Keine Formel hat eine Epoche der Kunstgeschichte so nachhaltig geprägt wie Johann Joachim Winckelmanns Begriffe von der "edlen Einfalt" und der "stillen Größe" den Klassizismus in der zweiten Hälfte des achtzehnten- und im frühen neunzehnten Jahrhundert. Der Archäologe hatte in seiner Schrift "Gedancken über die Nachahmung" von 1755 damit die Kunst im antiken Griechenland charakterisiert. Edle Einfalt und stille Größe galten aber bald nicht mehr nur als ein Vermächtnis der Alten, sondern als ein kunsttheoretisches Verdikt und eine Verpflichtung für die zeitgenössischen Künstler.
Bereits im achtzehnten Jahrhundert setzte ein heftiger Disput darüber ein, wie sich die dramatischen Schilderungen und gewaltsamen Szenen, die aus der Antike überliefert sind, mit dem Ideal einer auf Harmonie gegründeten Form vereinbaren lassen. Ausdruck dieser Auseinandersetzung über die antagonistischen Darstellungsmodi vom "Schönen" und vom "Pathetischen" waren die ebenso zahlreichen wie kunsttheoretisch bedeutsamen Streitschriften zur Laokoon-Gruppe.
Martin Dönike widmet sich in seiner höchst anregenden Studie über Pathos, Ausdruck und Bewegung diesen Schlüsseltexten zum Klassizismus. Der entscheidende Unterschied zu einer beachtlichen Fülle von Beiträgen über die Laokoon-Rezeption und die Darstellung von Gewalt und Schmerz in der Antike besteht in der Fokussierung auf das "Gewaltsame" als ästhetisches Problem im Spannungsfeld von realem Befund und klassizistischem Ideal. Dönike weitet den Formenkanon auf andere prominente Kunstwerke der Antike aus, indem er beispielsweise die Gruppe der Niobe mit ihren Kindern oder den Farnesischen Stier in seine Untersuchungen mit aufnimmt. Zugleich konzentriert er sich aber auf Texte, die mehr oder weniger im Umfeld von Weimar in einem Zeitrahmen von 1796 bis 1806 zu verorten sind.
Die Gliederung in drei Kapitel könnte exemplarisch den Wandel in der Methode und in der Argumentation veranschaulichen. Kapitel 1 ist der Archäologie und ihrem Protagonisten Alois Ludwig Hirt gewidmet. Dönike wertet Hirts Texte über das Kunstschöne und über Laokoon als Versuche, sich von den Positionen Winckelmanns und Lessings abzugrenzen, die mit dem Gesetz der Schönheit eine fundamentale Bedingung für die Interpretation der antiken Kunstwerke aufgestellt haben. Für Hirt gilt dieses Prinzip nicht mehr. Er erklärt den Begriff des "Charakteristischen" zum Maßstab seines ästhetischen Urteils und bedient sich damit eines neuen Instrumentariums, mit dessen Hilfe es ihm gelingt, die Ausdrucksqualität antiker Kunstwerke präziser zu erfassen. Dönike kann mit seiner Analyse der Texte Hirts auf die aktuellen Debatten über das "Charakteristische" zurückgreifen (Costazza, Tausch), er präpariert aber mit Blick auf die Rhetorik der Figuration des Laokoon sehr präzise die Absicht Hirts heraus, Winckelmanns Kategorien der "edlen Einfalt" und "stillen Größe" durch das "Charakteristische" zu ersetzen und damit der reinen Anschauung Vorschub zu leisten. Die unvoreingenommene Sachlichkeit des Betrachters wird zur Grundlage des Kunsturteils und diese wird im Konzept der Charakteristik zu fassen versucht.
Damit ist die Spur nach Weimar gelegt. In Kapitel 2: "Kunsttheorie: Die Weimarischen Kunstfreunde" rekonstruiert Dönike mit bestechender Klarheit und Präzision die Debatten über Pathos und Pathosformeln, über Ausdruck und Charakterbild, über tragische Motive und ihre formale Gestaltung. Hirts Eröffnung jener Auseinandersetzung folgt in diesem zweiten und mit Abstand umfangreichsten Kapitel eine material- und argumentationsreiche Exploration des Diskursfeldes. Als Hauptakteure kommen Goethe und Meyer - mit einigen Einschränkungen auch Schiller - zu Wort. Die Formatierung der Argumente unter dem Aspekt einer dezidierten Ausdrucksästhetik erfasst die in unzählige Einzelstudien publizierten Erkenntnisse erstmals systematisch. Nicht immer darf man dabei grundlegend Neues erwarten. Aber dennoch kann Dönike mit etwas Spektakulärem aufwarten. Bislang hat sich sowohl die Literaturwissenschaft wie auch die Kunstgeschichte nur peripher mit Meyers Beschreibung der Fresken Raffaels im Vatikan befasst. Dabei bieten diese reiches Material für das Ideal eines linearen Stils, den man im späteren achtzehnten Jahrhundert mit dem Namen Raffael verband. Es ist Dönikes Verdienst, die programmatische Bedeutung dieses in den Propyläen veröffentlichten Textes herausgearbeitet - und in die zeitgenössische Diskussion über Ausdruck und Wirkung eines Kunstwerks eingeordnet zu haben.
Das abschließende Kapitel 3 widmet sich der Kunstkritik. Es stellt Carl Ludwig Fernows Monografien über den Zeichner /Maler Asmus Jakob Carstens und den Bildhauer Canova ins Zentrum der Betrachtung. Die in den Texten angelegte Unterscheidung in Malerei und Bildhauerei dient Dönike dazu, die Dynamik des Diskussionsprozesses der von ihm ins Auge gefassten Phase zwischen 1796 und 1806 nochmals zu unterstreichen. Das Medium des Bildes stellt Carstens ein weitaus größeres Potenzial an Ausdrucksvarianten zur Verfügung, als dies in den Skulpturen Canovas möglich ist. Ruft man sich nochmals die Ausgangsposition mit Hirts Proklamation einer Neubewertung des "Charakteristischen" in der Auseinandersetzung mit antiker Skulptur ins Gedächtnis, so hat sich die Diskussion nun erheblich ausgeweitet und den Schwerpunkt auf die zeitgenössische Malerei verlagert. Der Spielraum für die Skulptur ist mit einer wachsenden Distanz zur Antike als einem kanonischen Muster deutlich geringer geworden.
Andererseits wurde die Kunst um 1800 nicht zuletzt deshalb als 'klassisch' kanonisiert, weil sie sich mit den klassisch-antiken Mustern auseinandersetzte. Freilich geschah dies auf der - ebenfalls um 1800 begründeten - Basis moderner Alterität zur Antike und mit der Absicht, eigene, spezifisch moderne Muster aufzustellen.
Eine wunderbare Pointe am Ende des Fernow-Kapitels fasst das Verhältnis von Kunstwerk zu Kunsttheorie nochmals zusammen: eindrucksvoller als mit der Zeichnung Carstens, den Tod Laokoons darstellend, hätte Dönike seine Studie kaum abschließen können.
Das Koordinatensystem zur Positionierung kunsttheoretischer Begriffe gerät um1800 aus den Fugen und einen wesentlichen Anteil daran haben die jungen Romantiker, die in engem Kontakt zu den "Weimarischen Kunstfreunden" unmittelbar in den Diskussionsprozess eingreifen. Für den Bedeutungswandel des "Charakteristischen" wäre vielleicht der Einfluss der Brüder Schlegel etwas ausführlicher darzustellen gewesen. Dönike begnügt sich mit einigen Verweisen auf die polemischen Reaktionen aus Weimar. Dabei kommt aber gerade dem Verhältnis zwischen den "Weimarischen Kunstfreunden" und den "Jenaischen Kunstflegeln" in der Auseinandersetzung um das "Charakteristische" eine besondere Bedeutung zu.
Die Darstellung von Schmerz und Schrecken spielt nicht nur im Kontext der klassizistischen Forderungen nach einer Zügelung der Affekte eine Rolle, sondern gewinnt um 1800 auch an Bedeutung als ein System sinnstiftender Zeichen, die gezielt als Pathosformeln im Drama wie in der Bildenden Kunst phonetische und literarische Ausdrucksformen in ein kompatibles Bedeutungsgefüge einbinden. Im Medium des Bildes lässt sich die Artikulation heftiger Gefühlsausbrüche mehr als andere Ausdrucksformen als modifizierte sprachliche Äußerungen lesen. Diese Doppelnatur der Pathosformeln als anschauliches Bild und als sprachliches Zeichen öffnet weitere Diskussionsforen, an denen in Weimar auch Schiller und vor allem Herder großen Anteil hatten.
Wenn es auch zu einzelnen Detailfragen angesichts des Themenspektrums und der höchst anerkennenswerten Leistungen des Autors immer etwas beckmesserisch auszusetzen gilt, so bleibt letztlich doch eine kritische Anmerkung, die grundsätzlicher Natur ist. Im Spannungsfeld von theoretischer Auseinandersetzung und künstlerischer Form kann die Darstellung des Gewaltsamen nicht ohne den Einfluss der Theorien des Erhabenen erklärt werden. Für die Diskussionen in Weimar über den Begriff des Erhabenen hatte sich Schiller besonders qualifiziert. Schließlich gehörte er neben Goethe, Fernow und Meyer auch zum Kreis der "Weimarischen Kunstfreunde". Er veröffentlichte 1793 die Schrift "Vom Erhabenen" und 1801 eine Abhandlung "Über das Erhabene". Seine Charakterisierung des "Praktischerhabenen", das die Natur als Objekt der Empfindung versteht, bindet die auf Burke zurückgehenden und von Kant aktualisierten Vorstellungen in eine spezifisch auf die Künste anwendbare Theorie ein.
Abgesehen von diesem Mangel handelt es sich bei der Dissertation Dönikes jedoch um eine virtuose Studie zu einem Kernbereich der deutschen Literatur- und Kunstgeschichte, die mit einem neuen Blick auf die Schlüsseltexte des Klassizismus eindrucksvoll den Beweis für die Dynamik der Theoriebildung und die Aktualität der ästhetischen Debatten um 1800 für die Moderne erbringt.
Martin Dönike: Pathos, Ausdruck und Bewegung. Zur Ästhetik des Weimarer Klassizismus 1796-1806 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 34 (268)), Berlin: De Gruyter 2005, 430 S., 62 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-018237-8, EUR 108,00
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