Dem Autor geht es um den Nachweis, dass die Wurzeln der Judicial Review, also der Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Rechtsaktes eines nachgeordneten Gerichtshofes oder einer Behörde oder Regierung, durch ein dazu befugtes höheres Gericht als Erbe Jean Calvins bis auf die amerikanische Verfassungspraxis zu verfolgen seien. Allerdings sei dies von der Forschung bisher nicht hinreichend berücksichtigt worden, weil die Spezialisierung und Säkularisierung der Forschung die entsprechenden Linien nicht gezogen habe (5).
Um es gleich zu sagen: Der Autor wird selbst zum Opfer der Beschränkungen derjenigen Literatur, die nicht hinreichend zur Kenntnis nimmt, dass dort, wo die Reformatoren, und auch Calvin, sich mit dem Recht beschäftigen, sie tief in antiken und mittelalterlichen Zusammenhängen standen, die mitreflektiert sein wollen, wenn es um den Einfluss der Reformatoren geht. Hier wurde eben gerade nicht einfach''neu begonnen', sondern an bestehende Diskussionen angeknüpft. [1] Probleme der Nichtigkeit obrigkeitlicher oder richterlicher Entscheidungen durchziehen die mittelalterliche und spätmittelalterliche Diskussion - wer über lange Zeiträume hinweg nach Wurzeln sucht, der kann nicht um 1520 neu beginnen. Das ist sowohl der spezialisierteren historischen [2] als auch der übergreifenderen rechtssoziologischen Forschung [3] längst bekannt. Dort wird denn auch breit diskutiert, wie sich die Vorstellung einer gerichtlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit obrigkeitlicher oder anderer richterlicher Maßnahmen durch die Jahrhunderte zu den konzeptionellen einschneidenden philosophischen Veränderungen verhielt, in welche das 'Recht' eingebettet blieb.
Und hier sind insbesondere zwei zu nennen: Erstens die Vorstellung, zur Legitimität jeder Obrigkeit gehöre die Durchsetzung eines bestimmten Glaubens, Obrigkeit verliere also ihre Legitimität, wenn sie dieser Prämisse nicht entspräche. Hier lag eine wichtige Wurzel für Theorien des Widerstandes, wie sie insbesondere seit der Reformation und im Zeitalter der Glaubenskämpfe im Kampf gegen konfessionsfremde Obrigkeiten eine gewisse Konjunktur erhielten. Zweitens die Vorstellung, dass bestimmte Personengruppen, seien es durch Gott bestellte viri heroici, seien es die sapientes und prudentes der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen politischen Theorie, aufgrund ihrer besonderen Tugenden, Fertigkeiten und Beziehungen zu Gott das Recht und die Pflicht besäßen, sich über Gesetze und Befehle aufgrund ihrer höheren Einsicht hinwegzusetzen.
Die Aufklärung und die Verfassungen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts haben mit beiden Vorstellungen weitgehend aufgeräumt. Sie haben die unbedingte Rechtsgleichheit der Vollbürger ebenso betont wie die Privatheit der Religion. Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Elite oder vermeintlich bessere Einsicht in den wahren Glauben konnten nicht mehr Gründe sein, die Gesetze der legitim eingesetzten Regierung zu brechen. Entsprechend schreibt Kant 1797: "Wider das gesetzmäßige Oberhaupt des Staats gibt es also keinen rechtmäßigen Widerstand; denn nur durch Unterwerfung unter seinen allgemeinen gesetzgebenden Willen ist ein rechtlicher Zustand möglich." [4] Ein Widerstandsrecht, so der Jurist Anton Bauer 1808, würde "im Staat, dessen Zweck in Rechtssicherheit besteht, einen Zustand des Despotismus und der Anarchie" bewirken. [5] Dem Widerstandsrecht wurde der Boden auch "rechtslogisch" entzogen, da der "Rechtspositivismus als Begrenzung eines ideologischen Verfügungsanspruchs" irgendwelcher besonderer gesellschaftlicher Gruppen auf normative Richtigkeit eben ein solches Recht auf Widerstand im engeren Sinne ausschloss. [6]
Die vom Autor anvisierte Judicial Review des 19. Jahrhunderts antwortet auf diese Sachlage durch Gewaltenteilung, durch die institutionelle Absicherung der Judikative gegen Exekutive und Legislative, durch Verfassungen und Grundrechtskataloge, durch komplexe Mechanismen der gegenseitigen Beeinflussung dieser unterschiedlichen Institutionen. Die Ursprünge hierfür liegen in der immer systematischer begründeten Skepsis gegenüber den religiösen Fanatikern seit der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts und der schrittweisen Emanzipation von klassischen Politikvorbildern. Zwar sprechen wir hier von Folgen und Reflektionen auf die Epoche der Reformation und Glaubensspaltung, 'Wurzeln' bei Calvin müssen aber unter diesen Bedingungen mit Vorsicht gesucht werden. Wer sie sucht, wird sicherlich auch in der komplexen Diskussion über das Verhältnis von Calvinismus und Recht nach Untersuchungen fahnden, bei Forschungen zu Donellus zum Beispiel und bei Forschern wie Christoph Strohm. Stattdessen bezieht sich der Autor auf J.C.D. Clarks eher polemischen Vorwurf, die Forschung zu England ignoriere die Religion bei der Beschäftigung mit dem England des 18. Jahrhunderts - wer Clark bewerten will, muss freilich zur Kenntnis nehmen, wie sehr seine eigenen Forschungen Teil einer Agenda sind, die durch die breitere Forschung, vertreten etwa durch Howard Weinbrot, doch stark in Zweifel gezogen wird. [7]
Kann das gutgehen? Nein. Der Autor gibt eine hinreichende Beschreibung von Calvins humanistischem Hintergrund und seiner Rolle als Reformator. Wenn es um Calvins Äußerungen zum Widerstandsrecht geht, werden die Beiträge von Howell Lloyd zum Hintergrund des Römischen Rechts bei Calvin ignoriert. [8] Andere Auslassungen könnten genannt werden: ist Hans Barons Aufsatz von 1939, so einschneidend er histogriographisch wurde, heute noch als zentraler Beleg für Bucer heranzuziehen? Der Autor beschäftigt sich dann mit den englischen und schottischen Exulanten auf dem Kontinent, nicht zuletzt in Frankfurt. Obwohl der Autor nicht völlig übersehen kann, dass einer von ihnen sich unmittelbar der Übersetzung einer Schrift Luthers zum Widerstandsrecht widmete (67), blendet der Autor doch die Rezeption der Ereignisse im Alten Reich - vor allem durch Sleidan nach Europa getragen - weitgehend aus. [9]
Auch die im Anschluss diskutierten 'Bonds of Association' stehen in keinem deutlichen Verhältnis zur Ausgangsfrage. Der Autor springt dann weiter zum Zusammenbruch des persönlichen Regiments von Karl I. und der politischen Propaganda im Englischen Bürgerkrieg. Und auch hier fallen die Lücken in der Rezeption selbst der elementarsten Forschungsliteratur - insbesondere für seine Fragestellung - sofort ins Auge. [10] Insbesondere bleibt das Problem der richterlichen Klärung der Rechtmäßigkeit obrigkeitlicher Akte weitgehend außen vor. Dabei ließe sich hier womöglich in der Tat eine interessante Geschichte erzählen: Denken wir nur an die vor Gerichten ausgetragene Kontroverse zwischen London und der Krone, ob die Krone London die Privilegien entziehen könne [11] - von der Diskussion im Alten Reich und ihrer Deutung im 19. Jahrhundert zur Kompetenz richterlicher Entscheidungen ganz zu schweigen.
Der Versuch des Autors, die Debatte zum Widerstandsrecht auf die Rezeption dieser Frage im 18. Jahrhundert und auf die Erarbeitung der amerikanischen Verfassung zu beziehen, bleibt recht kurzatmig. Möglicherweise hätte man dem Verfasser empfehlen sollen, die letzten vierzig Seiten seines Buches als eigenen Aufsatz zu konzipieren, hier die einschlägige Literatur zu verarbeiten und sich auf die Frage zu konzentrieren, ob und wie der Jargon von Tyrannis und Widerstand in den 1770er bis 1790er Jahren auf die Einrichtung einer Judikative und ihrer Rechte konkreten Einfluss gehabt habe. Stattdessen hastet der Autor atemlos von einem Ereignis zum nächsten, ohne sich wirklich auf die einschlägigen Forschungsdiskussionen zu beziehen.
Anmerkungen:
[1] Siehe hierzu nun meinen Beitrag: "Confusion" around the Magdeburg Confession and the making of "revolutionary early modern resistance theory", in: Archiv für Reformationsgeschichte 97 (2006).
[2] Vgl. etwa Ernst Schubert: Königsabsetzung im deutschen Mittelalter, Göttingen 2005, oder Diethelm Böttcher: Ungehorsam oder Widerstand? Zum Fortleben des mittelalterlichen Widerstandsrechts in der Reformationszeit, Berlin 1991.
[3] Vor allem Harold Berman: Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt a. M. 1991 (engl. 1983), vgl. insbesondere den Abschnitt zur 'Herrschaft des Rechts', wo Berman das Problem der Bestrafung und Disziplinierung von Obrigkeiten, von Königen wie Päpsten, die rechtswidrig handeln, erörtert.
[4] Immanuel Kant: Metaphysik der Sitten I (1797) I, 3., 2., hg. v.Karl Vorländer, Hamburg 1922, 144 [2].
[5] Anton Bauer: Lehrbuch des Naturrechts, Marburg 1808, 318.
[6] Burkhard Koch: Rechtsbegriff und Widerstandsrecht, Berlin 1985, 13.
[7] Nur einen Hinweis auf die Spitze des Eisberges: Die Johannes Althusius Gesellschaft wird im kommenden Jahr einen Sammelband zum Problem Konfession und Recht herausbringen, auf die einschlägigen Beiträge zu Calvin sei dort verwiesen; zu Clark siehe Howard Weinbrot: Johnson and the Jacobite Wars, Besprechung von Jonathan Clark / Howard Erskine-Hill (Hrsg.): Samuel Johnson in Historical Context, Houndsmill 2001, in: The Age of Johnson 14 (2003), 307-340.
[8] Howell A. Lloyd: Calvin and the Duty of Guardians to Resist, in: Journal of Ecclesiastical History 32 (1981), 65-67. Vgl. auch die zustimmenden Bemerkungen von Peter Stein: A Comment, ebenda, 69-70, und Walter Ullmann, ebenda, 499-501.
[9] Siehe hierzu Robert von Friedeburg: Self Defence and Religious Strife in Early Modern Europe, England and Germany 1530-1680, Aldershot 2002, 162.
[10] Beispielsweise David L.Smith: Constitutional Royalism and the Search for Settlement, 1640-1649, Cambridge 1994.
[11] Jennifer Levin: The Charter Controversy and the City of London 1660-1688, London 1969; Corinne Weston / Janelle Greenberg: Subjects and Sovereigns. The Great Controversy over Legal Sovereignty in Stuart England, Cambridge 1981, besonders 184-186.
David T. Ball: The Historical Origins of Judicial Review, 1536-1803. The Duty to Resist Tyranny, Lewiston, N.Y.: Edwin Mellen Press 2005, XI+385 S., ISBN 978-0-7734-6009-6, GBP 79,95
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