Woher kommt Palästina? Anfang des 19. Jahrhunderts war es vor allem ein bibelgeschichtliches Motiv. Im Laufe der folgenden einhundert Jahre schrieb die europäische Palästinaforschung diesen Text dem Territorium im Nahen Osten ein, und trug damit maßgeblich zu seiner konkreten Gestaltwerdung bei. Diesen Transformationsprozess von Text zu Land untersucht Markus Kirchhoff, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leipziger Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur, in seiner Dissertation.
Die Studie geht über das im Titel angekündigte Thema weit hinaus. Erörtert wird nicht nur Palästina als Thema von Wissenschaft, Religion und Politik, sondern auch die Vorgeschichte und Entwicklung des palästinakundlichen Diskurses. Dafür vergleicht Kirchhoff die bedeutendsten Institute der Palästinaforschung, den britischen Palestine Exploration Fund (PEF) und den Deutschen Palästina-Verein (DPV). Von der beginnenden Institutionalisierung der im ausgehenden 19. Jahrhundert (Gründung des PEF 1865) blickt Kirchhoff zurück auf die methodischen und politischen Grundlagen der Palästinaforschung im 18. Jahrhundert. Er bietet ebenso einen Ausblick auf die Jahre nach der Konstituierung der Region Palästina unter britischem Mandat seit 1920.
Den Auftakt der Arbeit bildet eine Gegenüberstellung der für das europäische Selbstverständnis des 19. Jahrhunderts (aufs Neue) bedeutsamen Bezugssysteme der klassischen griechischen Antike und der biblischen Vergangenheit, repräsentiert durch Athen und Jerusalem (Kap. 1). Basistexte des kulturellen Gedächtnisses, Homer und die Bibel, standen durch die Methode der historischen Kritik auf dem Prüfstand. Um Klarheit zu erlangen, bezog die wissenschaftliche Auseinandersetzung nun über die Texte hinaus auch die materiellen Sachverhalte mit ein. Im Fall Griechenlands verankerten Geografie, Kartografie und Archäologie literarische Motive in einer realen Landschaft, die durch ihren literarischen Gehalt als Erinnerungstopografie wiederum aufgewertet wurde (Kap. 2). Die taktischen Erwägungen der europäischen Mächte, die 1830 über die Unabhängigkeit Griechenlands entschieden, betrafen daher auch einen Bestandteil ihres eigenen kulturellen Erbes. Wurde ein so semantisiertes Territorium zum Spielball der Politik, konnten wissenschaftliche Erkenntnisse Argumente liefern. Die politische Auseinandersetzung um den Status Palästinas bis 1920 machte aufgrund ihrer religiösen Implikation noch deutlicher als im Fall Griechenlands davon Gebrauch. Die beteiligten Großmächte verfolgten entsprechend ihrer religiös-traditionellen Sicht auf Palästina unterschiedliche Ziele, die sich nach der Institutionalisierung der Palästinaforschung auch in der nationalen Eigenart der wissenschaftlichen Erschließung der Region abbilden sollten.
Im Laufe der andauernden Verhandlungen etablierten sich seit den 1830er-Jahren diplomatische, religiöse und kulturelle Einrichtungen der europäischen Länder in Jerusalem. Sie boten eine Basis für die Erforschung Palästinas und ihrer Koordination vor Ort. Besonders die protestantisch initiierten und dominierten, neu gegründeten Vereine für Palästinakunde, der PEF (gegründet 1865), die American Palestine Exploration Society APES (1871) und der DPV (1877), nutzten diese Möglichkeit (Kap. 3). Katholische, orthodoxe und jüdische Interessen traten demgegenüber (noch) zurück. Die Vereine waren private, bürgerliche Unternehmungen, welche die Erforschung Palästinas als Beitrag zum Verständnis der Bibel begriffen, sich trotz dieses traditionellen Interesses aber neuester wissenschaftlicher und technischer Methoden bedienten. Ihre finanzielle Abhängigkeit von privaten und staatlichen Mitteln erforderte eine ansprechende Darstellung von Arbeitsvorhaben und -ergebnissen in Monografien und eigenen Zeitschriften.
Während die amerikanische APES als Verein von Theologen und Klerikern die Palästinaforschung als bibelapologetisches Programm aufbaute, begeisterte der britische PEF mit - oft populärwissenschaftlichen - Publikationen Mitglieder aller Berufsgruppen und Gesellschaftsschichten. Die erschöpfende Kenntnis Palästinas zur Illustration der Bibel, vor allem durch archäologische Grabungen, wurde als nationale Aufgabe verstanden (Kap. 4). Den hochgesteckten Erwartungen konnten die Archäologen nicht immer gerecht werden, denn die Erde Palästinas gab keine spektakulären Kunstschätze frei. Der wissenschaftliche Blick auf die Gesamtheit des Landes erwies sich auf längere Sicht als erfolgreicher. Die geologische Landeskunde, in ihrer Folge die Kartografie, ließ Palästina als abgeschlossenes Territorium mit historischer Identität sichtbar werden: Durch die Lokalisierung biblischer Orte wurde der biblische Bericht selbst verifizierbar. Die Struktur und die Grenzen des Landes erschienen dadurch historisch gerechtfertigt (Kap. 5). Die Region samt ihrer indigenen Bevölkerung erschien den Forschern dabei als seit biblischer Zeit konserviertes Geschichtsmuseum. Während die Briten aus ethnografischen Datensammlungen direkt auf die biblische Vergangenheit schlossen, äußerten sich deutsche Wissenschaftler zurückhaltender (Kap. 6 und Kap. 8). Der DPV betonte viel stärker als die Briten den Anspruch der Objektivität einer von ihnen betriebenen, philologisch fundierten, historisch-kritischen Bibelkunde. Es ging um historische Ursprünge, der Nachweis einer Kontinuität zur gegenwärtigen Erscheinung Palästinas spielte kaum eine Rolle. Für den Zionismus der Jahrhundertwende erwies es sich jedoch als entscheidend, ob man von einer Fortdauer biblischer Verhältnisse ausgehen konnte. Sollten Angehörige des jüdischen Volkes seit biblischer Zeit ansässig gewesen sein, so konnte eine Ansiedlung der europäischen Juden als folgerichtig erscheinen. Obwohl sich die europäischen palästinawissenschaftlichen Gesellschaften politischer Stellungnahmen zu enthalten suchten, wurden die Ergebnisse der Palästinaforschung von jüdischer Seite allgemein als positiver Beitrag zur zionistischen Bewegung verstanden (Kap. 7). Gegenwartsbezogene Aspekte der Landeskunde konnten in die Siedlungsplanungen einfließen, Einsichten in die Vergangenheit Palästinas halfen neuen Siedlern bei der Identifikation mit der Region. Mit der britischen Mandatsherrschaft wurde das Land Palästina selbst zum idealen Ort der Palästinaforschung, an der nun auch Vereine jüdischer Gelehrter teilhatten.
Dieser kurze inhaltliche Abriss kann den Detailreichtum von Markus Kirchoffs Studie und die methodische Durchdringung des Materials nur unzureichend wiedergeben. Der Autor hat sich mit Erfolg dem Wagnis der Interdisziplinarität gestellt und bietet fundierte forschungsgeschichtliche Einsichten in so unterschiedliche Disziplinen wie Politik- und Religionswissenschaft, Archäologie, Geologie und Ethnografie. Experten der einzelnen Fächer werden bei der Lektüre an Möglichkeiten zur Ergänzung denken. Da Kirchhoff selbst den Vergleich mit Griechenland vorschlägt, könnte ein Blick auf den politischen und publizistischen Kontext der deutschen Olympia-Grabung seit 1875 von Interesse sein. [1] Auch die Diskrepanz zwischen dem methodischen Anspruch der deutschen Palästinawissenschaft und ihrer Editionspraxis für vormoderne Quellen verdient eine genauere Erörterung (Gelehrte wie Titus Tobler oder Reinhold Röhricht pflegten Texte mit religiöser Konnotation häufig zu "neutralisieren"). Wer zukünftig solche Fragen zu klären versucht, wird auf die Lektüre von Kirchhoffs Buch auf keinen Fall verzichten dürfen.
Anmerkung:
[1] H. Kyrieleis (Hg.): Olympia 1875. 125 Jahre deutsche Ausgrabungen, Mainz 2002, insb. die Beiträge von B. Sösemann, R. vom Bruch, T. Kalpaxis, L. Klinkhammer und S. Marchand.
Markus Kirchhoff: Text zu Land. Palästina im wissenschaftlichen Diskurs 1865-1920 (= Schriften des Dubnow-Instituts; Bd. 5), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2005, 425 S., 13 Abb., ISBN 978-3-525-36983-8, EUR 49,90
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