Der Band "Medicine and Medical Ethics in Nazi Germany. Origins, Practices, Legacies" basiert auf einer Vortragsreihe am Center for Holocaust Studies der Universität Vermont im Frühjahr 2000. Das Buch, eine Art "textbook", das sich als Einführung für Studierende versteht, enthält Beiträge einiger der wichtigsten US-amerikanischen Spezialisten zum Thema "Medizin im Nationalsozialismus". Bei einem Teil der "essays" handelt es sich um Zusammenfassungen bekannter Forschungsergebnisse dieser Autoren, deren einschlägige Monografien mittlerweile sogar in deutscher Übersetzung vorliegen.
Der Band beginnt mit einem hauptsächlich auf die US-amerikanische Forschungslandschaft fokussierten Literaturüberblick der Herausgeber, mit dem der Holocaust in einen größeren Zusammenhang von Eugenik und Rassenforschung gestellt wird. Den "Origins" der NS-Medizin folgt der Beitrag des Biologen und Wissenschaftshistorikers Garland E. Allan zur "Ideology of Elimination: American and German Eugenics, 1900-1945". Da Allan darin vorrangig auf die US-amerikanische Entwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts blickt, bietet sein Beitrag auch deutschen Fachleuten durchaus Neues. Wie sein vergleichender Aufsatz einmal mehr verdeutlicht, war eugenisches Denken kein spezifisch deutsches Phänomen. Auch in den USA gab es spätestens seit den 1920er-Jahren eine breite eugenische Bewegung, die erfolgreich auf die Einwanderungsgesetzgebung Einfluss nahm und bis 1935 in mehreren Bundesstaaten Sterilisationsgesetze durchzusetzen verstand. Das Aufkommen eugenischer Forderungen führt Allan auf soziale und ökonomische Probleme in der Gesellschaft zurück: Sowohl in den USA als auch in Deutschland sei die eugenische Bewegung in einer Zeit großer sozialer Umbrüche erwachsen (29 f.). Zur Staatsdoktrin wurde sie aber nur im nationalsozialistischen Deutschland erhoben; nach Allan lag darin auch der Grund, dass die Eugenik nur dort zum Krankenmord führte (32 f.).
Den "Practices" der NS-Medizin widmen sich die folgenden Beiträge von Robert N. Proctor, Henry Friedlander und Michael H. Kater, die alle drei auf älteren Publikationen basieren. In seinem Aufsatz zur "Nazi Campaign against Tabacco" stellt Proctor die Ergebnisse seiner langjährigen Forschungen zur Krebsprophylaxe in NS-Deutschland zusammen, präventivmedizinische Bemühungen, die er als Beispiel für innovative Initiativen eines diktatorischen Regimes zur "Verbesserung der deutschen Volksgesundheit" wertet. [1] Die Kehrseite solcher Vor- und Fürsorge für "wertvolle Volksgenossen" beleuchtet der folgende Beitrag von Friedlander mit dem Titel "Physicians as Killers in Nazi Germany: Hadamar, Treblinka, and Auschwitz", in dem es um die tödlichen Konsequenzen einer an "rassischen" und eugenischen Prinzipien orientierten Medizin für die als "unwert" eingestuften Menschen geht. Dabei fragt Friedlander nicht nur nach der Rolle der Medizin beim Krankenmord, den er als Vorstufe zum späteren Genozid an den Juden, Sinti und Roma begreift, sondern auch nach den Motiven sowie nach biografischen und charakterlichen Besonderheiten der ärztlichen Täter. [2] Seinen Ausführungen zufolge waren diese Mörder relativ junge, beruflich ehrgeizige und skrupellose Ärzte, die der NS-Bewegung und ihrer Weltanschauung anhingen, die allerdings - so Friedlander - nicht vorrangig aus ideologischen, sondern vor allem aus pragmatischen Beweggründen töteten (72 f.). Eine besondere Affinität von Ärzten zum Nationalsozialismus hebt auch der folgende Beitrag von Kater zu den "Criminal Physicians in the Third Reich" hervor, in dem dieser sein altbekanntes Zahlenmaterial zur Mitgliedschaft von Ärzten in NS-Parteigliederungen präsentiert. [3]
In den letzten beiden "essays" von William Seidelmann und Michael Burleigh geht es dann um die Hinterlassenschaften ("Legacies") der NS-Medizin und um ihre Auswirkungen auf heutige medizinethische Diskussion. In seinem Beitrag zur "Pathology of Memory" untersucht Seidelmann den Umgang bundesrepublikanischer Mediziner und medizinischer Institutionen mit der Rolle der Medizin im "Dritten Reich". Dabei präsentiert er einerseits Beispiele ärztlicher Kapitalverbrecher, die nach Kriegsende unbehelligt weiterpraktizierten oder bedenkenlos auf Menschenversuchen an KZ-Häftlingen basierende Forschungsergebnisse publizierten. Andererseits stellt er die lange Zeit nur sehr gering ausgeprägte Bereitschaft angesehener Forschungseinrichtungen wie der Max-Planck-Gesellschaft heraus, sich mit der eigenen NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen. Burleighs Beitrag "The Legacy of Nazi Medicine in Context" schließlich diskutiert die Auswirkungen dieser Vergangenheit auf die heutige medizinethische Diskussion zu den Themen Sterbehilfe oder genetische Forschung. [4] Im Anhang des Bandes findet sich die englische Übersetzung einer vielbeachteten Ansprache des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, Hubert Markl, aus dem Jahr 2001, in der dieser eine Mitverantwortung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft für NS-Verbrechen ihrer Wissenschaftler einräumte und den Beginn eines mehrjährigen Programms zur Erforschung der NS-Geschichte der Gesellschaft bekannt gab. Biografische Notizen zu den Autoren, eine Auswahlbibliografie und ein Register schließen den gelungenen Überblicksband ab.
Anmerkungen:
[1] Robert N. Proctor: The Nazi War on Cancer, Princeton 1999 (dt.: Blitzkrieg gegen Krebs. Gesundheit und Propaganda im Dritten Reich, Stuttgart 2002).
[2] Henry Friedlander: The Origins of Nazi Genocide. From Euthanasia to the Final Solution, Chapel Hill / London 1995 (dt.: Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997).
[3] Michael H. Kater: Doctors under Hitler, Chapel Hill / London 1989 (dt.: Ärzte als Hitlers Helfer, München 2002).
[4] William Seidelmann: The Legacy of Academic Medicine and Human Exploitation in the Third Reich, in: Perspectives in Biology and Medicine 43 (2000), 325-224; Michael Burleigh: Ethics and Extermination: Reflections on Nazi Genocide, Cambridge 1997.
Francis R. Nicosia / Jonathan Huener (eds.): Medicine and Medical Ethics in Nazi Germany. Origins, Practices, Legacies, New York / Oxford: Berghahn Books 2004, VII + 160 S., 11 ills, 3 figs, ISBN 978-1-57181-387-9, GBP 15,00
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