Jubiläen beflügeln regelmäßig die wissenschaftshistorische Biografik, und so sind auch im "Einsteinjahr" 2005 wieder neue Arbeiten zum Leben und Werk des großen Physikers erschienen. Zwar profitieren die Autoren von einer großen Medienaufmerksamkeit, sie müssen aber auch nach neuen Ansatzpunkten und Darstellungsformen suchen, um eine Leserschaft zu gewinnen, die immerhin schon auf zahlreiche Einsteinbiografien zurückgreifen kann.
Der Göttinger Physiker und Wissenschaftshistoriker Hubert Goenner hat nun mit "Einstein in Berlin" den Versuch unternommen, "einen Lebensabschnitt dieses so genialen wie vielschichtigen Menschen mit dem Schicksal einer facettenreichen Stadt zu verbinden". Der Ansatz einer Parallelführung von Lebens- und Stadtgeschichte ist reizvoll und wird in dem vorliegenden Buch mit Liebe zum Detail, ansprechendem Kolorit und in klarer Sprache ins Werk gesetzt. Das Panorama der wilhelminischen Epoche und der Weimarer Zeit tritt durch gut ausgewählte Zitate und kulturhistorische Exkurse lebendig in Erscheinung und bietet einen stark konturierten Hintergrund für Einsteins Leben und Wirken in der Stadt zwischen 1914 und 1932. In vierzehn Abschnitten folgt der Autor seinem Protagonisten auf privaten und öffentlichen Pfaden, wobei die wissenschaftlichen Inhalte von Einsteins Arbeit nicht dominieren, jedoch verständlich und konzise umrissen werden. Schwerpunkte der Darstellung sind die verschiedenen Beziehungsgeflechte, in die Einstein während seiner Berliner Zeit eingebunden war: Familie, Fachkollegen, Weggefährten im öffentlichen und politischen Engagement sowie Freunde und Bekannte aus dem bildungsbürgerlichen und kulturschaffenden Berlin treten auf und werden erfreulicherweise nicht nur als Statisten und Stichwortgeber abgehandelt. Die verschiedenen Perspektiven auf Einstein ermöglichen dem Autor eine Schilderung, die dem eigenen Anspruch nach "realistisch und respektvoll" sein soll, was gelegentlich auf eine kritische Distanz hinausläuft, die vor dem Hintergrund der diesjährigen Einsteineuphorie durchaus angemessen ist.
Besonders deutlich wird dies auf dem heiklen Terrain der familiären Beziehungen Einsteins. Das problematische Verhältnis Einsteins zu seiner ersten Frau Mileva und seinen Söhnen wird ohne die anderswo häufig zu beobachtende Süffisanz geschildert, wobei Einstein (wie schon in anderen einschlägigen Biografien) in einem wenig günstigen Licht erscheint. Ein konservatives Frauenbild, prägend auch für die zweite Ehe mit Elsa, zahlreiche Affären und ein gelegentlich hervortretender Mangel an taktvoller Einfühlung werden ohne Beschönigungen dargestellt.
Doch lassen sich Vermittlungsebenen zwischen professionellen Lebensleistungen und privater Lebensführung nur schwer aufzeigen. In anderen Zusammenhängen begegnet der Leser bei der Lektüre von Goenners Darstellung einem ähnlichen Problem. Einsteins kenntnisreich geschildertes Engagement für Frieden, Menschenrechte und Zionismus kann nicht unmittelbar oder nur über verschlungene Pfade aus seinem Selbstverständnis als Wissenschaftler hergeleitet werden. Wenn Einstein von der Warte seines wissenschaftlichen Ruhmes aus als kritischer Intellektueller agiert, so ist der Darstellung Goenners zu Folge zwar viel humanitäre Gesinnung, aber nur wenig originelles oder gar analytisches Denken im Spiel. Das Politikverständnis Einsteins äußere sich in "unscharfen Gemeinplätzen" und "moralischen Argumenten". Er habe, so die zentrale These, "politisches Handeln nicht als Austragung von Interessenkonflikten" begriffen. Engagement im politischen Tagesgeschäft war Einsteins Sache tatsächlich nicht. Aber das ist ja auch nicht unbedingt der Anspruch kritischer Intellektueller, die dem eigenen Selbstverständnis zufolge aus der relativen Distanz die Überzeugungskraft ihrer Argumente zu schöpfen hoffen.
Der Autor verdichtet seine Beobachtungen zu einer These, welche die gesamte Darstellung durchzieht: Einsteins Genialität in der Physik zeigte sich in anderen Wirkungsbereichen nicht. "Vielleicht stellte Einstein sich vor", so Goenner, "dass die Leser seiner Aufrufe von diesen genauso überzeugt sein müssten wie Physiker, die seine wissenschaftliche Arbeiten studierten". Dass diese beiden Ebenen nicht unmittelbar aufeinander bezogen werden können, liegt zwar zunächst in der Sache selbst begründet, wird aber bei einer politik- und kulturhistorisch kontextualisierenden Wissenschaftlerbiografie auch zu einem Problem der Darstellung selbst. Vollends evident werden diese Vermittlungsprobleme bei der Schilderung des kulturellen Kontextes von Einsteins Berliner Jahren. Während sich vor dem Hintergrund einer als krisenhaft wahrgenommenen Moderne neue gestalterische Strömungen entfalteten, blieb Einsteins persönliches Verhältnis zur neuen Kunst und Musik konventionell und bieder. Er war damit unter seinen Kollegen keineswegs eine Ausnahme. Der Verlockung, sich einen Bezug zwischen der modernen Physik und der gestalterischen Moderne hinzubiegen, kann Goenner auf Grund seiner Befunde leicht widerstehen. Einstein hat - so kann man formulieren - ein Mozart-Universum gewollt, auch wenn ihm ein Schönberg-Universum serviert wurde. Er teilte wohl die politischen, jedoch kaum die ästhetischen Auffassungen der sich nach links orientierenden Avantgarde. Die Fehlanzeige ist hier - wenn man so will - das Signifikante an Goenners Befund. Die populäre Wahrnehmung, die Einstein - wenn nicht als Person, so doch zumindest als öffentliches Phänomen, als Symbol und Ikone - zur Kultur der Zwanzigerjahre zählt, lässt sich in dieser Darstellung nur anhand der prominenten Verkehrskreise des Physikers, d. h. der mehr oder weniger intensiven Kontakte zu anderen Berühmtheiten und anhand der damit einhergehenden Medienaufmerksamkeit erklären. Zur "Berliner Gesellschaft" gehörte Einstein weniger, weil er ihre Nähe gezielt gesucht hätte, sondern weil er dazu gezählt wurde. Er erregte Aufsehen, wo er sprach oder Veranstaltungen besuchte, "man" ließ sich gerne mit ihm sehen. Gelungen ist Goenners Schilderung vom Umgang Einsteins mit der Presse, vor der er sich im Gegensatz zu seinen Physikerkollegen nicht scheute und die er zur Verbreitung seiner humanitären und politischen Anliegen nutzte.
In wissenschaftlicher Hinsicht verstärkten die Berliner Jahre Einsteins Einzelgängertum. Gerade auf dem Gebiet der von ihm so skeptisch betrachteten Quantenmechanik spielten sich die bahnbrechenden Entwicklungen nicht mehr in Berlin ab. Forschungspolitische Führungsfunktionen nahm Einstein entgegen der Hoffnung der ihn protegierenden Kollegen wie Max Planck und Fritz Haber kaum wahr, Lehrtätigkeit und die Leitung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik wurden als Belastung empfunden.
Vor dem Hintergrund dieser von Goenner überzeugend dargelegten Sachverhalte stellt sich jedoch die Frage, ob die Stadt Berlin als Forschungszentrum und Kulturmetropole für Einstein nicht doch eher Kulisse als Inspiration war. Es gelingt dem Autor zwar, die Stadt in ihrer Erscheinung plastisch und genau darzustellen - ein großes Vergnügen übrigens für ortskundige Leser. Aber sie scheint bei Einstein eben keine territoriale Identität gestiftet zu haben, zumal er ihr in Krisenzeiten erleichtert und schließlich als Verfemter endgültig den Rücken zuwandte und auch nicht zurückkehrte, als dies wieder möglich war. Wirklich zu Hause fühlte sich Einstein offenbar nur als Freizeitsegler auf den Havelseen, und selbst diese waren, wenn man die Zeit der Emigration betrachtet, leicht durch die Gewässer vor Long Island oder die Seen im Norden des Staates New York zu ersetzen.
So bleibt zum Schluss die Frage, ob Hubert Goenners Ansatz einer Topo-Biografie von den Ergebnissen her mit seinen Intentionen oder den beim Leser geweckten Erwartungen immer zur Deckung gebracht werden kann. In der bloßen Gleichzeitigkeit oder räumlichen Nähe von übergeordneten kulturhistorischen Entwicklungen und individueller Lebensführung liegt nicht immer Sinnfälligkeit, was sich leider auch manchmal in der Struktur des Textes niederschlägt. Die Wechsel von einer Darstellungsebene zur nächsten erfolgen oft abrupt im Textfluss, d. h. auch unvermittelt in den konkreten Bezügen. Obwohl der Autor auch unbekannte Quellen lebendig sprechen lässt, verharrt er gelegentlich nicht lange genug bei den Zitaten. Sein Bild von Einsteins Leben und Wirken in Berlin ist im Urteil ausgewogen und facettenreich, aber auch collagehaft und mit erratischen Einschüben versehen. Dennoch macht die Parallelführung der Perspektiven die Lektüre angenehm kurzweilig. Sachlich zuverlässig bewegt sich Goenner als Kenner der Materie auf sicherem Terrain. Ein umfassender Apparat von Anmerkungen wurde vom Autor ins Internet verbannt, was insofern Sinn ergibt, als er Probleme und Tendenzen der Einsteinforschung nicht im Stil einer fachwissenschaftlichen Abhandlung diskutiert. Somit empfiehlt sich das Buch als instruktive und anregende Lektüre auch für ein breiteres Publikum.
Hubert Goenner: Einstein in Berlin 1914-1933, München: C.H.Beck 2005, 368 S., 14 Abb., ISBN 978-3-406-52731-9, EUR 22,90
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