Nur wenige Museen dieser Welt befinden sich in der paradiesischen Lage des Museo Nazionale zu Neapel. Die Sammlung zählt jetzt bereits zu den quantitativ und qualitativ herausragenden im Bereich des Altertums, und der kontinuierliche Zuwachs durch Neufunde aus dem archäologischen Reservoir des nahe gelegenen antiken Katastrophengebiets um Herculaneum und Pompeji ist auf absehbare Zeit gesichert. Damit sich die überreichen Segnungen nicht zum unlösbaren Problem der ohnehin prall gefüllten Magazine auswachsen, finden zahlreiche Exponate regelmäßig im Rahmen bedeutender Ausstellungen den Weg durch Europa und den Rest der Welt.
Gut zehn Jahre nach der letzten großen "Vesuv-Schau" ("Unter dem Vulkan" 1995 [1]) profitierte auch wieder deutsches Publikum von dieser für alle Seiten nutzbringenden Praxis, und zwar gleich zweifach: Nachdem das Mannheimer Reiss-Engelhorn Museum 2004/2005 die "Stunden des Untergangs" von Pompeji nachzeichnete [2], nahm man sich 2005 in Haltern, Bremen und Berlin des häufig zugunsten der größeren Nachbarstadt vernachlässigten Herculaneum an.
Dass diese Entscheidung in jeder Beziehung richtig war, wird jeder bestätigen, der die Ausstellung besucht hat, nicht zuletzt, weil der selten Erfolg versprechende Spagat zwischen (laien-)publikumswirksamer Präsentation und dem Zeigen von vorrangig den Fachmann begeisternden, weil weniger spektakulären Exponaten (z. B. die Schriftrollen aus der Villa dei Papiri) geglückt war.
Der von Josef Mühlenbrock - Archäologe und Projektleiter der Herculaneum-Ausstellung - sowie Dieter Richter - Bremer Germanist und Kulturhistoriker - besorgte Katalog stellt eine gelungene schriftliche Umsetzung dieser Konzeption dar. In seinen neunzehn gut lesbaren und dank der gelegentlichen Verwendung von Endnoten auch wissenschaftlich nutzbaren Aufsätzen werden die unterschiedlichen Themenbereiche der Ausstellung vertieft.
So bietet Mario Pagano - Direktor der Ausgrabungen der Jahre 1996-2000 - einen Überblick über die Stadthistorie (2-12), während seine Nachfolgerin Maria Paola Guidobaldi "Die Geschichte der Ausgrabungen von Herculaneum" (17-26) nachzeichnet. Nützliche Erläuterungen zum Verlauf des Vesuvausbruchs liefert der Vulkanologe Guiseppe Mastrolorenzo (29-40), dessen Konsequenz, die Konservierung organischer Funde, vom zuständigen Konservator Guiseppe Zolfo (57-67) erläutert wird. Zuvor informiert ein Autorenkollektiv über die Ergebnisse von Skelettuntersuchungen (45-55).
Die nächsten Beiträge behandeln Einzelthemen der Ausgrabungsergebnisse. Umberto Pappalardo referiert über "Hercules in Herculaneum" (69-79), Emma Maria Pirozzi über Hausarchitektur und Gartenanlagen (81-93). Die Villa dei Papiri steht anschließend im Mittelpunkt: Martin Maischberger und Norbert Franken beschäftigen sich mit Architektur und Skulpturenausstattung (95-109), während Agnese Travaglione die Bibliothek und ihre Entzifferung thematisiert (111-121). Dieter Bischop schließlich behandelt noch einmal etwas allgemeiner "Die Einrichtung der Häuser in Herculaneum" (123-137).
Deutungsgeschichtliche Fragen sind der Kern des nächsten Teilbereichs. Angelika Dierichs, ("Herculaneums versteckte Erotica", 139-151), Agnes Allroggen-Bedel ("Malerey der alten Griechen", 153-165), Dieter Richter ("Die Ausgrabungen als europäisches Ereignis", 183-196) sowie Uwe Quilitzsch ("Herculaneum im Park von Wörlitz", 201-211) und schließlich Peter Schleuning ("Herculaneum in der Musik", 213-217) bieten einen umfassenden Einblick in den Nachhall der Entdeckungen auf vielen Gebieten europäischen Kulturschaffens. Durchbrochen wird diese Ordnung von Umberto Pappalardos Aufsatz über den Stadtpatron M. Nonius Balbus (171-181), den man eigentlich weiter oben erwartet hätte.
Zuletzt folgen die Beiträge von Mico Capasso über die Entwicklung des Herculaneum-Bildes von Goethes Beschreibungen bis zu den Möglichkeiten virtueller Rekonstruktion (219-221), Dieter Richters "Kulturgeschichte des Vesuv" (223-237) sowie eine "archäologisch-historische Spurensuche" von Josef Mühlenbrock (239-253).
Aufgelockert wird der Textteil mehrfach von farblich separierten Einschüben, dank derer entscheidende Dokumente in der ihnen gebührenden Länge zitiert werden können. Sie reichen von "Antike[n] Quellen zu Herculaneum und dem Golf von Neapel" (13-15) bis zu einer Auswahl zeitgenössischer Reiseberichte von Besuchern des unterirdischen Theaters (197-199).
Den Abschluss des Werks bildet der eigentliche Katalogteil, in dem die Exponate mit präzisen Kommentierungen, weiterführender Literatur und Fotografien präsentiert werden.
Die Verarbeitung des Bandes ist ausgezeichnet. Papier und Fotografien sind von vorzüglicher Qualität, ebenso wurde der Text sorgfältig von den Herausgebern bearbeitet. Mancherorts tat man vielleicht des Guten etwas zu viel: Es mag bei Schriftwerken, die sich auch einem breiteren Publikum öffnen wollen, unverzichtbar sein, Fachtermini, ob nun "Tropopause" oder "flamines", verständlich zu erläutern. Ob das bei Begriffen wie "Stratosphäre" (40, Anm. 15) zwingend notwendig ist, mag dahingestellt sein. Sicherlich aber wäre für ständig wiederkehrende Bezeichnungen wie "lapilli", "princeps" oder "pyroklastisch" ein zentrales Glossar sinnvoller gewesen, zumal höchst problematische Verkürzungen (vgl. "princeps = seit Augustus Ehrentitel des Kaisers und oft auch Teil der römischen Kaisertitulatur"; 79, Anm. 17) zu vermeiden gewesen wären.
Es fällt zudem auf, dass manche Aufsätze über einen umfangreichen Endnoten-Apparat verfügen (z. B. Pappalardo, 78 f.), den andere für gänzlich verzichtbar halten (Maischberger / Franken, 109). Ein ähnliches Bild zeigt sich bei den Literaturangaben, die zudem mal "Literatur", mal "Literaturverzeichnis" und mal "Bibliographie" tituliert werden.
Auf inhaltliche Details einzelner Aufsätze einzugehen, verhindert der beschränkte Raum der Rezension, wenngleich sich auch hier manches diskutieren ließe. So ist die auf den Befunden der Skelette im Bootshaus basierende Schlussfolgerung, die römische Gesellschaft hätte mehrheitlich an Mangelernährung und schadhaften Hüftgelenken gelitten (52-55), sicher bedenklich: Vielmehr dürften genau diese Hüftschäden der Grund gewesen sein, weshalb man sie überhaupt zurückließ. Es ist davon auszugehen, dass bei einer Evakuierung mit begrenzten Transportmöglichkeiten fußkranke oder anderweitig in der Bewegung beeinträchtigte Sklaven, wenn überhaupt, als letzte gerettet wurden.
Das häufig zu beobachtende Phänomen facharchäologischer Selbstgenügsamkeit wurde als Problem erkannt und durch die Teilnahme von Musikwissenschaftlern, Architekten oder Vulkanologen zu vermeiden gesucht. Aber gerade dann ist die Frage schon gestattet, warum nicht wenigstens ein Althistoriker hinzugezogen wurde: Die Bedeutung Herculaneums für die Alte Geschichte ist schließlich nicht weniger zentral als für die Archäologie. Das Fehlen eines Beitrags des für eine grundlegende wissenschaftliche Behandlung Kampaniens unverzichtbaren Guiseppe Camodeca erscheint in diesem Kontext umso unerklärlicher, da er an prominenter Stelle der Autoren-Liste genannt wird.
Doch bleiben die angesprochenen Kritikpunkte angesichts des Gesamteindrucks marginal. Wer die Ausstellung sehen konnte, muss von der Nützlichkeit des Katalogs nicht weiter überzeugt werden - wer sie verpasste, hat hiermit die Möglichkeit, dieses Versäumnis zu korrigieren.
Anmerkungen:
[1] Unter dem Vulkan. Meisterwerke der Antike aus dem Archäologischen Nationalmuseum Neapel, Bonn 1995.
[2] Pier Giovanni Guzzo / Alfried Wieczorek (Hg.): Pompeji. Die Stunden des Untergangs. 24. August 79 n. Chr., Mannheim 2004.
Josef Mühlenbrock / Dieter Richter (Hgg.): Verschüttet vom Vesuv. Die letzten Stunden von Herculaneum, Mainz: Philipp von Zabern 2005, XX + 355 S., 341 Farb-, 25 s/w-Abb., ISBN 978-3-8053-3445-7, EUR 34,90
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