Gleich auf zwei lange unterbelichtete Felder der Weimarer Geschichte wirft Webers Tübinger Dissertation wieder etwas mehr Licht: Auf das protestantisch-konservative Milieu im Allgemeinen, aber zugleich auch auf dessen regionale Ausprägung, aus der heraus es seit der Fundamentalpolitisierung im Kaiserreich allein zu verstehen ist. Das Beispiel Württembergs ist dabei von besonderem Interesse; denn die politischen Uhren gingen dort ganz anders als in Preußen, aber auch als in Bayern.
Wurden München und Berlin 1918/19 in der Gründungsphase der Weimarer Republik von blutigen Revolutionen erschüttert, die in ihren politisch-kulturellen Spätfolgen - vor allem in Form eines glühenden Antibolschewismus - tendenziell auf die konservativen Milieus im ganzen Land ausstrahlten, so blieb Stuttgart nicht nur von bürgerkriegsähnlichen Unruhen, sondern auch von einer kulturkämpferischen SPD/USPD-Revolutionsregierung verschont. Obendrein wies die regionale deutschnationale Gründungsgeschichte wesentliche Spezifika auf: Zum einen sammelten sich in der "Bürgerpartei" nicht nur die alten, vergleichsweise schwachen Deutschkonservativen, sondern mehr noch viele vormals Parteilose sowie ein "nicht zu vernachlässigender Teil" (125) der ehemals Nationalliberalen, was der Neugründung einen merklich moderateren Ton gab als dem Reichsverband der DNVP (ihm trat die Bürgerpartei erst im November 1920 offiziell bei); zum anderen schloss sich der Württembergische Bauernbund als landesspezifischer Ableger des Bundes der Landwirte den Deutschnationalen nicht faktisch an - wie das die regionalen BdL-Verbände in Preußen oder Bayern taten -, sondern blieb unter dem erweiterten Namen "Württembergischer Bauern- und Weingärtnerbund" parteipolitisch selbstständig. [1] Wie günstig sich diese Entscheidung für die Stabilität des ländlich-protestantischen Elektorats und des sich darauf stützenden Bauernbundes auswirkte, sollten die Entwicklungen Ende der 1920er-Jahre erweisen, als die ländliche Interessenpartei von den Kontroversen um den Hugenberg-Kurs in der DNVP nur indirekt tangiert wurde.
Unmittelbar davon erfasst wurde dagegen die Bürgerpartei - obwohl sie von allen Deutschnationalen mit am weitesten in die Republik hineingewachsen war; obwohl sie zudem 1919 auf monarchistische Bekenntnisse verzichtet und das "Mitwirken in jeder Staatsform"(128) betont hatte; obwohl sie ihren gewählten Reichstagsabgeordneten sogar freigestellt hatte, sich im Reichstag der DNVP oder der DVP-Fraktion anzuschließen; und obwohl sie von 1924 bis 1928 (im Rahmen einer Koalition aus Bürgerpartei, Bauernbund und Zentrum) mit dem vom Naumann-Kreis herkommenden Wilhelm Bazille den ersten deutschnationalen Regierungschef in einem größeren Land der Weimarer Republik stellte (Den ersten deutschnationalen Regierungschef auf Länderebene überhaupt gab es - anders als auf Seite 29 zu lesen - aber nicht in Württemberg, sondern im Freistaat Mecklenburg-Strelitz, wo Karl Schwabe seit August 1923 das Staatsministerium leitete.)
Zwar wurde der Zwiespalt zwischen "systemoppositioneller Partei und gouvernementaler Fraktion" in Württemberg "nicht in der Härte empfunden wie im Reich" (138), andererseits begann der Prozess, "der die Partei schrittweise auf Hugenberg-Kurs brachte" (140), hier schon nach den Landtagswahlen Ende Mai 1924, als Anhänger des radikal-nationalistischen Pressezaren den relativ liberalen und politisch gemäßigten Theologen Gustav Beißwänger als Vorsitzenden entmachteten und den Rechtsanwalt Ernst Schott, einen früheren Deutschkonservativen und Vorstand des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie, sowie den Chemieindustriellen Fritz Wider, Hauptmann der Reserve, "ausgesprochener Vertreter des völkischen Gedankens" (419) und Verbindungsmann der Vaterländischen Verbände, an die Spitze der Partei rückten.
Wider wurde auch zur treibenden Kraft einer Fronde gegen den Staatspräsidenten Bazille, die ein deutschnationaler Landtagsabgeordneter und Vorstandsmitglied der Vaterländischen Verbände aus Ulm im Herbst 1926 mit dem Vorwurf eröffnete, die nationalen Verbände, dem die Bürgerpartei ihre "Kampfkraft" (und den Wahlsieg von 1924) verdankte, hätten ausgerechnet im Württemberg Bazilles "die schlechteste Stellung im Reich" (140). Auch die mangelnde Bindung an den Reichsverband der DNVP wurde moniert, firmierte man doch nach wie vor als "Württembergische Bürgerpartei" mit der lediglich hinzugefügten Ergänzung "Deutschnationale Volkspartei Württembergs". Nachdem sich 1928 die Hugenbergianer schon mit der Umbenennung in "Landesverband Württemberg der Deutschnationalen Volkspartei (Württembergische Bürgerpartei)" durchgesetzt hatten, gelang es Wider im Sommer 1930 schließlich, Bazille auch sein Reichstagsmandat zu entreißen und ihn als Kandidaten für die vorgezogenen Neuwahlen zu verhindern; allerdings hatte Bazille kurz zuvor bei den Abstimmungen über die Brüning'schen Notverordnungen ohnedies ganz mit Hugenberg gebrochen und sich zusammen mit den Abgeordneten des Württembergischen Bauern- und Weingärtnerbundes der Westarp-Gruppe angeschlossen.
Die Durchsetzung der Hugenberglinie selbst in Württemberg wirft vor allem die Frage auf, wie es die vergleichsweise moderate Bürgerpartei eigentlich vorher mit der extremen Rechten gehalten hatte? Zunächst fällt ins Auge, dass diesem Problem im "Ländle" kein ähnlich großes Gewicht zukam wie etwa in den deutschnationalen Hochburgen des bayerischen Franken oder des ostelbischen Preußen; und zwar einfach deshalb nicht, weil die vaterländischen Verbände in Württemberg, schwach und zersplittert wie sie wohl auch infolge einer regional besonders ausgeprägten "konservative[n] Organisationsunwilligkeit" waren, "als Basis einer milieuhaften Verdichtung versagten" (276 f.) und für die NSDAP nur einen mageren Nährboden abgaben. Dennoch galt auch für die württembergische DNVP, "daß sie sich von völkisch-antisemitischen Gruppierungen und Verbänden nie wirklich distanzierte" (402) und damit langfristig die von Hugenberg verfolgte NSDAP-Option für Teile der Partei plausibler machte.
Als wesentlichen inhaltlichen Berührungspunkt zwischen Konservativen und völkischer Bewegung hatte eine Artikelserie des Bauernbundes im Frühjahr 1923 "die gemeinsame Abneigung gegen das Judentum" (420) genannt. Aber nicht nur der Bauernbund polemisierte nach 1918 verstärkt gegen das "moderne jüdische Wesen" (400 f.) in Großkapital und Großhandel und identifizierte es mit Liberalen und Sozialdemokraten; auch die im städtischen Milieu agierende Bürgerpartei wurde zwischen 1918 und 1924 geradezu zum "antisemitischen Monopolisten im Parteiensystem des Landes" (401 f.). Zwar bekamen die Deutschnationalen mit dem Aufstieg der völkischen Bewegung dann Konkurrenz bei der Besetzung dieses Themas, doch blieb der Antisemitismus auch nachdem er 1924 seinen vorläufigen Höhepunkt überschritten hatte, zweifelsohne virulent und "revitalisierbar" (429). Symptomatisch war etwa die Berichterstattung in der Schwäbischen Landjugend über eine Versammlung des Jungbauernbundes, für den der Antisemitismus ohnehin "fast Selbstverständlichkeit" blieb, im Herbst 1927: "Der Saal war stubenrein, Juden waren nicht anwesend, denn es gab ja nichts zu verdienen"(180).
Trotz der breiten völkischen Berührungsflächen zur NSDAP begingen die Agrarkonservativen in Württemberg aber nicht den Fehler, der etwa dem Fränkischen Landbund unterlief, indem er sich nicht immer entschieden genug unter Verweis auf andere Dissenspunkte von den "Parteivölkischen" distanzierte. Der Bauern- und Weingärtnerbund erklärte dagegen im März 1924 klipp und klar, dass er und seine Mitarbeiter "in einem entschiedenen Gegensatz zur derzeitigen nationalsozialistischen Bewegung in Württemberg und ihren Führern stehen" (268). Und in den letzten Jahren der Weimarer Republik machte der Bauernbund seinen vergleichsweise gemäßigten Standpunkt zudem dadurch deutlich, dass er auf seinem "Ticket" den volkskonservativen Hugenberg-Gegner Bazille bis 1933 als Kultusminister in die Landesregierung entsandte. Erleichtert wurde diese agrarkonservative Abgrenzungsstrategie gegen die extreme Rechte gewiss noch dadurch, dass die Spitze der evangelischen Kirche, die für das bäuerliche Wählerklientel neben dem Bauernbund wichtigste Autorität, sich vehement gegen die NSDAP und den NS-Pfarrerbund wandte (während in Bayern Landesbischof Meiser, anders als der württembergische Kirchenpräsident Wurm, in dieser Frage stärker taktierte).
Vor dem Hintergrund der sehr spezifischen württembergischen Verhältnisse kommt Reinhold Weber - mit ausdrücklichem Bezug auf jüngere Thesen von einem deutschnationalen Tory-Konservativismus - zu dem Schluss, "Systemfeindschaft, Rechtsradikalität und Lernunfähigkeit der geschrumpften Hugenberg-DNVP" hätten "die vorhergehenden Jahre verdeckt, in denen die Partei mit pragmatischer Kooperation als systemintegrierter Konservatismus aufgetreten war" (28). Zwischen "antirepublikanisch-reaktionär und reformkonservativ-etatistisch" oszillierend, seien die beiden konservativen Parteien in Württemberg - so wie die Reichs-DNVP - keineswegs "generell auf Fundamentalopposition gepolt" (365) gewesen. Dass die Haltung der württembergischen Konservativen zur Republik ab 1924 durch ihre - anders als in Bayern sogar führende - Beteiligung an der Landesregierung "geprägt" wurde, die der "fundamentaloppositionellen Kritik den Wind aus den Segeln" (367) nahm, ist sicher kein falscher Befund. Natürlich galt für die Deutschnationalen im Südwesten, dass sie "in der Koalition mit dem Zentrum selbst das 'System' waren" (514), gegen das man nicht so massiv agitieren konnte wie das v. a. unter den preußischen Verhältnissen möglich war; und richtig ist sicher auch, dass ein Tory-Konservativismus der Bürgerpartei und dem Bauernbund tendenziell etwas leichter fiel, weil die SPD in Württemberg "weniger 'links'" (428), das Zentrum dagegen konservativer als im Reich auftrat. Dennoch gibt es einen gewissen Widerspruch zwischen der These eines pragmatisch-republikanischen Schubs ab 1924 und dem Befund, bereits damals hätte die Erosion der Bürgerpartei "durch das Aufbrechen interner [...] Gegensätze" (276) begonnen. Beides zusammen genommen spricht nicht gerade dafür, dass die Bürgerpartei in den 1920er-Jahren tatsächlich so "fundamentale Wandlungsprozesse" (28) durchlief, wie argumentiert wird, sondern eher dafür, in der "Uneinheitlichkeit" heterogener Zielvorstellungen das - dauerhafte - "Charakteristikum" (365) auch der württembergischen Konservativen zu sehen. Dabei ist evident, dass selbst in der am stärksten gouvernementalen Phase Mitte der 1920er-Jahre völkische Elemente stark genug blieben, um die Partei einer ständigen Spannung auszusetzen und sie im Falle einer neuerlichen schweren Krisis für antirepublikanische Lösungsversuche zu disponieren.
Obwohl die Argumentation der Studie an dieser Stelle also nicht ganz einleuchtet, kann der Kritikpunkt die Gesamtleistung des Verfassers kaum schmälern. Auch wenn es einiges Hintergrundwissen voraussetzt, erweist sich das gewählte Gliederungsprinzip, "Parteipolitische Verdichtungsprozesse", "Organisationsbedingungen" oder "Innerparteiliche Partizipations- und Kommunikationsformen" im Längsschnitt von 1895 bis 1933 zu entwickeln, zum vertieften Verständnis der Weimarer Entwicklungen als sehr hilfreich. Weber ist insgesamt ein auf breiter Quellengrundlage basierendes, methodisch reflektiertes Standardwerk zur Geschichte der konservativen Parteien in dem sehr spezifischen Milieu Württembergs gelungen, auf das die Forschung schon lange gewartet hat. Die Parlamentarismuskommission hat das Buch in bewährter Weise betreut. Auch angesichts eines derartigen Bandes ist man doch erleichtert, dass die jetzt von Bonn nach Berlin verlagerte Einrichtung den großen Kulturschlachtfesten der Gegenwart noch einmal entronnen ist.
Anmerkung:
[1] Auch in Thüringen, Baden oder Hessen gab es schon in den 1920er-Jahren parteipolitisch selbstständige Landbundlisten.
Reinhold Weber: Bürgerpartei und Bauernbund in Württemberg. Konservative Parteien im Kaiserreich und in Weimar (1895-1933) (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien; Bd. 141), Düsseldorf: Droste 2004, 606 S., 1 CD-ROM, ISBN 978-3-7700-5259-2, EUR 84,80
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