Englandreisende des 17. und 18. Jahrhunderts setzten beim Besuch der Abteikirche von Westminster andere Schwerpunkte als moderne Kunstwissenschaftler. Mehr noch als für die Architektur oder die Königsgräber begeisterten sie sich für die Funeraleffigien, im Begräbniszeremoniell verwendete Scheinleiber aus Holz und Wachs, den bei weitem größten englischen Bestand dieser Art. In der Forschung hingegen spielten diese Figuren, die heute im Museum am Kreuzgang gezeigt werden, bisher eine untergeordnete Rolle. Ihnen widmet sich der vorliegende Sammelband, eine eingreifende Neubearbeitung der 1994 erschienenen Erstausgabe. Verantwortlich zeichnen als Herausgeber Anthony Harvey, der ehemalige Sub-Dekan von Westminster Abbey, und Richard Mortimer, Keeper of the Muniments (Leiter des Abteiarchivs), in Zusammenarbeit mit zahlreichen anderen Autoren, allen voran Phillip Lindley. Den Katalog der 21 erhaltenen Figuren - von der Holzfigur König Eduards III. (1377) bis zur Wachspuppe Lord Nelsons (1806) - ergänzen eine Überblicksdarstellung zu den englischen Funeraleffigien (Julian Litten), ihre Sammlungsgeschichte (Richard Mortimer) sowie eine kurze Anmerkung zu ihrem Schmuck. Zahlreiche gute Farb- und Schwarzweißabbildungen begleiten die Texte. Die Katalogbeiträge behandeln die Entstehung der Effigien und ihre Verwendung. Es schließt sich jeweils eine ausführliche Beschreibung des technischen Aufbaus und, wenn erhalten, der Bekleidung an; am Schluss jedes Beitrags folgt ein knapper Überblick über die Restaurierungen.
Dass dieses Buch in vielen Teilen schon so kurz nach seinem ersten Erscheinen grundlegend überarbeitet worden ist, begründet sich durch wesentliche neue Erkenntnisse, die bei der Restaurierung dreier Figuren gewonnen werden konnten (William Pitt, Elisabeth I. und Lord Nelson); für die Erstpublikation waren nur die mittelalterlichen Effigien eingehender untersucht worden. So hatten, wie sich jetzt herausstellte, Wachsschnitzer die Figur der Königin Elisabeth I. (gestorben 1603) zwar 1760 wesentlich erneuert, aber doch, wie bereits Sir William St. John Hope 1907 vermutet hatte, den alten Holzkern wieder verwendet (eine Information, die Julian Litten seltsamerweise nicht in die Neufassung seines Einleitungstextes einbezogen hat). [1]
Richard Mortimer unterscheidet drei Typen der in der Abtei erhaltenen Figuren: erstens die neun Funeraleffigien aus Holz und Gips, die beim Begräbnis mitgeführt wurden und den Toten repräsentierten, dessen Leichnam im Sarg lag (Eduard III., gestorben 1377, bis Jakob I., gestorben 1625), zweitens die Funeraleffigien nach 1660 mit wächsernen Extremitäten und drittens die Wachsfiguren des späten 17. bis frühen 19. Jahrhunderts, die von Dekan und Kapitel als öffentliche Bildnisse bestellt worden waren und also nicht im Begräbniskontext entstanden sind, auch wenn sie diesen noch suggerieren.
Solche Effigien waren in England schon im Mittelalter zwar nicht ausschließlich den Königen und Königinnen vorbehalten, es gibt aber nur wenige Nachrichten über eine derartige Repräsentation jenseits des Königshauses. Seit dem Tod Heinrichs III. 1272 waren fast alle englischen Könige und Königinnen in Westminster Abbey aufgebahrt und zumeist auch begraben worden. Nach dem Begräbnis gingen Trauergerüst und Effigie in den Besitz der Abtei über. Nicht weniger als die fest installierten Grabmäler dort bezeichnen daher die Funeraleffigien den immer wieder erstrittenen Anspruch von Westminster Abbey als englisches Pantheon. Spätestens im 17. Jahrhundert wurden nicht nur die Grabmäler, sondern auch die Effigien zu touristischen Wahrzeichen. Dem traditionsbewussten Kapitel, später den Antiquaren und Restauratoren ist zu verdanken, dass diese einzigartige Sammlung von Bildwerken erhalten ist.
Die Geschichte der englischen Funeraleffigie beginnt mit dem Tod des abgesetzten Königs Eduard II. (gestorben 1327): Dessen Leichnam musste ein Vierteljahr auf seine Bestattung warten und war dann naturgemäß nicht mehr vorzeigbar. Zudem wollte die Königinwitwe Isabella wohl auch vertuschen, dass Eduard keines natürlichen Todes gestorben war. Die älteste erhaltene Funeraleffigie ist die seines Sohnes, König Eduards III. Wie naturalistisch die mittelalterlichen Statuen die zu Begrabenden abbilden, steht auch in diesem Band zur Debatte. Ob die Gipsmaske, die am hölzernen Kopf Eduards III. befestigt ist, tatsächlich auf eine Totenmaske zurückzuführen ist, bleibt jedoch angesichts der schematischen Gesichtszüge fraglich; für Heinrich VII. ist diese Praxis anzunehmen, aber erst für Jakob I. dokumentiert (32, 52, 70).
Die Figuren und ihre Kostüme waren seit dem 17. Jahrhundert eine wichtige Einnahmequelle für die Abtei. Dekan und Kapitel ließen Vitrinen anfertigen und erhoben Eintrittsgelder für die Besichtigung. Nur so lässt sich erklären, dass die Skulpturen die Bilderstürme des 17. Jahrhunderts überstanden. Im 18. Jahrhundert wurde der Blick skeptischer, ein Kritiker hätte die Skulpturen gern dem populären Wachsfigurenkabinett der Mrs. Salmon überwiesen ("Oh dear! you should not have such rubbish in the Abbey", 181). Jüngstes Stück der Sammlung ist die Wachstatue Lord Nelsons, mit der die Abtei ihren Status gegen die zunehmende Konkurrenz der St.-Pauls-Kathedrale zu behaupten suchte: Dort zogen Funeraleffigie und Grabmal des Admirals viele zahlende Besucher an. Im Mittelalter war die Rivalität um Königsreliquien und damit verbundene Stiftungen fast ausnahmslos zugunsten Westminsters ausgegangen.
Der Band ist vor allem als detailliertes Inventar angelegt. Diese Funktion erfüllt er ausgezeichnet, auch die Entstehungsgeschichte der einzelnen Werke ist fundiert und mit vielen Archivalien aufgearbeitet. An seine Grenzen stößt er dort, wo sich aus dem Material weitere Fragen ergeben könnten, zumal die Autoren, wie es in der englischen Forschung oft geschieht, fremdsprachige Literatur ignorieren. So bleiben der für die Gattungsgeschichte der Wachseffigien zentrale Text Julius von Schlossers' von 1911 sowie das Nachwort von Thomas Medicus zu dessen Neuedition von 1993 unberücksichtigt. [2] Wie europaweit einzigartig die Effigiensammlung von Westminster tatsächlich ist, lässt sich kaum nachvollziehen, da kontinentale Vergleichsbeispiele fast gar nicht vorkommen. Weitere Fragestellungen könnten beispielsweise die Materialikonografie von Holz und Wachs betreffen, das Verständnis von Porträt und Bildähnlichkeit im Verhältnis zu zeitgenössischen Kunsttheorien oder die Rezeption und Inszenierung solcher Figuren im Vergleich zu anderen Gruppenrepräsentationen, wie der Königsgrablege im Chor von Westminster Abbey selbst, oder frühen Wachsfigurenkabinetten. Nicht zuletzt bleibt das komplexe Verhältnis von lebender Person, Leichnam, Scheinleib und Gisant in zeitgenössischem und heutigem Verständnis ungeklärt, das sich kaum irgendwo so gut untersuchen ließe wie in Westminster Abbey: Was bedeutet es etwa, über die organisatorische Notwendigkeit hinaus, wenn der Bildhauer Maximilian Colt für das Begräbnis Jakobs I. zwei Effigien anfertigen sollte, die man noch dazu bewegen konnte (11, 69)?
Das mindert nicht die Bedeutung des Bandes als wichtiger Beitrag zur Entwicklung der englischen Funeraleffigie in Holz- und Wachsschnitzerei; auch zu englischen Begräbniszeremoniellen und ihrem Zubehör wie Katafalken findet man viele Informationen. Nebenbei erfreuen einige beiläufig erwähnte Kuriositäten, wie die Unterwäsche Karls II., oder die Umsicht der Herzogin von Buckingham (gestorben 1743), die ihre Effigie sieben Jahre lang für den Todesfall in Bereitschaft hielt.
Anmerkungen:
[1] Sir William St. John Hope: On the Funeral Effigies of the Kings and Queens of England ..., in: Archaeologia 60, 1907, 517-570.
[2] Julius von Schlosser: Tote Blicke. Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs. Ein Versuch, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Thomas Medicus, Berlin 1993.
Anthony Harvey / Richard Mortimer (eds.): The Funeral Effigies of Westminster Abbey, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2003, XIV + 206 S., ISBN 978-0-85115-879-2, GBP 25,00
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