Die Kunstgeschichte kennt eine beträchtliche Anzahl von Werken, deren Bedeutung eine Werkmonografie geradewegs erzwingt. Auf dem Gebiet der modernen Architektur etwa wären der Einsteinturm von Erich Mendelsohn in Potsdam, Mies van der Rohes Haus Tugendhat oder das Bauhausgebäude in Dessau von Walter Gropius zu nennen. In seiner Berliner Dissertation hat sich Robin Rehm dem Dessauer Schulgebäude zugewandt, das spätestens seit Sigfried Giedions Buch "Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition" von 1941 zu den Inkunabeln der Architekturgeschichte gerechnet wird. Für seine Wertschätzung haben verschiedene Aspekte den Ausschlag gegeben. Zum einen sicherlich die technischen Innovationen, darüber hinaus die formalen Qualitäten, nicht zuletzt auch die Tatsache, dass das Bauwerk der weithin beachteten Kunstschule, die die Künstlerausbildung revolutionierte, nach der Vertreibung aus Weimar als Domizil diente. Die genannten Aspekte scheinen schon im Titel der Studie von Rehm auf, indem er die Begriffe Zweck, Form und Inhalt stark macht, die der Autor allesamt als ästhetische Kategorien verstanden wissen will. Dies mit der erklärten Absicht, am Beispiel des Bauhausgebäudes die Wahrnehmungszusammenhänge und Denkinhalte der Architekturbetrachtung in den 1920er-Jahren exemplarisch darzustellen. Denn nach dem Dafürhalten Rehms hat der Begriff des Funktionalismus eine Überbewertung erfahren und den Blick für die formalen Qualitäten und inhaltlichen Belange der modernen Architektur getrübt, was grosso modo sicherlich den Tatsachen entspricht. Die Bestimmung des Defizits in bestimmten Bereichen der Forschung hat eine Studie motiviert, die das konstatierte Manko programmatisch zu überwinden sucht.
Der Zuschnitt der Untersuchung auf die genannten Begriffe hat den Autor veranlasst, wesentliche Aspekte des Bauwerks auszuklammern. Es lag beispielsweise nicht im Horizont der Arbeit, die Entwurfs- und Baugeschichte darzustellen oder die Konstellation der beteiligten Mitarbeiter zu beschreiben, die im Bauatelier von Gropius arbeiteten. Auch erfährt man nur wenig über das Verhältnis von Architekt und Bauherr, was jedoch insofern wünschenswert gewesen wäre, als die inhaltliche Bestimmung am Ende des Buches auf die Interpretation des Brückenbaus zuläuft (154 ff). Auf seine Gestaltung hat die Stadt Dessau maßgeblichen Einfluss genommen, sodass sich zuletzt die Frage erhebt, ob die ausgeführte Lösung einem Ideal entspricht oder wenigstens nahe kommt oder eher einen vertretbaren Kompromiss darstellt. In Anbetracht des Vorhabens, Wahrnehmungsfragen und Denkinhalte in der Architekturbetrachtung zu fundieren, mag man von den eher klassisch zu nennenden Ingredienzien einer Monografie absehen. Aus dieser Konzession aber folgt, dass der Ausarbeitung des begrifflichen Instrumentariums umso mehr Bedeutung zukommt.
Der Begriff des Zwecks, durch Autoren wie Kant und Hegel, Sörgel und Schumacher in seiner historischen und aktuellen Relevanz markiert, wird gegenüber dem der Funktion in den Vordergrund gerückt. Auch Adolf Behne kommt ausführlich zu Wort, weil er mit seinem Buch "Der moderne Zweckbau" einen eminent wichtigen Beitrag zum Thema verfasste. Im Zuge der Argumentation wird Behne zum Gewährsmann dafür, den Begriff der Funktion, der in den Schriften Gropius' eine bedeutende Rolle spielt, aus dem Zusammenhang der Darstellung zu entlassen. Auch wenn der Leser erfährt, dass er aus Mathematik und Physiologie übernommen ist, bleibt völlig offen, welche Konnotationen er im Denken des Architekten erfahren hat. Zwar wird darauf hingewiesen, dass die Begriffe des Zwecks und der Funktion häufig synonyme Verwendung finden. Aber gerade daraus erwächst die Verpflichtung, ihren jeweiligen Geltungsbereich aufzuzeigen. Stattdessen betont der Autor, dass die "konventionelle Architekturbetrachtung ( ) Konstruktion und Material dem Zweck zu(ordnet)" (22), womit der Rahmen für das weitere Vorgehen definiert ist.
In den Kapiteln über die verwendeten Materialien liegt zweifellos die Stärke der Studie. Der Autor wendet sich sowohl den Werkstoffen wie Beton, Glas und Stahl zu, aber auch den Ausstattungselementen, die das Erscheinungsbild der Architektur prägen. Die behandelten Gegenstände reichen von geputzten oder farbig behandelten Oberflächen, von Böden über Möbel bis zu Lampen und Schriftzügen, die Gropius am Bauhausgebäude anbringen ließ. Der Leser wird gleichermaßen mit Material- und Herstellungsfragen, technischen Belangen und Typenbildungen vertraut gemacht, sodass sich ein dichtes Bild des ursprünglichen Zustandes einstellt.
Unter dem Oberbegriff der Form werden diverse Proportionssysteme behandelt, bei denen prinzipiell zwischen geometrischen und arithmetischen zu unterscheiden ist. Gropius war sich bewusst, dass der moderne Architekt über ein breites Spektrum historisch gebundener Systeme verfügen kann, sei es die Quadratur, die Triangulation, der Goldene Schnitt oder Proportionsverhältnisse auf der Basis rationaler Zahlen. Das Problem, vor das sich der Architekt gestellt sah, ist nicht das mangelnder Verfügbarkeit, sondern das mangelnder Bindung. Gropius hat das Problem unter dem Aspekt eines zu entwickelnden Kontrapunkts thematisiert, den er für die bildenden Künste verloren sah, während er in Musik und Poesie noch Geltung besitze. Es hätte der Intention der Studie angestanden zu zeigen, wie Gropius das aufgeworfene Problem im Falle des Bauhausgebäudes gelöst hat. Offen bleibt aber, welches Grundrissraster er wählte, und in Bezug auf den Aufriss des Werkstättentrakts heißt es hypothetisch, dass ein der Amsterdamer Börse entsprechendes Diagonalsystem angenommen werden kann (92). Hier hätte unter Umständen die Konsultation der verfügbaren Entwürfe und Zeichnungen weiterhelfen können.
Eine andere unbeantwortete Frage ist die nach dem Stellenwert der Bewegung um den Außenbau. Gropius selbst schrieb in der Publikation über die Bauhausbauten, dass man um das Gebäude herumgehen muss, um seine Körperlichkeit und die Funktion seiner Glieder zu erfassen. Diesen berühmten Satz nicht am Bau zu exemplifizieren, ist eine bedauerliche Unterlassung, da sich die Probleme der Funktion, des Flächenzuschnitts, der Proportionen, der Durchdringungen, der Unterschneidungen, der Auskragungen, der Positiva und Negativa, der Nähe und Distanz zum Objekt, kurzum der formalen Valeurs und der visuellen Prinzipien schlaglichtartig verdichten. Dagegen mutet die analysierte Lenkung des Besuchers und ihre künstlerischen Mittel im Inneren des Bauwerks vergleichsweise unspektakulär an.
Es sind vor allem die Akzentsetzungen der Studie, die bisweilen für Überraschung sorgen. Während Le Corbusier und vor allem Frank Lloyd Wright als Ahnherrn der Gropiusschen Architektursprache namhaft gemacht werden, tauchen die Künstler der De Stijl-Gruppe nur am Rande auf. Dabei hat der äußerst zurückhaltende Jacobus Johannes Pieter Oud, den Gropius sehr schätzte, schon früh auf den tiefgreifenden Einfluss der De Stijl-Künstler hingewiesen. Damit einher ging eine Kurskorrektur am Bauhaus, die die Überwindung der expressionistischen Frühphase zum Ziel hatte. Oud hat die Wende zum Internationalen Stil auf das Jahr 1922 datiert, jenen Zeitraum, als Gropius das Jenaer Theater umbaute. Am Bauhausgebäude, im zeitlichen Abstand einiger Jahre errichtet, lässt sich nun das kanonische Vokabular der modernen Architektur idealiter greifen. Die individuelle Artikulation von freier Stütze, offenem Grundriss, begehbarem Dach, liegendem Fenster und freier Gestaltung der Wand verleiht dem Bau seine eigentliche Bedeutung. Hier hätte die Diskussion des Curtain-Wall einfließen können, ein Begriff, der jedoch keine Berücksichtung findet. Stattdessen wird der Leser nach Japan versetzt, mit feudalen Palästen und Torbauten bekannt gemacht, um zu zeigen, dass sowohl strukturelle als auch dekorative Elemente sich ostasiatischen Einflüssen verdanken. Dabei geraten die Künstler im unmittelbaren Umfeld von Gropius aus dem Blickfeld, deren inspirierende Kraft unterschätzt wird.
Zuletzt bleibt anzumerken, dass die ästhetische Kategorie "Inhalt" keine tragfähige Bestimmung erfahren hat. Vielmehr tritt das Idea-Konzept an seine Stelle. Bei der inhaltlichen Analyse des Bauwerks rückt Rehm zwei Gesichtspunkte in den Vordergrund: Zum einen die Gemeinschaft der Künstler nach dem Vorbild mittelalterlicher Bauhütten, zum anderen die Kathedralmetapher, beides Aspekte, die Gropius in seinem frühen Bauhausmanifest formuliert hatte. Es wäre jedoch zu fragen, ob nicht die Schiffsmetapher, wie von Gerd Kähler dargestellt, den Bau weit besser erklären kann. Die Architektur mit ihren schwebenden Körpern, Bullaugen und Relinggittern liefert jedenfalls einige Anhaltspunkte dafür. Dies umso mehr, als dem Autor unversehens das dem Brückenbau eingeschriebene Proportionssystem des Alhard von Drach zu einer Gesellschaftspyramide wird mit dem Direktor des Bauhauses auf der Kommandobrücke.
Robin Rehm: Das Bauhausgebäude in Dessau. Die ästhetischen Kategorien Zweck, Form, Inhalt, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2005, 277 S., 308 Abb., ISBN 978-3-7861-1430-7, EUR 68,00
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