sehepunkte 5 (2005), Nr. 3

Alan McDougall: Youth Politics in East Germany

Allen Krisenszenarien zum Trotz gewinnt die historische DDR-Forschung allmählich ein Stück Normalität und ist dabei, sich als eine Disziplin der Zeitgeschichte zu profilieren. Stand in den Neunzigerjahren die - oftmals aktengestützte - Rekonstruktion und Analyse von Strukturen und Prozessen im Zentrum, so gewinnt in letzter Zeit die Neuinterpretation bekannter Quellenbefunde und Forschungsstände breiteren Raum. Alan McDougall konzentriert sich auf die ostdeutsche Jugendpolitik der Jahre bis 1968 und damit auf einen Zeitabschnitt, zu dem im Unterschied zu den Siebziger- und Achtzigerjahren bereits ein beachtlicher Forschungsstand erarbeitet worden ist. Dementsprechend zielt er dezidiert darauf, historische, vor allem aber interpretative und methodische Lücken bisheriger Publikationen zu schließen und verspricht "new insights into state and society in East Germany" (12). Wie viel Neues also hat das im Klappentext als "bahnbrechend" annoncierte Buch zu bieten?

Die vom Untertitel geweckten Erwartungen kann die Studie insofern nicht ganz erfüllen, als sie erst mit dem Jahr 1952 einsetzt. McDougall hat auf eine genetische Darstellung verzichtet und den Blick konsequent auf SED-Jugendpolitik, FDJ und deren Zielgruppe in fünf krisenhaften Situationen in der DDR gerichtet. Er stellt den 17. Juni, bei dem Jugendliche ein ganz erheblicher Teil der aufständischen Masse waren, ebenso dar wie das kurze Tauwetter des Jahres 1956, in dem sich insbesondere die Jugendpolitik und ihre Strukturen in der schwersten Krise bis zum Ende der DDR befanden und in dem selbst das Organisationsmonopol der FDJ zur Disposition stand. Ein drittes Kapitel gruppiert sich um den Mauerbau: der Ultima Ratio, um die Republikflucht, an der Heranwachsende überproportional beteiligt waren, zu stoppen, folgten Mobilisierungskampagnen der FDJ, die ihrerseits zusätzlichen Unmut erzeugten. Den vor allem jugendkulturellen Entkrampfungsversuchen, die mit dem Jugendkommuniqué von 1963 einsetzten und mit Kahlschlagplenum und Unterdrückung der schnell erblühten Rockmusikszene 1965 endeten, sowie den Reaktionen auf den Prager Frühling 1968 sind weitere Abschnitte gewidmet. In unterschiedlicher Gewichtung bettet McDougall diese Kulminationsphasen in die jugendpolitische Vor- und Nachgeschichte ein. Herangehensweise, Schwerpunktsetzung der Studie und auch die Binnengliederung der meisten Kapitel orientieren sich stark am publizierten Forschungsstand. [1] Der länger zurückliegende Abschluss des Manuskripts hat möglicherweise die Einarbeitung wichtiger, in den letzten Jahren erschienener Arbeiten verhindert [2]; einzelne einschlägige Studien sucht man im Literaturverzeichnis allerdings vergebens. [3] Auf der Basis der archivalischen Überlieferung - insbesondere dem Berichtswesen von FDJ, aber auch des MfS - präsentiert er daneben umfangreiches Material, das das Verhalten Jugendlicher illustriert. In Interviews gewonnene Aussagen ehemaliger hochrangiger FDJ-Funktionäre verwendet McDougall meist mit der gebotenen kritischen Distanz. Insgesamt entsteht so eine facettenreiche Darstellung der genannten Phasen, die ihren Reiz nicht zuletzt daraus bezieht, dass hier Spannungen zwischen dem Regime und Bevölkerungsgruppen und ihre mehr oder weniger intensive Entladung sichtbar werden.

Allerdings wirklich eigene Akzente setzt die Darstellung kaum. McDougalls übergeordnetes Interesse gilt ohnehin einem anderen Aspekt, nämlich dem Verhältnis von Herrschaft und Gesellschaft in der DDR. In etwas bemühter Absetzung von den vermeintlichen Positionen bisheriger Forschungen betont er die Untauglichkeit des Totalitarismusansatzes für diese Frage und kritisiert ihn anhand des Strukturmodells von Friedrich - nun nicht gerade der letzte Schrei der Totalitarismustheorie. Auch die These, dass Herrschaft in der DDR nicht allein als Ausübung diktatorischen Drucks zu beschreiben ist, sondern ebenso Elemente sozialen Entgegenkommens enthielt, ist nicht neu. Hier werden offene Türen eingerannt. Denn, dass die Jugendpolitik der SED sich im Spannungsfeld zwischen Zwang und der zur Pazifizierung und Integration der Zielgruppe unverzichtbar erscheinenden paternalistischen Berücksichtigung jugendlicher Interessen bewegte, haben jüngere Studien ebenso deutlich herausgearbeitet wie die begrenzte Durchsetzung herrschaftlicher Ziele und die bis 1989 insgesamt erfolgreiche Unterdrückung kollektiver Interessenformierung und -artikulation. Den krisenhaften Phasen schließlich widmet sich McDougall vor allem, weil sie eine genaue Untersuchung der Haltung gewöhnlicher junger Ostdeutscher (14) zur kommunistischen Herrschaft erlauben würden. Sicher lassen Krisensituationen abweichendes Verhalten und Konflikte zwischen Herrschaft und Gesellschaft gerade in der schriftlichen Überlieferung deutlicher hervortreten als Phasen relativer Ruhe. Aber sie eignen sich nur begrenzt, um die Wirkung der Doppelstrategie von "the carrot and the stick" (14) zu testen. Eine konsequente Umsetzung dieses Ansatzes hätte beispielsweise geboten, der staatlichen Jugendförderung, gedacht als Gegenstück und eingeführt parallel zur Zunahme des Drucks auf die Jugendlichen ab 1950, gebührenden Platz einzuräumen.

Die gewählte Versuchsanordnung hat aber auch ihre Tücken, nicht zuletzt, weil die ins Visier genommenen Krisensituationen ganz erheblich in Sprengkraft, Ursachen und Auslöser, Reichweite, Trägerschichten, Verlauf und so weiter differierten. Ob die begrenzte Liberalisierung ab 1963 und ihr Abbruch oder die Auswirkungen des Prager Frühlings auf die DDR wirklich mit dem Begriff der Krise gefasst werden können, lässt sich mit guten Gründen bezweifeln. Zudem betrafen sie in sehr unterschiedlichem Grad die SED-Jugendpolitik, die FDJ und die Heranwachsenden. Diese Heterogenität hätte ein präzises analytisches Konzept erfordert, um etwa verhaltensbestimmende Motivlagen Jugendlicher, den Anteil jugendpolitischer Maßnahmen an der Krise oder die unterschiedlichen Handlungschancen und -blockaden der FDJ herauszupräparieren. Hier macht es sich McDougall dann etwas zu leicht, folgt die Darstellung und Analyse der einzelnen Prozesse doch weniger einer stringenten Fragestellung als über weite Strecken den Schwerpunkten älterer Arbeiten. War etwa die von der SED-Führung befohlene und von der FDJ wesentlich getragene Kampagne zur Ausschaltung der kirchlichen Jugendarbeit, der ein eigener, dem Forschungsstand allerdings nachhinkender Abschnitt gewidmet ist, wirklich wichtiger für das Auftreten Jugendlicher am 17. Juni als der nicht thematisierte, vorangegangene brachiale Versuch, die FDJ-Mitglieder ideologisch zu indoktrinieren? Spielte der Einsatz der FDJ für die "Vollkollektivierung" eine große Rolle für das Geschehen des Jahres 1961? Zudem verschiebt sich zwischen den einzelnen Kapiteln die Perspektive auf den Gegenstand. So werden mitunter die Politikformulierung und -implementation in SED und FDJ einerseits und die Reaktionen der Heranwachsenden andererseits sehr unterschiedlich gewichtet.

Eine Kategorisierung der verschiedenen Formen abweichenden Verhalten Jugendlicher, die so unterschiedliche Phänomene wie die Teilnahme an Protestzügen am 17. Juni, die Formulierung politisch hochbrisanter Manifeste, die Republikflucht, die Verweigerung von Unterschriften unter offizielle Resolutionen, aber möglicherweise auch die stille Umgehung von verlangter und gelenkter Partizipation einschließt, ist ausgesprochen schwierig. Allerdings hätte eine Arbeit, die dezidiert auf Phasen fokussiert, in denen solche Verhaltensweisen besonders verbreitet waren, doch überzeugendere Angebote dafür machen müssen - nicht zuletzt um den in den Akten zu findenden zeitabhängigen Bewertungen aus Regimeperspektive eigene Maßstäbe entgegenzusetzen und die Definitionshoheit zu behalten. Was verstand etwa das MfS nach dem 13. August 1961 unter "negative or enemy acts" (143)? Ähnliches gilt für die Quantifizierung und Qualifizierung des Dissenses. Die Bewertung, nach dem Mauerbau habe sich die seit dem 17. Juni bedeutendste Welle jugendlicher Unruhe gezeigt, ist auf Grund der präsentierten Quellenbefunde hinsichtlich des Umfangs im Vergleich mit dem Jahr 1956 zumindest fragwürdig; unter dem Gesichtspunkt, welche Bedrohung für das politische System jeweils davon ausging, ist sie nicht haltbar.

Bleibt als Fazit: Dass die Jugend ein latenter Unruheherd und zumindest potenziell ein "innerer Feind" (Dorothee Wierling) des SED-Regimes war, ist hinlänglich bekannt. Dass die FDJ daran scheiterte, die Masse ihrer Zielgruppe positiv in die Organisation und den Staat zu integrieren, auch. Die Studie illustriert die Schwierigkeiten der DDR mit ihrem Nachwuchs und dessen Probleme mit dem Regime. Einsichten über das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, die über den bisherigen Forschungsstand hinausreichen, liefert sie aber kaum.


Anmerkungen:

[1] zum Beispiel Monika Kaiser: Machtwechsel von Ulbricht zu Honecker. Funktionsmechanismen der SED-Diktatur in Konfliktsituationen 1962 bis 1972, Berlin 1997. Ulrich Mählert: Die Freie Deutsche Jugend 1945 - 1949. Von den "Antifaschistischen Jugendausschüssen" zur SED-Massenorganisation: Die Erfassung der Jugend in der Sowjetischen Besatzungszone, Paderborn u.a. 1995. Ulrike Schuster: Wissen ist Macht. FDJ, Studenten und die Zeitung Forum in der SBZ/DDR. Eine Dokumentation, Berlin 1997. Ulrike Schuster: Mut zum eigenen Denken? DDR-Studenten und Freie Deutsche Jugend 1961 - 1965, Berlin 1999. Peter Skyba: Vom Hoffnungsträger zum Sicherheitsrisiko. Jugend in der DDR und Jugendpolitik der SED 1949 - 1961, Köln, Weimar, Wien 2000.

[2] zum Beispiel Marc-Dietrich Ohse: Jugend nach dem Mauerbau. Anpassung, Protest und Eigensinn (DDR 1961 - 1974), Berlin 2003; Dorothee Wierling: Geboren im Jahr Eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiographie, Berlin 2002.

[3] zum Beispiel Uta G. Poiger: Jazz Rock and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a divided Germany, Berkeley u.a. 2000.

Rezension über:

Alan McDougall: Youth Politics in East Germany. The Free German Youth Movement 1946 - 1968, Oxford: Oxford University Press 2004, XIV + 261 S., ISBN 978-0-19-927627-1, GBP 55,00

Rezension von:
Peter Skyba
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Peter Skyba: Rezension von: Alan McDougall: Youth Politics in East Germany. The Free German Youth Movement 1946 - 1968, Oxford: Oxford University Press 2004, in: sehepunkte 5 (2005), Nr. 3 [15.03.2005], URL: https://www.sehepunkte.de/2005/03/8089.html


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