Kein Zweifel: Die Geschichte der Bundesrepublik erlebt derzeit einen regelrechten Boom. Gleich an mehreren Universitäten und Instituten haben sich seit Ende der 1990er-Jahre große Forschungsgruppen etabliert, so etwa in München, Freiburg, Hamburg und Münster. [1] Und die Forschung schreitet in Riesenschritten voran: Hatte man vor Kurzem erst damit begonnen, die "dynamischen" 1960er-Jahre historiografisch zu vermessen, rückt nun das krisenhafte Nachfolgejahrzehnt in den Blick der Forschung.
"Die Siebzigerjahre. Gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland" lautet das Rahmenthema des neuesten Bands des "Archivs für Sozialgeschichte" (AfS). Eingeleitet von Bernd Faulenbach, vereint der gewichtige Sammelband Beiträge von insgesamt 16 Autoren, unter ihnen erfrischend viele Nachwuchswissenschaftler. Einen wirklich bunten Strauß an Themen haben die Herausgeber des AfS da gebunden: Die Bandbreite der Beiträge reicht von der Außen- und Innenpolitik und der Ostpolitik über einzelne gesellschaftspolitische Reforminitiativen wie die Polizei- und die Psychiatriereform, über die Katholische Kirche, die Gewerkschaften und die Jungsozialisten als gesellschaftliche und politische Großverbände, über den Konservativismus in den 1970er-Jahren, über die Bedeutung von Fachexperten in Unternehmen und Politik, bis hin zur Neuen Frauenbewegung, dem marxistischen Literaturbetrieb, jugendlichen Subkulturen, Frankfurter Spontiszene und schließlich dem Terrorismus.
Bereits die Vielfalt der dargebotenen Themen entspricht einem Hauptcharakteristikum der Siebzigerjahre. So zeichnete sich die Zeit zwischen der Wahl Willy Brandts zum Bundeskanzler und der "Wende" des Jahres 1982 vor allem durch die Pluralisierung von Lebensstilen aus. Die Ausformung von ganz unterschiedlichen Sub- und Gegenkulturen, von besorgten Zeitgenossen als "neue Unübersichtlichkeit" bezeichnet, beruhte ganz wesentlich auf einem deutlichen Mehr an Freizeit und der sich seit den 1960er-Jahren vollziehenden "Bildungsrevolution", die die Zahl der Abiturienten und Studenten immens ansteigen ließ. Diese Entwicklungen schufen erst die Freiräume, die notwendig waren, um alternative Lebens- und Wertvorstellungen zu entwickeln, wie Detlef Siegfried in seinem exzellenten Beitrag zu jugendlichen Subkulturen zeigen kann.
Ein weiteres Kennzeichen der Siebzigerjahre ist die Fundamentalpolitisierung von größeren Teilen der bundesdeutschen Gesellschaft. Ablesbar ist das an mehreren Entwicklungen: am enormen Zuwachs an Neumitgliedern, den die etablierten Parteien seit Ende der 1960er-Jahre verzeichneten, an der Bildung zahlreicher Bürgerinitiativen und an den vielen Großdemonstrationen, die bald fest zum Alltag in der Bundesrepublik der Siebzigerjahre gehörten.
Ein drittes Charakteristikum der Siebzigerjahre ist die Krisen- und Konflikthaftigkeit des Jahrzehnts. Zum einen ging um das Jahr 1975 abrupt das "Goldene Zeitalter" (E. Hobsbawm) wirtschaftlicher Prosperität und Vollbeschäftigung zu Ende; Massenarbeitslosigkeit, Inflation und eine steil ansteigende Staatsverschuldung prägten das Bild der Bundesrepublik in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts. Hinzu kamen die teils verheerenden ökologischen Folgen des vorangegangenen "Wirtschaftswunders", die nun immer deutlicher sichtbar wurden.
Die Siebzigerjahre waren zudem von teils erheblichen gesellschaftlichen und politischen Konfliktlagen geprägt. Am bekanntesten sind die Kämpfe innerhalb der SPD zwischen der Parteiführung und den rebellierenden Jusos, die Dietmar Süß in mentalitäts- und kulturgeschichtlicher Perspektive sehr aufschlussreich analysiert. Aber auch die Katholische Kirche geriet nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zum Austragungsort harter gesellschaftspolitischer Auseinandersetzungen. Besonders umstritten war neben der Empfängnisverhütung die Forderung nach Demokratisierung der Kirche, wie Benjamin Ziemann in seinem lesenswerten Beitrag unterstreicht. Fronten taten sich aber auch zwischen der Katholischen Kirche und der sozialliberalen Bonner Koalition auf - und zwar in der Frage der Abtreibung, dem wohl umstrittensten Projekt der "Inneren Reformen". Überhaupt hatte die Mannschaft um Willy Brandt mit erheblichen konservativen Gegenkräften innerhalb der Gesellschaft zu kämpfen, wie der Beitrag von Axel Schildt zum Konservativismus in den Siebzigerjahren deutlich macht. So lief der "Bund Freiheit der Wissenschaft", eine 1970 unter anderem von Professoren gegründete Vereinigung, regelrecht Sturm gegen die vermeintlich ausufernde Demokratisierung, weil diese die Grundlagen der "abendländischen politischen Kultur" zerstöre.
Mehr Widerstand noch als von gesellschaftlicher Seite erfuhren die sozialliberalen Reformen jedoch von der Opposition und dem Bundesverfassungsgericht. Diese Gegenkräfte waren sogar so groß, dass Reformvorhaben in etlichen Fällen nicht nur stark modifiziert werden mussten - so bei der Neuordnung des Abtreibungsrechts -, sondern teils auch scheiterten. Das war der Fall etwa beim Hochschulrahmengesetz von 1976 oder bei der Reform des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung im Jahr 1978.
Nicht zuletzt resultierte die Entwicklung aus den prekären Mehrheitsverhältnissen im Parlament. Der "Machtwechsel" von 1969 basierte nur auf einem hauchdünnen Vorsprung im Bundestag, der bis 1972 nach Übertritten sozialdemokratischer Parlamentarier sogar sukzessive schwand. Im gleichen Jahr errang die Opposition zudem nach fulminanten Wahlsiegen in mehreren Ländern die Mehrheit in der machtvollen zweiten Kammer des Parlaments.
All das lässt es sehr fraglich erscheinen, ob man wirklich von einem "sozialdemokratischen Jahrzehnt" sprechen kann, wie das Faulenbach in seinem einleitenden Essay tut. Selbst aus rein politikgeschichtlicher Sicht trifft seine These nur sehr bedingt zu. Faulenbach lässt nämlich nicht nur den wichtigen Koalitionspartner FDP ganz außer Acht. Der Blick allein auf die Bundesebene blendet zudem die politischen Konstellationen in den Ländern völlig aus. In Bayern oder Baden-Württemberg sahen die Mehrheitsverhältnisse ja ganz anders aus. Vor allem aber berücksichtigt Faulenbachs Betrachtungsweise die Sphäre der Gesellschaft nur ungenügend. Bei weitem nicht für alle gesellschaftliche Gruppierungen war die Sozialdemokratie der zentrale Bezugspunkt. Schon gar nicht hat die SPD die beschriebenen vielfältigen sozialen und kulturellen Umbruchprozesse in den Siebzigerjahren maßgeblich beeinflusst, geschweige denn hervorgerufen. Diese Kritik soll jedoch nicht den Wert des Sammelbandes schmälern, der sicherlich für viele Jahre einen wichtigen Orientierungspunkt für die Forschung zu den Wendejahren der Bonner Republik bilden wird.
Anmerkung:
[1] Erste Ergebnisse dieser Forschung liegen bereits vor: Hans Woller / Thomas Schlemmer (Hg.): Bayern im Bund. Bd. 1: Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973; Bd. 2: Gesellschaft im Wandel 1949-1973; Bd. 3: Politik und Kultur im föderalen Staat. 1949 bis 1973, München 2001-2004; Axel Schildt / Detlef Siegfried / Karl Christian Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000; Ulrich Herbert (Hg): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002; Matthias Frese / Julia Paulus / Karl Teppe (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003.
Friedrich-Ebert-Stiftung / Institut für Sozialgeschichte Braunschweig-Bonn (Hg.): Die Siebzigerjahre. Gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland (= Archiv für Sozialgeschichte; Bd. 44/2004), Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2004, XVI + 735 S., ISBN 978-3-8012-4148-3, EUR 68,00
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