Auf die Frage nach dem Menschen Wolfgang Amadé Mozart geben die wenigen überlieferten Porträts nur eine unbefriedigende Antwort. Umso lebendiger tritt er uns in seiner Korrespondenz vor Augen, ist doch von kaum einem Musiker des 18. Jahrhunderts eine derartig große Anzahl an Briefen erhalten geblieben. Besonders gut dokumentiert ist die Reise der Jahre 1777 bis 1779, da der Sohn im regen Briefkontakt mit dem in Salzburg verbliebenen Vater Leopold stand. Diese weit über eine bloße Reisedokumentation hinausgehenden Quellen gewähren Einblicke in Mozarts Persönlichkeit und sein Künstlerselbstverständnis und bilden vor allem die Grundlage zu psychologischen Analysen der Beziehung zwischen Vater und Sohn. Darüber hinaus besitzen die Briefe einen literarischen Wert, da Mozart sich als ein brillanter Schriftsteller erweist.
Die Reise, die Mozart zunächst nach Mannheim und dann nach Paris führte, markiert im Leben des 22jährigen die Schwelle zum Erwachsenenalter. Ähnlich wie Volkmar Braunbehrens es mit Mozarts Wiener Zeit getan hat, beleuchtet Ulrich Drüner die Reise der Jahre 1777 bis 1779 neu, um auch den jungen Mozart vom Klischee des naiven, alltagsuntauglichen Genies und unverstandenen Künstlers zu befreien. [1] Man fragt sich nur, warum der Autor mehrfach auf den Vergleich zwischen Leopold Mozart und der Figur des Komturs aus "Don Giovanni" zurückgreift, was ja dem Vorhaben geradezu entgegensteht.
Die Studie zeigt vor allem, dass Mozart während der Reise in menschlicher und künstlerischer Hinsicht einen tiefgreifenden Wandel vollzog, dass sich aber auch seine Stellung in Salzburg deutlich verbesserte: Hatte doch der Erzbischof Mozart gebeten zurückzukehren, um das Hoforganistenamt zu übernehmen. Dabei sollte er immerhin das Dreifache seines vorigen Gehaltes verdienen. Auch erfüllte sich Mozarts leidenschaftlicher Wunsch nach einem Opernauftrag: Kurfürst Karl Theodor, der ihn aus Mannheim kannte, gab für den Münchener Hof die Oper "Idomeneo" in Auftrag, die Mozart einen großen Erfolg bescheren sollte. Diese Oper wie auch die anderen Werke, die Mozart nach der Reise schuf, unterscheiden sich in ihrer herausragenden Qualität derart von allem Vorangegangenen, dass Drüner von einem Sprung in Mozarts Entwicklung spricht (13). Auf der Reise - so lautet die These - sind Mozarts musikalische Fähigkeiten zu höchster Vollendung gereift. Im Bewusstsein der eigenen künstlerischen Leistung geht damit eine Entwicklung Mozarts zur Selbständigkeit einher, sodass diese Zeit als die entscheidende in seinem Leben bewertet werden muss.
Diese Entwicklung gilt es anhand der Briefe im Reiseverlauf nachzuvollziehen. Der erste der drei Teile des Buches behandelt die Hinreise und den fünfmonatigen Aufenthalt in Mannheim, der als wichtige Station in der musikalischen Entwicklung Mozarts bekannt ist. Die hier komponierte sogenannte "Cannabich-Sonate" KV 309 (284b) ist eine der ersten großen Klaviersonaten von Mozart. Drüner sieht darin ein Schlüsselwerk, da Mozart hier zum ersten Mal ausdrücklich persönliche, durch die Widmungsträgerin Rose Cannabich ausgelöste Empfindungen zu Gehör bringt. Dass die Entstehung zeitlich genau mit dem Verfassen der berühmten "Bäsle-Briefe" zusammenfällt, wertet Drüner als erstmaligen Beleg für Mozarts aus seiner Wiener Zeit bekanntes Kompensationsverhalten. Es handelt sich dabei um ein kreativitätspsychologisches Phänomen, das auch von anderen Komponisten bekannt ist: Die für die extreme künstlerische Leistung aufgebaute schöpferische Anspannung wird in ausgelassener Albernheit und Unsinn abgebaut. Leopold Mozart reagierte auf das veränderte Verhalten seines Sohnes bekanntlich mit Unverständnis und Vorwürfen.
Drüner versteht die zunehmende Entfernung zwischen Vater und Sohn als ein weiteres Argument dafür, dass Mozart einen bedeutenden Entwicklungsschritt vollzogen hatte. Er besaß nun ein neues Bewusstsein von sich selbst als herausragender Komponist, und bei den steigenden Ansprüchen an seine Musik konnte er auf die Vorschriften des Vaters keine Rücksicht mehr nehmen. Auch findet Drüner in dieser Zeit zum ersten Mal dokumentiert, dass eine besondere Stresssituation, in diesem Fall durch die Auseinandersetzung mit dem Vater hervorgerufener emotionaler Druck, in hohem Maße Mozarts schöpferische Kräfte anregt - wiederum ein Phänomen, das Mozarts Schaffen in späterer Zeit kennzeichnet.
Bei der Analyse des Parisaufenthaltes im zweiten Teil verdeutlicht Drüner, dass Mozarts Urteile über Berufskollegen, die sich in direkter Konkurrenz zu ihm befanden, häufig sehr subjektiv gefärbt sind. Der oftmals ungeschickte Umgang mit Musikern aus seinem Umfeld wurde Mozart als Arroganz ausgelegt und wird heute als ein Ergebnis von Leopolds Erziehung zur Unselbständigkeit gesehen. Mozart gereichte dieses Verhalten bei seinen Bemühungen um eine Stelle als Hofkapellmeister zum Nachteil, in Paris ebenso wie schon in Mannheim und wie später in Wien. Rückblickend hält Drüner fest, dass Mozart erst spät sein Verhalten geändert und die zur Leitung eines Orchesters notwendigen Fähigkeiten entwickelt habe. Der Vorwurf einer Fehleinschätzung durch Mozarts Zeitgenossen sei demnach nicht gerechtfertigt. Drüner weist nach, dass Mozart zum Zeitpunkt seiner Abreise aus Paris bereits begonnen hatte, dort als freier Künstler, wie später in Wien, Fuß zu fassen. Ein Angebot als Hoforganist in Versailles lehnte Mozart ab. Vor allem entstand eine Reihe von herausragenden Werken, die mit seinen früheren Kompositionen nicht mehr vergleichbar sind. Mozart war sich dessen bewusst, denn er schrieb an den Vater: "Ich versichere sie, daß mir diese reise nicht unützlich war - in der Composition versteht es sich" (161). Als Hauptgrund dafür, dass Mozart unter diesen Umständen den Aufenthalt in Paris so früh abbrach, erscheint Drüner das Bedürfnis, dem Vater wieder näher zu kommen.
Auf dem Rückweg - Gegenstand des dritten Teils - findet die enttäuschende Wiederbegegnung mit Aloisia Weber in München statt, die ebenso wie der Tod von Mozarts Mutter in Paris zum Bild des Misserfolges dieser Reise beigetragen hat. Die Abweisung durch Aloisia ist brieflich nicht belegt, wohl aber eine tiefe psychische Krise Mozarts. Drüners Vermutung, die Vorwürfe des Vaters hätten Mozart derart niedergeschlagen, wird durch einen vermittelnden Brief von dem Flötisten und Mozarts Freund Becke an den Vater Leopold gestützt. Die Reise gipfelt Drüners Ansicht nach darin, dass Mozart sich vor seiner Rückkunft gegenüber dem Vater als eigenständige Persönlichkeit und selbstbewusster Künstler Respekt verschafft.
Mit diesem Buch liegt erstmals eine eingehende Untersuchung der "Großen Reise" vor. Es gelingt Drüner überzeugend darzulegen, dass die Reise trotz aller Schwierigkeiten für Mozart eine Bereicherung war. Durch die häufigen, zum Teil sogar mehrfachen Wiederholungen zieht sich die Lektüre manchmal etwas in die Länge, auch an den Stellen, wo der Autor allzu ausführlich auf Details aus Mozarts Wiener Zeit eingeht. Unverzichtbar sind aber die ausführlichen Briefzitate als Ausgangspunkt und Grundlage der Studie. Insgesamt leistet das Buch einen aufschlussreichen Beitrag zur wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Mozart.
Anmerkung:
[1] Volkmar Braunbehrens: Mozart in Wien, München 1986.
Ulrich Drüner: Mozarts Große Reise. Sein Durchbruch zum Genie 1777-1779, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2006, 247 S., ISBN 978-3-412-34805-2, EUR 24,90
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