Wir sind im Zeitalter von Image-Beratern, Polit-Magazinen und hochgradig personalisierten Wahlkämpfen sensibler dafür, dass das Bild eines Politikers in der öffentlichen Meinung viel wichtiger ist als sein "wirkliches" Sein und Tun. Das Bild, das sich die Beherrschten vom Herrscher machen, ist die Quelle der Legitimation und der Funktion von Herrschaft. Dieses Bild aber ist kein Abbild des Herrschers, sondern es entsteht in einem Kommunikations- und Konstruktionsprozess zwischen Politiker und Gesellschaft. Charisma kann folgerichtig nur als eine Beziehungskategorie begriffen werden. Diesem Ansatz folgen auch die Autoren des Sammelbandes, der auf eine Tagung in Heidelberg im September 2001 zurückgeht. Es ist das große Verdienst dieses Bandes, dass hier Charisma nicht als immanente Eigenschaft betrachtet wird. So müssen keine unfruchtbaren Argumentationen darüber geführt werden, ob eine bestimmte Person die charismatischen Eigenschaften hatte oder nicht. Der Raum bleibt vielmehr offen für die wesentlich Gewinn bringendere Untersuchung der "Vorstellungen und Zuschreibungen" (2) der deutschen Öffentlichkeit gegenüber wichtigen Politikern.
Dieses Charismakonzept sowie das theoretische Fundament dieses Bandes überhaupt sind eng an die Herrschaftstypologie Max Webers angelehnt, die der Herausgeber Frank Möller in der Einführung übersichtlich und prägnant zusammenfasst. Nach Weber ist Charisma eine "als außeralltäglich [...] geltende Qualität einer Persönlichkeit [...], um deretwillen sie als mit übernatürlichen oder übermenschlichen oder mindestens spezifisch außeralltäglichen [...] Kräften oder Eigenschaften [begabt] oder als gottgesandt oder als vorbildlich und deshalb als 'Führer' gewertet wird. Wie die Qualität [...] 'objektiv' richtig zu bewerten sein würde, ist natürlich dabei begrifflich völlig gleichgültig: darauf allein, wie sie tatsächlich von den charismatisch Beherrschten, den 'Anhängern' bewertet wird, kommt es an." (4 f.). Charisma wird also gesellschaftlich und individuell konstruiert. Die Eigenschaften des Charismatikers sind lediglich flexibel formbare Rohmaterialien.
Voraussetzung für das Entstehen von Charisma ist allerdings eine krisenhafte Situation, von der man glaubt, dass der Charismatiker sie überwindet oder überwinden wird. Nur in der Krise kann das Außeralltägliche zur Geltung kommen; und nur in der Krise ist die psychische Disposition der Gesellschaft so beschaffen, dass sie ihre Wünsche und Erwartungen intensiv auf eine Führerpersönlichkeit projiziert und diese damit gegen rationale Kritik immunisiert. Charismatische Herrschaft ist demzufolge immer labil, da sie eigentlich die Ausnahmesituation der Krise benötigt. Ihr größter Feind ist die "Veralltäglichung", gegen die sowohl der charismatische Führer als auch seine Gefolgschaft stets ankämpfen müssen. So mangelt es auch heute nicht an Beispielen dafür, dass längst etablierte "Revolutionsführer" oder "Maximo Líder" versuchen, ihr Charisma aus der Revolutionszeit am Leben zu erhalten. Gelingt dies nicht, kann die Hingabe an den Charismatiker auch sehr schnell in Abneigung umschlagen. Einst als genial gefeierte Wesenszüge können dann bequem als Beweise für Wahnsinn herangezogen werden.
Die Autoren dieses Bandes untersuchen Napoleon I., Heinrich von Gagern, Otto von Bismarck, Wilhelm II., Paul von Hindenburg, Adolf Hitler, Konrad Adenauer, Walter Ulbricht, Willy Brandt und Helmut Kohl unter dem Gesichtspunkt charismatischer Herrschaft. Betrachtet man die Auswahl der in diesem Band behandelten Personen, kommt man zunächst ins Grübeln. Napoleon als Führer der deutschen Nation? War Heinrich von Gagern ein Charismatiker? Folgt man Wehlers Ansatz, Bismarck als charismatischen Herrscher darzustellen? Bei Adenauer und Brandt mag man sich ein gewisses Charisma vorstellen können, aber wie passen Ulbricht und Kohl in diese Reihe?
Beim Lesen der allesamt gut gelungenen Aufsätze wird jedoch bald klar, dass jeder einzelne mit Recht in diesem Sammelband vertreten ist. Napoleon gilt als das "Vorbild populärer Führerschaft" in Deutschland. Frank Möller sieht Heinrich von Gagern als die Verkörperung der Revolution und der Politik des Paulskirchenparlaments, der die Krisensituation mithilfe charismatischer Herrschaft zu gestalten versucht. Sein Charisma reichte freilich nicht aus, um den preußischen König zur Annahme der Kaiserkrone zu bewegen. Nach dem Scheitern seiner Politik verlor er auch sein Charisma sehr schnell. Für Walter Ulbricht wollte man mithilfe der Propaganda Charisma erzwingen. Bei ihm wie auch bei Adenauer war jedoch die Betonung der Normalität und Solidität in Politikstil und öffentlicher Darstellung zu prominent, um sie in eine Reihe mit klassischen Charismatikern wie Napoleon oder Hitler zu stellen. Bismarck und Kohl wurden für ihre Leistungen bei der Einigung beziehungsweise Wiedervereinigung Deutschlands charismatische Züge zugeschrieben, doch wird bei sorgfältiger Betrachtung auch deutlich, dass das Charismakonzept hier nicht zu weit ausgedehnt werden darf.
Besonders eindrucksvoll ist Wolfram Pytas Beitrag über Hindenburg gelungen. Sein Charisma beruht eigentlich nur auf einem Schlachterfolg: der - in einem Akt der Imagepflege oder Charismapolitik - so genannten Schlacht von Tannenberg. Sie machte aus dem weithin unbekannten, aus dem Ruhestand zurückgerufenen General einen Volkshelden. Danach konnte Hindenburg weder als Oberbefehlshaber im Osten noch als Generalstabschef wesentliche militärische Erfolge erzielen. Politisch trat Hindenburg ebenfalls nicht öffentlich hervor. Seine Instruktionen an die Presse zeigen sogar, dass er peinlich darauf bedacht war, seinen Namen aus der politischen Diskussion herauszuhalten, um eventuelle Imageschäden zu verhindern. Wie Pyta überzeugend darlegen kann, war es nämlich gerade das Ungleichgewicht von Fremd- und Eigencharisma, seine Eigenschaft als unbeschriebenes Blatt, die es der deutschen Öffentlichkeit ermöglichte, ihre Helden- und Führersehnsucht auf den Feldmarschall zu projizieren. Jedes entschiedene Hervortreten konnte diese große, freie Projektionsfläche beschädigen. Mithilfe der Dolchstoßlegende rettete Hindenburg sein Charisma auch über die Niederlage hinaus. Es war schließlich so stark, dass es auch zwei Jahrzehnte nach Hindenburgs einziger "großer Tat" noch für Hitler attraktiv war, sich am Tag von Potsdam und in der entsprechenden Bildpropaganda einen Teil von Hindenburgs Charisma übertragen zu lassen.
Adolf Hitler war der charismatische Führer der deutschen Nation schlechthin. In ihm vereinigen sich das Außergewöhnliche, das Irrationale, das Geheimnisvolle, das Quasi-Religiöse, das Dämonische. Noch heute kann man diese Wahrnehmungen bei der Beschäftigung mit Hitler erkennen. Die positiven Seiten des Charismas, das Anziehende und Heilsbringende, konnten freilich nur die Zeitgenossen spüren. Was uns heute als eine verzerrte Fratze erscheint, wurde damals von vielen als heroischer Gesichtsausdruck eines Erlösers gelesen, weil die Zeitgenossen etwas mitbrachten, was den von manchen Autoren als eigenschaftslos und gewöhnlich beschriebenen Hitler zum Messias machen konnte: die Sehnsucht nach dem starken Führer. Dirk van Laak analysiert in seinem Beitrag Hitlers Beziehung zu den Deutschen anhand der fünf Kategorien Person, Konstruktion des Mythos, charismatische Situation, Gefolgschaft und Medien und kann damit deutlich zeigen, wie sich alle Faktoren zu einer charismatischen Herrschaft zusammenfanden.
Der Beitrag von Christian Jansen über Otto von Bismarck macht sehr deutlich die Grenzen des Charismakonzeptes klar. Im Gegensatz zu Hans-Ulrich Wehler, der Bismarck als "erste[n] Charismatiker in der deutschen Politik" bezeichnete, kann nämlich Jansen zeigen, dass die Zuschreibungen von Charisma im Weber'schen Sinne vor allem nach Bismarcks Rücktritt und posthum stattfanden. Der danach entstehende Bismarck-Mythos darf nicht mit charismatischer Herrschaft verwechselt werden. Bismarcks Selbstinszenierung enthielt viel mehr Elemente bürokratischer und traditionaler Herrschaft. Er konnte keine Versammlungen durch seine Reden mitreißen, er wurde öffentlich stark kritisiert, und selbst seine Anhänger beschrieben ihn nie mit Begriffen aus der religiösen oder übernatürlichen Sphäre. Epitheta der kraftvollen Bodenständigkeit sind dagegen viel häufiger zu finden. Bismarck ist also eher als rationaler Herrscher anzusehen, der unter günstigen historischen Rahmenbedingungen krisenhafte Situationen kontrolliert herbeiführte und rational nutzte, um danach in einer "veralltäglichten" Herrschaft die Verbindung zur traditionalen Legitimation zu halten.
Insgesamt erweist sich dieser Sammelband als rundum gelungen. Die Auswahl der einzelnen Aufsätze ist wohl begründet und doch überraschend genug, um neugierig zu machen. Die theoretischen Grundlagen ziehen sich wie ein Gerüst durch den gesamten Band, ohne dass die Texte jemals theorieüberfrachtet wirken. Die Beiträge sind präzise formuliert und quellennah. Sie halten sich eng an die vorgegebenen Leitfragen und ermöglichen damit dem Leser Gewinn bringende Vergleiche. Es bleibt also zu hoffen, dass dieser Band möglichst viele Leser findet.
Frank Möller (Hg.): Charismatische Führer der deutschen Nation, München: Oldenbourg 2004, 281 S., ISBN 978-3-486-56717-5, EUR 39,80
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