Das Ziel dieses Werkes ist groß: Julia Schreiner möchte in ihrer Untersuchung der Vielschichtigkeit der kulturellen Gedankenwelt am Ende des 18. Jahrhunderts näher kommen. Dazu dienen ihr die Phänomene Suizid, Melancholie und Hypochondrie als Folie. Alle drei Themenkreise spiegeln die düstere, unglückliche Seite des Lebens, sie befanden sich jenseits vom Glück und erfuhren in dieser Zeit eine bemerkenswerte publizistische Aufmerksamkeit (12). Über diesen spezifischen Zugang erhofft sich die Autorin Hinweise auf zentrale Tendenzen der Zeit, die auch auf der anderen, der glücklichen Seite manifest waren, wie etwa Vorstellungen über Moral und Recht. Dabei geht es ihr nicht in erster Linie darum, die Eigenheiten der jeweiligen Themenblöcke herauszuarbeiten, sondern vielmehr darum, die quer liegenden Verbindungen aufzuspüren. Indem sie vielfältige Perspektiven berücksichtigt - Medizin, Recht, Theologie, Kommunikationsstrukturen - möchte sie die Wahrnehmungsmuster der Zeit herauskristallisieren.
Diesem Forschungsansatz entsprechend liegt der Schwerpunkt von Schreiners Blick in der jeweiligen Bewertung der Texte des Untersuchungszeitraums. In Anlehnung an Foucault will sie die diskursiven Formationen untersuchen, um so die vielschichtigen Deutungsmuster zusammenführen zu können. Im Unterschied zu Foucault versteht sie Diskurs allerdings nicht als "bloßen Unterdrückungsmechanismus", sondern als "Menschenwerk", an dem Menschen beteiligt sind, die an der "Kreation von Bedeutung" mitwirken und so durch ihre "Sprachwelt" eine Eigendynamik entwickeln (14).
Die Arbeit ist in drei große Abschnitte gegliedert, die nicht chronologisch aufeinander aufbauen, sondern inhaltlichen Aspekten folgen. Im ersten Abschnitt geht es um den Blick auf den Menschen und seinen Körper, im zweiten um die Umdeutungen - die Pathologisierungen -, die dieser Blick erfuhr, und im dritten Abschnitt um die Wahrnehmungen, die in den zuvor beschriebenen Entwicklungen deutlich werden. Schreiner stützt sich dabei hauptsächlich auf gedruckte Quellen unterschiedlichster Art, die ihr eben genau deswegen diesen vielschichtigen Zugang zum Thema ermöglichen sollen: theologische Traktate, juristische Abhandlungen, philosophische Texte, aber auch gerichtsmedizinische Fallsammlungen und Romane.
Die "Blicke auf und in den Menschen" werden eingeleitet durch den offensichtlichsten Blick in den Menschen, nämlich die Obduktionen. Bereits an diesem ersten Kapitel lässt sich die grundsätzliche Kritik an dem Buch verdeutlichen. Schreiner möchte die verschiedenen Sichtweisen und Funktionsweisen der Sektionen differenzieren, um so eine Aufwertung des Visuellen durch die Medizin und den Einflussgewinn der Medizin überhaupt zu skizzieren. Dazu führt sie ein Konglomerat von verschiedenen Aspekten zusammen, die diese Sichtweise durchaus zulassen: die Sektion des Theologen Danovius, der Selbstmord begangen hatte; den Aspekt der Bestrafung, der den Sektionen anhaftete; die Kritik an der öffentlichen Strafpraxis; das öffentliche Interesse an den Sektionen; die gerichtsmedizinischen Untersuchungen; die Präparatesammlungen und vieles mehr. Nimmt man diese Details hingegen näher ins Visier, so ergeben sich einige Schieflagen. Um nur einen Aspekt herauszugreifen: Danovius wurde seziert, um die Ursache seines Selbstmords im Körper zu suchen. Diese Sektionen fanden in der Regel nicht öffentlich, sondern im Kreis der Familie statt. Danovius wäre aufgrund seiner sozialen Stellung sicherlich nicht öffentlich im Anatomischen Theater seziert worden. Zudem sollten in öffentlichen Sektionen nicht Todesursachen festgestellt werden, sondern die Sektionen im Anatomischen Theater dienten fast ausschließlich zu Unterrichtszwecken. Diese Differenzierung hatte erhebliche Auswirkungen auf das Ansehen des Sezierten und damit letztlich auch auf die Wahrnehmung der Obduktion.
Unbestritten bleibt sicherlich, dass Mediziner anfingen, seelische Befindlichkeiten im Körper zu suchen. Dies hatte folgerichtig Auswirkungen auf die Wahrnehmung von Krankheiten, insbesondere dann, wenn sie, wie die drei hier relevanten Phänomene, dem Seelischen verhaftet waren. Schreiner kommt zu dem Schluss, dass Suizid, Hypochondrie und Melancholie im Laufe des 18. Jahrhunderts zunehmend medikalisiert wurden. Dies soll aber nicht als "feindliche Übernahme durch die Ärzteschaft" (79) bewertet werden, sondern als Durchdringung der Diskurse mit medizinischen Ideen, was unweigerlich zu veränderten Bedeutungssystemen führte - auch auf Seiten der Patienten und Patientinnen.
Der zweite Abschnitt ist allein dem Suizid gewidmet. Hier stellt Schreiner dar, wie sich der Einflussgewinn medizinischer Ideen auf die Wahrnehmung des Selbstmords auswirkte. Selbstmord wurde pathologisiert. Nicht zuletzt dadurch wurde er entkriminalisiert und dem Zugriff des Teufels entzogen. Dies bedeutete allerdings keineswegs, dass auch die Bewertung als unmoralische Tat entfiel. Die Theologen griffen vielmehr die neuen Tendenzen auf und festigten sie dadurch. Indem die Betroffenen in einen Zustand der Krankheit geraten waren, für den sie selbst verantwortlich waren, etwa durch einen unmoralischen Lebenswandel, blieb die moralische Verurteilung erhalten. Diesen Mechanismus der Ausgrenzung konstatiert Schreiner auch für die Hypochondrie und die Melancholie.
Im letzten Abschnitt führt Schreiner die verschiedenen Stränge in beeindruckender Weise zusammen und analysiert sie aus der Perspektive der Wahrnehmungen. Melancholie, Hypochondrie und Suizid galten als epidemische Erscheinungen, deren Entwicklung man sorgenvoll betrachtete. Hier kommt auch Goethes "Werther" ins Spiel. Dieser Roman war zu seiner Zeit das, was man heute ein Medienereignis nennen würde. Indem Schreiner diesem Phänomen die Fokussierung auf das Individuum und die Entwicklung des Medienmarktes einschließlich der Veränderungen der Leserschaft und des Leseverhaltens gegenüberstellt, stellt sie dar, wie sich Wahrnehmungen erzeugen und dadurch verändern. Am Ende des 18. Jahrhunderts formte die Berichterstattung die Wahrnehmung und konstruierte auf diese Weise Wirklichkeit. Auch hier lässt sich Gleiches für die Wahrnehmung der Hypochondrie und die Melancholie feststellen.
Das Bild, das Schreiner vom Geisteshaushalt am Ende des 18. Jahrhunderts entwirft, ist tatsächlich vielschichtig. Der Einflussgewinn der Medizin; die Pathologisierungs- und Ausgrenzungsmechanismen, die Hypochonder und Melancholiker betrafen; die Veränderungen im Strafsystem; die Rolle der moralischen Bewertungen; die Entdeckung des Individuums und immer wieder die veränderte Medienwelt, die neue Kommunikationsformen kreierte - alles stand in enger Verbindung und gegenseitigem Austausch. Vor diesem Hintergrund erscheinen Redundanzen zwangsläufig. Dies tut der Komposition des Textes allerdings keinen Abbruch, zumal Schreiner bereits in der Einleitung andeutet, dass sie durch ihre Quellentexte "meandert" (28), immer wieder andere Perspektiven einnimmt und somit Wiederholungen und ständige Bezüge zu bereits Festgestelltem unvermeidlich erscheinen.
Stellt man abschließend die Frage, ob Julia Schreiner ihr Ziel erreicht hat, so bleibt ein prosaisches "sowohl als auch": Richtet man den Blick auf das Gesamtkonzept, so entsteht ein vielschichtiges Bild der Gedankenwelt am Ende des 18. Jahrhunderts, richtet man dagegen den Blick auf das Detail, verschwimmen oft die Grenzen. Trotzdem bietet dieses Werk viele Anregungen, insbesondere auch viele Ideen, die weiter zu verfolgen es sich lohnt.
Julia Schreiner: Jenseits vom Glück. Suizid, Melancholie und Hypochondrie in deutschsprachigen Texten des späten 18. Jahrhunderts (= Ancien Régime. Aufklärung und Revolution; Bd. 34), München: Oldenbourg 2003, 323 S., ISBN 978-3-486-56734-2, EUR 49,80
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