Die Kybernetik prägte in entscheidendem Maße die Diskussionen der 1950er- und 1960er-Jahre um die einheitlichen Grundlagen der Wissenschaften, die Norbert Wiener, der gemeinhin als Begründer der Kybernetik gilt, in den Regelungs- und Informationsprozessen verortete. Der vermeintliche Skandal seiner universal angelegten Regelungskunde bestand in der funktionalen Gleichsetzung von lebenden und technischen Systemen, die den Status des Menschen einmal mehr infrage stellte. Die Kybernetik erfährt in den Medienwissenschaften und in der Wissenschafts- und Technikgeschichte eine neue Aufmerksamkeit, die sich vor allem den paradigmatischen Schriften Norbert Wieners zuwendet, der 1948 mit seiner Abhandlung "Cybernetics" für einen Paukenschlag in der Wissenschaftslandschaft sorgte. Die aktuelle Rezeption der Kybernetik folgt dabei zwei gänzlich unterschiedlichen Erkenntnisinteressen. Das ist zum einen eine Analyse, die die sozialen, technischen, epistemischen und kulturellen Kontexte frei legt und damit die Kybernetik als ein historisches Ereignis interpretiert, zu dem eine entsprechende analytische Distanz besteht. Zum anderen gibt es eine Rezeptionslinie, die das kybernetische Wissen affirmativ als Steinbruch heutiger Methoden- und Theoriediskussionen nutzt, sich also gleichsam in der Kybernetik selbst verortet.
Stefan Rieger lässt sich leicht dem Lager der Letztgenannten zuordnen, geht es ihm doch um eine radikale Restitution der Kybernetik, die in eine kybernetische Anthropologie mündet, die nichts weniger als die Einheit des Wissens zum Ziel hat. Die anthropologische Letztbegründung, die Rieger anstrebt, rückt die Konzepte der Virtualität, der Regelung und der Komplexität in das Zentrum seiner Argumentation. Diese drei Kernkonzepte, die er in der Kybernetik ausformuliert findet, bestimmen die conditio humana.
Das Konzept der Virtualität verweist bei ihm keineswegs auf die Simulation von sozialen und natürlichen Prozessen mithilfe algorithmischer Prozeduren, die dem Computer überantwortet werden, sondern meint die Zukunftgerichtetheit des Menschen, die diesen als Entwurf konstituiert. Die offene Zukunft des Menschen wird an das kybernetische Wissen von Regelungsvorgängen und den statistischen Gesetzmäßigkeiten von Zeit gekoppelt. Der Weltbezug des Menschen ist abhängig von seiner vitalen Verfasstheit als wahrnehmendes, gestalterkennendes Wesen, das den Zwängen automatisierter Regelungsvorgängen unterliegt, die das Bewusstsein außer Kraft setzen. In seiner automatisierten Motorik und visuellen Abhängigkeit ist er zunächst nichts anderes als eines unter vielen zielgerichteten Systemen, die den Gesetzmäßigkeiten der Kybernetik gehorchen. Insofern macht es für Stefan Rieger wie auch schon für Norbert Wiener keinen Unterschied, ob Menschen mit ihren Händen nach Bleistiften greifen, oder Flugabwehrgeschosse Flugzeuge vom Himmel holen (zwei immer wieder erwähnte Beispiele zielgerichteten Verhaltens). Anders jedoch als die informationsverarbeitenden Maschinen der KI-Forscher kann der Mensch aufgrund seiner Vitalität seine Zukunft im Reich der Fantasie entwerfen, was die eigentliche Mensch-Maschinen-Differenz ausmachen soll.
Riegers Konzept der Virtualität ermöglicht es ihm, die Medienwissenschaften in eine kybernetische Anthropologie aufgehen zu lassen, die nicht mehr nach den medialen Inhalten und sozialen Kontexten fragt, sondern das Bild als lebens- und überlebensnotwendige Matrix des Menschen ansieht.
In all diesen Falten von Repräsentation, Wahrnehmung, Bewegung und Informationsverarbeitung nistet sich mit der Kybernetik das Konzept der Komplexität ein, deren Bestimmung und Definition allerdings vage bleibt. Folgt man Riegers Argumentation, handelt es sich um ein mathematisches Apriori, das im kybernetischen Wechsel von analogen zu digitalen Repräsentationen sowie von einfachen zu partiellen Differenzialgleichungen ablesbar wird. Kybernetik kann so als eine Wissenschaft von Komplexität definiert werden, die sowohl den Menschen als auch komplexe soziale Systeme und chaotische Zustände der Natur umfasst und damit, wie auch schon die Regelungsprozesse, das Unbewusste ganzer Episteme bildet. Damit ist die Kybernetik als Episteme auf sich selbst anwendbar und verwandelt sich, so wie es Heinz v. Foerster und Niklas Luhmann schon ausformuliert haben, in eine Kybernetik zweiter Ordnung, in eine Wissenschaft des Wissens. Das Apriori der Mathematik wird von Rieger später jedoch dementiert, indem er Michel Foucaults Einschätzung von der Mathematik als reines epistemisches Oberflächenphänomen bejaht (280 f.). Ein Widerspruch der nicht aufgelöst wird.
Als Historiker ist es schwierig, eine doch eher philosophische Abhandlung mit Universalanspruch zu beurteilen. Immerhin verweist der Untertitel der kybernetischen Anthropologie auf die Geschichte der Virtualität, die tatsächlich die erste Hälfte des Buches ausmacht und die oben vorgestellten Hauptthesen unterstützen soll. Der Gang durch die kybernetische und protokybernetische Geschichte erweist sich für den Leser als ein Gang durch ein unsystematisches Labyrinth. Vom Abtastverfahren der Fernsehtechnik über Thomas Pynchons Roman "Die Enden der Parabel" zu den üblichen Verdächtigen der kybernetischen Prominenz (Karl Steinbuch, Claude Shannon et al.) landet jeder Exkurs bei Norbert Wiener. Die von Rieger so sehr verachtete Suche der von ihm angegriffenen Wissenschafts- und Technikgeschichtsschreibung mit ihren seriellen Listen und Abfolgen von Innovationen, Entdeckungen und Erfindungen erfährt hier eine erstaunliche Hypertrophie. Rieger zieht genau jene Urszenen, Listen und Protagonisten herbei, die er so vehement ablehnt. Wissenssoziologische oder gar biografische Fragestellungen interessieren ihn dabei ebenso wenig, wie eine Kontextualisierung von Prozessen historischer Wissensproduktion. Gereinigt von aller Kontextualität und soziologischer Historisierung scheint in der Kybernetik eine neue Denkform der Komplexität auf, die als eine Ordnung des Wissens die oberflächlichen Formen gesellschaftlicher Praxis strukturiert. Ganz der Tradition der Analyse von Denksystemen des frühen Foucaults verhaftet, verhindert Riegers Ontologisierung der Kybernetik einen offenen Blick auf die Konsequenzen des kybernetischen Denkens im Gefüge der Macht. Die an Foucault anschließenden Gouvernementalitätsanalysen haben demgegenüber sehr genau die Effekte analysiert, die z. B. das kybernetische Kernpostulat von der Selbstregulation der Systeme auf die Neubestimmung des guten Regierens und der zeitgenössischen Ökonomie hervorgerufen hat. [1] Dass Einwände und Kritik an der Kybernetik dabei ausgespart werden, ist nur konsequent, denn der historische Zick-Zack-Kurs folgt immerhin einem Ziel: die Restitution der Kybernetik als universale Wissenschaft. Für die professionelle Geschichtsschreibung ist eine solche affirmative, unkritische Erzählung zumindest fragwürdig; aus Geschichte wird bei Rieger Teleologie.
Gerade der historische Teil der kybernetischen Anthropologie hätte das Interesse "normaler Historiker" am Gegenstand Kybernetik wecken können. Die pauschale Polemik gegen die Geschichtswissenschaft verhindert dies jedoch ebenso wie die Beliebigkeit der angeführten Beispiele. Dass der Autor zu erheblichen Redundanzen und Wiederholungen neigt und sich eines effekthaschenden Sprachstils bedient, macht es für den Leser nicht einfacher, Riegers Argumentation zu folgen.
Auch wenn den Philosophen ein Kommentar zur anthropologischen Dimension des vorgestellten Buches eher zustehen würde als einem Historiker, soll dieser hier nicht ausbleiben. Ganz im Schatten Foucaults verneint Rieger die Autorschaft der von ihm herbeizitierten Stimmen, die er nur noch als Agenten der Episteme sieht, die durch jene sprechen. Nichts an all den protokybernetischen Zeugnissen verweist auf eine historische Kontingenz, sondern folgt einer zwingenden Logik der Episteme. Die Geschichte der Virtualität hätte dann mit der Kybernetik ihr Ziel erreicht. Die von Rieger beschworene Offenheit der conditio humana wäre in ihrer kybernetischen Letztbegründung nur ein schöner Schein. Erneut ließe sich das Klagelied vom Tod des Menschen und dem Ende der Anthropologie anstimmen.
Anmerkung:
[1] Richard Schwarz (Hg.): Jacques Donzelot / Denis Meuret / Peter Miller / Nikolas Rose: Zur Genealogie der Regulation. Anschlüsse an Michel Foucault, Mainz 1994. Ulrich Bröckling / Susanne Krasmann / Thomas Lemke (Hg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen, Frankfurt a. M. 2000.
Stefan Rieger: Kybernetische Anthropologie. Eine Geschichte der Virtualität, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2003, 555 S., ISBN 978-3-518-29280-8, EUR 18,00
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