seinem von tiefer Skepsis geprägten Bild des europäischen Zivilisationsprozesses aber lieferte er ein prägnantes Beispiel dafür, wie sich in der Aufklärung Selbstreflexion und Selbstkritik Europas miteinander verbanden.
Diese Verbindung bildet auch das Zentrum des Kapitels IV zur aufklärerischen Perspektive auf das Verhältnis Europas zur Neuen Welt (133-162), die an Autoren der "Histoire des deux Indes" - Raynal, Deleyre und Diderot - nachgezeichnet wird. Hier geht die mehr (Raynal, Diderot) oder weniger (Deleyre) scharfe Selbstkritik Europas in seinen von Kolonialismus und Gewalt geprägten Beziehungen zur nichteuropäischen Welt mit einer insgesamt mehr (Deleyre) oder weniger (Raynal) positiven Wertung der europäischen Zivilisation einher: Mit der Aufklärung entwickeln sich Maßstäbe und Mittel, um diese Zustände zu überwinden und die erreichten Fortschritte und Werte zu universalisieren. Es ist diese Position, die der Aufklärung bis heute den Vorwurf eingetragen hat, "das Modell einer alternativen Eroberungspolitik [...] zum Wohle der eroberten Menschen" zu verfolgen und der nicht-europäischen Welt kein "Recht auf eine eigenständige, nicht an europäischen Kriterien ausgerichtete Entwicklung" zuzugestehen (144 f.), ohne dass dies, wie Steinkamp hervorhebt, als Begründung oder gar "Rechtfertigung der kolonialistischen und imperialistischen Praxis der Europäer in späteren Zeiten" verstanden werden darf (202). Einen Schritt weiter als Raynal geht Diderot. Ähnlich wie Rousseau nimmt er eine fortschrittsskeptische Perspektive ein, die ihn nicht nur die europäische Kolonisations- und Gewaltpolitik verurteilen, sondern "die Überlegenheit des europäischen Zivilisationsmodells [...] und den daraus abgeleiteten Vorbildcharakter der Alten Welt grundsätzlich in Zweifel" ziehen lässt (159).
Das letzte Kapitel (V.) über das Verhältnis von "Frankreich und Europa" (163-195) liefert mit dem Nachweis, dass Frankreich trotz der Diversität Europas dessen unbestrittenes kulturelles Zentrum war, gleichsam die Rechtfertigung des Themas von Steinkamps Arbeit nach, mit der französischen Aufklärung das allgemein verbindliche Bild der "Europe éclairée" identifizieren zu können. Das Aufklärungsjahrhundert führte mit der Annahme einer Vorreiterrolle Frankreichs in Europa einen alten Anspruch fort, der spätestens seit der Epoche Ludwigs XIV. weithin anerkannt worden war, wie es vor allem Voltaires Identifikation von (klassischer) französischer Kultur und europäischer Zivilisation auf den Begriff brachte (163 ff.). Mit Caracciolis "L'Europe française" (1776) und Rivarols "Discours sur l'universalité de la langue française"(1782) referiert Steinkamp zwei Texte, die gleichsam den Gemeinplatz des weniger aufklärerisch als kulturell und sprachlich verstandenen Primats Frankreichs im 18. Jahrhundert vertreten (168-178), deshalb aber hinsichtlich des spezifisch aufklärerischen Blicks auf die Stellung Frankreichs in Europa nur bedingt aussagekräftig sind. Die in sich geschlossene, offenbar in anderem Zusammenhang entstandene Darstellung von Constants Europa-Bild im napoleonischen Zeitalter (179-195) ist nicht ohne Interesse, fällt aber aus der eigentlichen Thematik des Buches heraus.
Die Bilanz der Lektüre ist zwiespältig. Steinkamp hat eine Reihe grundlegender Materialien zusammengetragen, welche die bis heute wirksame Bedeutung der französischen Aufklärung für die Begründung des modernen Europa-Bildes erkennbar und plausibel machen. In Auswahl und Aufarbeitung des Materials und in der Gründlichkeit seiner Diskussion und Bewertung aber wirkt die Arbeit eigentümlich unausgegoren. Allzu oft bleibt es beim - nicht immer überzeugenden - Referat und beim Sammeln von Meinungen und Ansichten über die verschiedenen Beiträge zum französischen Europa-Bild, während ihre analytische, die unterschiedlichen Voraussetzungen, Dimensionen und Perspektiven (er-)klärende Untersuchung zu kurz kommt. So wird man das Buch als nützlichen ersten Überblick zur Thematik betrachten können. Die Geschichte des "Europe éclairée" und ihrer sachlichen und historischen Bedeutung aber bleibt noch zu schreiben.
Volker Steinkamp: L'Europe éclairée. Das Europa-Bild der französischen Aufklärung (= Analecta Romanica; Heft 67), Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2003, 235 S., ISBN 978-3-465-03250-2, EUR 48,00
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