sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8

Ernst Seidl (Hg.): Lexikon der Bautypen

'Auf nichts hat man so sehnsüchtig gewartet wie auf ein Lexikon der Bautypen', das wäre angesichts dieser grandiosen Idee ein vielleicht nicht allzu übertriebener Ausruf. Allemal erstaunlich ist, dass es ein Lexikon dieser Art - ein Lexikon der Baufunktionen und der damit einher gehenden typischen architektonischen Gestalten - bisher nicht gab, im Gegensatz zu den diversen Lexika der Baustile.

Die Idee des Aufbaus ist so einfach wie einleuchtend: man nehme sich nach dem Vorbild historischer Wörterbücher möglichst alle Bautypen von A (Abort) bis Z (Zwinger) vor, gehe jeweils auf die Etymologie ein, um anschließend die historische und soziale Verortung der betreffenden Baufunktion und die mit ihr korrelierende, sich wandelnde Gestalt anhand beispielgebender Realisierungen zu skizzieren und den Artikel mit einschlägigen Literaturhinweisen abzuschließen. Dem folgt insgesamt ein Anhang mit weiteren architekturtheoretischen Arbeiten und Nachschlagewerken. Voilà. Angesichts der Originalität der Idee und ihrer Sinnfälligkeit fällt eine Rezension leicht: die Stärken sind automatisch mit der Publikation gegeben; die Schwächen fallen demgegenüber nicht ins Gewicht. Dennoch seien Details verraten und Anspruch und Gelingen abgewogen.

Der Band beginnt mit einem Vorwort, in dem Ernst Seidl auf die weitere Besonderheit des handlichen Reclam-Buches aufmerksam macht: die Artikel sind von Studierenden (des Kunsthistorischen Instituts der Uni Tübingen) verfasst. Zugleich wird die Kernproblematik des Vorhabens angesprochen: was unter 'Bautyp' zu verstehen sei, ist architekturtheoretisch keineswegs geklärt. Das komplexe Phänomen Architektur ordnet sich ganz anders, wenn man es statt unter dem Aspekt des Baustils unter dem des Bautyps erfasst. Drei Vorschläge werden gemacht: Das Bautypen-Lexikon will erstens "Bauaufgaben erfassen, die als Typus [...] wahrgenommen werden"; zweitens insbesondere die, welche "sich über ihre Funktion unter jeweils ganz konkreten historischen Bedingungen herausgebildet haben"; drittens "zumindest" die, welche "durch einen 'bautypischen' Begriff zusammengefaßt werden." Eine sich durchhaltende Gestalt soll also mit dem Typus nicht zwingend verbunden werden. Seidls Beitrag zum "Bautypus als Ordnungsprinzip der Architekturgeschichte" (11-19) rekonstruiert nach dieser Vorklärung die Kategorie des 'Typs' begriffsgeschichtlich, um deren Anwendung auf Baufunktionen zu fundieren: Typus wird vom ursprünglichen typos (Münzprägestempel) bis zur gegenwärtig "schwer auslotbaren Relevanz [...] für nahezu alle Wissenschaften" verfolgt. Für die Frage des Bautyps erweist sich sowohl der naturphilosophische Begriff des Urtyps (Goethe) als auch der geisteswissenschaftliche des Idealtyps (Weber) als ungeeignet (12). Die Architekturgeschichte verzeichne erste funktionale Klassifizierungen bei Vitruv, wobei der Begriff latent bleibe und erst bei J. Burckhardt explizit werde ('Bauaufgaben'), ohne sich gegen Stil-Klassifizierungen durchzusetzen. Selbst Pevsners History of Building Types (1976) greife auf Stile zurück statt auf "typische Erscheinungsformen" (16). Zu ergänzen wäre hier, dass die Verhaltenslehre der Architektur und ihr Bestseller schlechthin - Neuferts Bauentwurfslehre - ebenfalls mit Baufunktionen als Typen operiert.

Theoriegeschichtlich ohne Präferenz blieb das Begriffspotenzial, funktionale und "kultur- und sozialhistorische Bedingungen von Architektur" zu erfassen, ungenutzt. Dieses Potenzial ist in der Tat höchst relevant und wird in den Artikeln verfolgt. Dabei erweist sich eine weitere Klärung des 'Bautyps' als notwendig. Denn nicht nur ist die Kategorie architekturtheoretisch unscharf; es bleibt das reflektierte "Kernproblem" des Lexikons, einerseits "Ähnlichkeiten" zu erkennen, andererseits einzusehen, "dass es kaum eine konkrete Kategorie gibt, die tatsächlich auf alle Objekte zutrifft" (17). Die Artikel zeigen dies. So heißt es etwa für Hôtel, Jugendherberge, Waage, dass es hier 'keinen Bautyp gäbe' (aber immerhin einen Begriff, was nach dem Vorwort die Minimalbedingung erfüllte). Vielleicht wäre eine Alternative ein Lexikon der Baufunktionen, das zum einen systematisch mit der Kategorie des "Leitbaus" operieren könnte und die faktischen Rezeptionsbezüge in der Architektur, zum anderen funktionale Äquivalente verfolgen würde.

Aufbau und Detailliertheit der Artikel sollen am (willkürlich gewählten) Beispiel illustriert werden: "Bahnhof, m (mhd. ban[e] Schlagfläche, Weg, ahd. hof Tempel, Fürstenresidenz), Verkehrs- und Betriebsanlage der Eisenbahn, in der Zugfahrten planmäßig beg., unterbrochen oder beendet werden [...]. Zu Beginn des Eisenbahnzeitalters ab etwa 1820 waren die Stationsbauten noch an die Post-B. angelehnt. Zunächst flankierten zwei für die Ankunft und Abfahrt getrennte Gebäude die überdachten Gleise (Sächs.-Bayr. B., Leipzig, 1845) [...]. Ab 1910 floß die moderne Betonung der Funktion stärker in die Architekturformen des Empfangsgebäudes ein, so etwa beim B. in Helsinki [...]. Im Zuge des Neuen Bauens entstanden [...] Bauten aus modernen Baustoffen (Spannbeton), bei denen auch die allgemeine Verkehrsplanung stärker berücksichtigt wurde [...]. 2006 wird der neue Lehrter Bahnhof [...] als größter Umsteige-B. eingeweiht werden [...]. Lit: H. Müller, B.-Architektur, Tübingen 1963 [...]" (48 f.).

Die fast durchweg eingelöste Stärke des Lexikons ist die Verschränkung von Bau- und Sozialgeschichte. So ist das Buch nicht nur Nachschlagewerk für Architekturinteressierte, sondern Skizze der kultur- und sozialgeschichtlichen Bedingungen der Architektur unter Verwendung soziologischer Begriffe und Einbezug technikgeschichtlicher Details. Das Lexikon versammelt mit 350 Einträgen eine überaus überraschende Fülle kulturell und historisch verschiedener Baufunktionen (unter ihnen Buleuterion, islamischer Garten, Königshalle) und beinhaltet so auch eine Weltgeschichte der Architektur. Die Artikel verweisen - wie knapp auch immer - auf die Gesellschaft, deren in der Architektur sich zeigende Differenzierung, Herrschafts- und Disziplinierungsform, Individualisierung und Industrialisierung. In der Differenz der Artikel sowie an ausgestorbenen (Hungerturm) und aussterbenden Baufunktionen (Iglu) wird zugleich der soziale Wandel ablesbar.

Schwächen einzelner Artikel anzusprechen, hat gegenüber der Summe der Anregungen etwas kritizistisches. Gleichwohl: aus architektursoziologischer Sicht wäre die Behandlung der einzelnen Funktionen möglicherweise stärker zu differenzieren. Bahnhöfe haben eine andere gesellschaftliche Bedeutung als Bohrinseln. Die soziologische und die kulturgeschichtliche Dimension wäre durchaus ausbaufähig; auch wäre hier manches Mal mehr Sorgfalt wünschenswert. So suggeriert etwa der Artikel zur Kinoarchitektur, diese sei erst seit Dolby Surround gezielt "akustisches und visuelles Event" (276). Insgesamt wäre ein Index nützlich; die Wahl der Abbildungen erscheint etwas willkürlich. Auch wäre in der Literaturliste eine Differenzierung (Nachschlagewerke, Architekturtheorie, -geschichte, -sozialgeschichte) hilfreich.

Das Fazit klingt begeistert - ein nützliches, gut gemachtes, umfassendes, höchst interessantes Nachschlagewerk, das nach einer größeren Form verlangt, etwa nach Art der Geschichtlichen Grundbegriffe, wo auf die architektur-, sozial- und technikgeschichtlichen Zusammenhänge ausführlicher einzugehen wäre.

Rezension über:

Ernst Seidl (Hg.): Lexikon der Bautypen. Funktionen und Formen der Architektur, Stuttgart: Reclam 2006, 599 S., 30 Abb., ISBN 978-3-15-010572-6, EUR 24,90

Rezension von:
Heike Delitz
Institut für Soziologie, Technische Universität, Dresden
Empfohlene Zitierweise:
Heike Delitz: Rezension von: Ernst Seidl (Hg.): Lexikon der Bautypen. Funktionen und Formen der Architektur, Stuttgart: Reclam 2006, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 7/8 [15.07.2006], URL: https://www.sehepunkte.de/2006/07/10663.html


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