Das Heilige Grab der Jerusalemer Grabeskirche ist eine der zentralen Stätten der Christenheit, weil es - so die christliche Tradition - als leer aufgefundene Ruhestatt des Leichnams Jesu Christi das historische Beweisstück für dessen Auferstehung darstellt. Diesen gnadenreichen Ort, an dem sich die christliche Heilsbotschaft in ihrem Wesenskern erfüllte, ließ Kaiser Konstantin der Große nach dem Konzil von Nizäa im Jahre 325 im Rahmen seines religionspolitischen Bauprogramms aus dem Felsen lösen und architektonisch überformen. Die Heilig-Grab-Kapelle, die das Felsengrab Christi mitsamt der Grabbank, in der man die Ruhestatt des Leichnams sah, in sich barg, ist seit dem vierten Jahrhundert zu einem wichtigen Pilgerziel von Gläubigen aus aller Welt geworden. Auf Grund ihrer kultischen Bedeutung hat die Kapelle eine wechselvolle Baugeschichte unter verschiedenen Herrschaften hinter sich, die im Laufe der Zeit vielfache Zerstörungen, Plünderungen und anschließend verändernde Wiederherstellungen, ja sogar ihren vollständigen Neubau mit sich brachte. Diese kontinuierliche Abfolge von architektonischen Umgestaltungen bei anfänglich spärlichem Quellen- und Abbildungsmaterial bereitet der Forschung insbesondere bei der Rekonstruktion der frühen Heilig-Grab-Kapelle Schwierigkeiten. Ab der zweiten Hälfte des zweiten Jahrtausends ändert sich freilich die Quellenlage, sodass die Forschung sowohl über die Heilig-Grab-Kapelle selbst als auch über deren Nachbauten in Mitteleuropa besser unterrichtet ist.
Den Nachbauten des Heiligen Grabes zu Jerusalem, die auf Grund des Wunsches der Gläubigen, die im Heilgeschehen herausragende Stätte in der eigenen Heimat verehren zu können, entstanden sind, widmet sich diese Arbeit. Michael Rüdiger hat seinen Schwerpunkt auf die Heilig-Grab-Nachbauten aus der Zeit der Gegenreformation und des Barock gesetzt. In dieser Zeit - so lautet seine Kernthese - sei im Zuge der katholischen Restauration die alte Tradition der architektonischen Devotionalkopie in vielen katholisch gebliebenen oder rekatholisierten Gegenden Mitteleuropas wieder belebt und zur Blüte gebracht worden. Auf Grund dieser zeitlichen Fokussierung widmet Rüdiger der Baugeschichte des Heiligen Grabes nach 1555, als in Jerusalem ein von Grund auf neuer Kapellenbau entstand, der fast allen barocken Devotionalkopien als Vorlage diente, ein eigenes Kapitel (27-38). Die diesem Bau vorangehende wechselhafte Baugeschichte rekapituliert er dagegen nur in knapper, aber übersichtlicher Form (9-18).Wichtiger Bestandteil des Kapitels ist die eingehende Baubeschreibung und das genaue Aufmaß der Kapelle des Heiligen Grabes zwischen 1555 und 1808, die auf einigen wenigen, zum Teil widersprüchlichen Quellen fußt. Rüdiger benennt im Laufe der Beschreibung die bestehenden formalen Unklarheiten, vermag diese aber mit dem Verweis auf eine benötigte baumonografische Studie (28) nicht bis ins Detail zu klären.
Die Frage nach den Vorlagen und den Vorbildern (39-57), an die sich die jeweiligen Baumeister der Heiliggrab-Nachbauten gehalten haben, hat beachtenswerte Ergebnisse erbracht. Am meisten erstaunt, dass die zeitgenössischen Publikationen zum Heiligen Grab, allen voran der bekannte 'Trattato' Bernardo Amicos aus dem Jahre 1609, der den Baumeistern detailliertes Planmaterial zur Verfügung stellte, nicht als unmittelbare Vorlage gedient haben. Stattdessen orientierte man sich nachweislich an bereits bestehenden Heiliggrab-Kopien, vor allem wenn diese als besonders authentisch galten, und / oder an hölzernen Miniaturnachbildungen, die in Jerusalem und Bethlehem als Devotionalien vertrieben wurden. Dieses Vorgehen liefert sowohl für die Unterschiede in der Form der Nachbauten-Details eine Erklärung als auch für die immer wiederkehrende Überlieferung von fachmännischen Zeichnungen und / oder Abmessungen des Jerusalemer Originals, die von Rüdiger ohne Ausnahme als unhaltbar beurteilt worden sind und deren Zweck darin lag, die Authentizität der betreffenden Architekturkopie zu bestätigen.
Der Hauptteil (58-144) fasst die Ergebnisse des zugunsten der Lesbarkeit im hinteren Teil angehängten Bautenkatalogs (177-244) in übergreifenden Fragestellungen zusammen. Während das Augenmerk der bisherigen Forschung (9-19) vornehmlich der Bauanalyse der Kopien und deren formaler Beziehung zum Original galt, geht der Autor mit den Fragen nach der territorialen Verbreitung und dem zeitlichen Auftreten der Nachbildungen (76-78) einen Schritt weiter. Auch das genauere Eingehen auf den Entstehungskontext der Heilig-Grab-Nachbauten (119-131) erscheint sinnvoll, da die Hälfte aller barocken Nachbildungen fester Bestandteil einer Jerusalemanlage, eines Kalvarienberges oder einer Stationsfolge auf Passions- und Kreuzwegen waren.
Der angehängte Bautenkatalog (177-244) umfasst 94 erhaltene und überlieferte Heiliggrab-Nachbauten aus Süddeutschland, Österreich, Böhmen, Polen, Ungarn und der Schweiz, was bereits auf Grund der zu überwindenden Sprachbarrieren für eine außerordentliche Leistung spricht. Die Bauten sind in alphabetischer Reihenfolge und innerhalb dieser Abfolge zum größten Teil ihrem deutschen Namen nach aufgelistet. Jeder einzelne Bau wurde vom Autor in einer knappen Baubeschreibung darauf überprüft, ob er abgesehen von den in Quellen überlieferten Zuweisungen als authentische Heiliggrab-Kopie auch einige der dafür typischen Gestaltungsmerkmale aufweisen kann. Jene Bauten, die dieser kritischen Überprüfung nicht standhalten konnten, wurden in einem gesonderten Kapitel zusammen mit den ungesicherten Überlieferungen als falsche Zuweisungen aufgeführt (245-255). Der Katalog, der die gesamte Bandbreite von anspruchsvollen bis sehr simplen Architekturkopien umfasst, gibt jenseits der meist unbewertet belassenen Bauanalyse Informationen über die Lage und den Kontext, in dem die Nachbauten entstanden sind, und - sofern vorhanden - über die Datierung und den Stifter. Jedem Bauwerk ist je eine Abbildung zugeordnet, die es leider nicht immer vermag, das im Wortlaut Beschriebene zu veranschaulichen.
Wegen der neuen Forschungsansätze ist vor allem das Kapitel über die Auftraggeber (97-116) beachtlich. Es gibt Aufschluss darüber, dass die meisten Nachbildungen auf Betreiben der reformierten Ordensgemeinschaften der Franziskaner entstanden sind, die in ihrer Funktion als Hüter und Pfleger der Heiligen Stätten im Heiligen Land auch Sorge für die Errichtung von Nachbildungen in Europa trugen (18). Aber auch die Ordensgemeinschaften der Kapuziner sowie die Gesellschaft Jesu taten sich hervor, indem sie Gläubige zu Stiftungen bewogen. Es ist bemerkenswert, dass die meisten Heiliggrab-Kapellen Stiftungen des Adels sind und die Stifter in den Ländern unter habsburgischer Herrschaft zum größten Teil zu den Spitzen von Staat und Gesellschaft gehörten. Einige von ihnen zeichneten sich als engagierte Gegenreformatoren aus, was wiederum Rüdigers Kernthese bestätigt. Die meisten von ihnen fühlten sich vor allem dem Hause Habsburg verpflichtet, das sich wiederum als legitimer Schutzherr des Heiligen Landes und seiner biblischen Stätten verstand (114). Die Tatsache, dass Rüdiger diese einzelnen aus dem Quellenstudium gewonnen Erkenntnisse in größere Zusammenhänge stellt, ist das wichtigste Verdienst dieses Buches.
Michael Rüdiger: Nachbauten des Heiligen Grabes in Jerusalem in der Zeit von Gegenreformation und Barock. Ein Beitrag zur Kultgeschichte architektonischer Devotionalkopien, Regensburg: Schnell & Steiner 2003, 276 S., 114 s/w-Abb., ISBN 978-3-7954-1600-3, EUR 66,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.