"Den eigenen Augen trauen" - diese belebende Aufforderung geht seit mehreren Jahren von der Bildwissenschaft aus. Die von Horst Bredekamp schon 1986 vorgeschlagene "Revitalisierung" des Visus ist auch eine Kritik der Illustration und der Autorität von Bildbeweisen. Mit eigenen Augen zu sehen und sich interdisziplinär der Dynamiken des Bildes zu vergewissern ist die Botschaft einer Erforschung des Visuellen.
Der von Sibylle Peters und Martin Jörg Schäfer herausgegebene Sammelband "Intellektuelle Anschauung. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen" berührt diese Kritik der Illustration und der Bildbelege radikaler, als das einer Wissenschaft vom Bild jemals möglich wäre. Das mag auch daran liegen, dass es sich mit diesem Band nicht um einen Beitrag zur Bildwissenschaft im engeren Sinne handelt. Mit den insgesamt 18 Beiträgen von Medienwissenschaftlern, Philosophen, Kunsthistorikern, Germanisten und Theaterwissenschaftlern soll ein Thema, dass 2004 in dem Reader "Evidenz - das sieht man doch!" lediglich aus medienwissenschaftlicher Sicht problematisiert wurde, unter einem neuen und wesentlich erweiterten Blickwinkel betrachtet werden.
In dieser Interdisziplinarität ist zugleich der Anspruch verborgen, eine den gängigen wissenschaftspolitischen Codes "linguistic turn", "iconic turn" oder "performative turn" übergeordnete und verbindende Fragestellung zu entwickeln. "Figurationen von Evidenz lassen sich [...] bestenfalls im immer wieder neuen Durchgang durch solche Wenden beschreiben und befragen"(15), heißt es in der Einleitung.
So ist die Aufgabe, die sich das Buch stellt, aus sehr großer Distanz formuliert. Schon der Buchtitel signalisiert, dass der panoramatische Blickwinkel dieser Interdisziplinarität sich in Wahrheit einer Vogelperspektive verdankt. Sie eröffnet sich vermittels der kantischen Optik auf die Wissenschaftslandschaft. Immanuel Kants "Kritik der reinen Vernunft" ist der Begriff "Intellektuelle Anschauung" im Buchtitel entlehnt, der in der Einleitung als Inspiration dieser Überblicksdarstellung erklärt wird. "Das Denken sieht und begreift, 'wie es sich erscheint, nicht wie es ist.' Das Ineinandergreifen von Begriff und Bild, Sinnhaftem und Sinnlichem kann ihrerseits nicht begriffen oder angeschaut werden."(14) In diesem Sinne hatte sich Kant selbst die Zuhilfenahme lebensweltlicher Beispiele als Veranschaulichung seiner Erkenntnistheorie ausdrücklich verboten. Der Begriff der Illustration erfuhr um 1800 seine schärfste Absage.
Diese Zäsur ist die argumentative Grundlage der von Peters und Schäfer versammelten Texte zur Problemgeschichte der Evidenz, einer Beweiskraft und Schlüssigkeit, die nicht zu erreichen ist. Diese Geschichte der allgemeinen Fragwürdigkeit des Wissens und der Künstlichkeit des scheinbar Selbstverständlichen wird vom 18. Jahrhundert bis zur unmittelbaren Gegenwart verfolgt. "Die unmögliche Evidenz, die nicht zugängliche 'intellektuelle Anschauung', auf der doch die Vernünftigkeit jedweder Vernunft basiert, wird damit zur entscheidenden Figur einer Fundierung von Wissen, die sich selbst problematisch bleibt."(14)
Diese Logik bestätigt sich innerhalb des Sammelbandes besonders durch Texte zur Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Parallel dazu auch die Ästhetik vor 1800 oder die Moderne im 20. Jahrhundert kantisch verstehen zu sollen, wirkt demgegenüber fragwürdig. Der allzu exponiert philosophischen Vorgabe der Herausgeber wegen erscheinen Beiträge zum Kunstbegriff Heideggers oder Adornos Ästhetik ebenso wie eine für sich genommen sehr lesenswerte Erläuterung des Begriffs 'phaenomenon' bei Alexander Gottlieb Baumgarten oder ein close reading der Schriften von Wilhelm Heinrich Wackenroder in dem Band weniger treffend platziert.
Umso glücklicher erfüllt sich die Spurensuche nach einer Geschichte des sich selbst problematischen Wissens in den Beiträgen über Bilder des Wissens zwischen 1830 und 1880. Claudia Blümle untersucht in ihrem Beitrag "Abstrakte Anschauung. Physiologie und Kunstbetrachtung bei Carl Gustav Carus" eine Episode der Irreführung durch Reproduktionstechniken. Ähnlichen Verführungen durch die Fotografie geht Paul Fleming in dem Text "Die üblichen Verdächtigen. Das Bild des Kriminellen bei Quetelet und Galton" nach. Die Überlegung, durch vorgreifende Sichtbarmachung potenzielle Täter schon vor der Tat verhaften zu können, ließ den britischen Statistiker Francis Galton 1883 die Idee eines Phantombildes des idealen Verbrechers verfolgen. Bei einer Übereinanderlagerung mehrerer Fotografien von bereits straffällig gewordenen Personen müsste sich, so der Gedanke, das Gemeinsame der Physiognomien enthüllen und sich das wahre Antlitz des natürlich Bösen von selber zeichnen. Mit diesem technischen Versuch setzt sich die Geschichte der Physiognomie seit Lavater als einer problematischen Ästhetik in einer besonderen Wendung fort. Denn bei der Überlagerung der einzelnen Bilder kristallisierten sich keine scharfen Täterprofile heraus, sondern es entstand ein Effekt der Unschärfe, der die Kriminellen in die Aura eines leonardesken Sfumato hüllte.
Diese Beiträge können hervorgehoben werden, weil sie schlaglichtartig die Fragestellung des Sammelbandes erhellen und eine Wissenschaftsgeschichte der Erkenntnisgrenzen dokumentieren. Sie erzählen auch von den Irisierungen zwischen Kunst und Wissenschaft an dieser Grenze. Es ist die Unmöglichkeit von Evidenz, so die Herausgeber, die jedes Wissen als eine Kunst erscheinen lässt. "Statt also die Kunst der Wissenschaft als ihr Anderes gegenüberzustellen, ist mit der Figuration von Evidenz in aller Gelassenheit nach der Kunst inmitten der Wissenschaft gefragt." (10)
Damit deuten sich die Grenzen dieses Buches an. Zumindest die Bildforschung, die der Band von Peters und Schäfer zu integrieren sucht, spricht nicht von Kunst, sondern vom Bild. Die Bilder selbst sind als Wissensform zu behandeln und zu kritisieren. Das sich daraus ergebende Wissen schiebt die Erkenntnisgrenzen hinaus. In diesem Sinne wäre alternativ zu den Episoden über Carl Gustav Carus und Francis Galton speziell zur Geschichte des 19. Jahrhundert zu fragen, ob der kantische Wahrheitsgewissheitsverlust nicht auch als produktive Bewegung zu zeichnen ist. Die Experimentalkultur Hermann von Helmholtz' enthält in ihrem Diktum der sichernden Wiederholung eine charakteristische Kritiklust. Sie wurde durch das Bild stimuliert. Auch die Skizzenbücher Adolph von Menzels legen eine solche Produktivität des Suchens mithilfe der Bilder nahe - seit 1900 bis heute scheint demgegenüber, in Anlehnung an einen berühmten Ausspruch Pablo Picassos, die Epistemologie des Findens zu dominieren.
Insgesamt stellt der Band ein interessantes neues Nachschlagewerk zur Problemgeschichte der Evidenz dar. Flankiert durch einen Grundlagentext von Rüdiger Campe berührt die Auswahl der Texte in denkbar umfassender Weise Disziplinen und Schulen, die sich ansonsten voneinander abzugrenzen bemüht sind. Daraus resultierende Überschneidungen und Verweisungen machen den Reiz für den Leser aus. Jeder Text enthält eine weiterführende Bibliografie. "Intellektuelle Anschauung. Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen" ist ein gelungenes modernes Handbuch mit umfangreichen Hinweisen zum Verständnis einer Frage, die bleibt.
Sibylle Peters / Martin Jörg Schäfer (Hgg.): "Intellektuelle Anschauung". Figurationen von Evidenz zwischen Kunst und Wissen, Bielefeld: transcript 2006, 358 S., 14 Abb., ISBN 978-3-89942-354-9, EUR 30,80
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