1999 initiierte die Stiftung Naturschutzfonds Baden-Württemberg ein Oral-History-Projekt zum amtlichen und ehrenamtlichen Naturschutz in Baden-Württemberg ab 1945, dessen Ergebnisse nun mit der Publikation Bärbel Häckers vorliegen. Auf Grundlage der von Häcker durchgeführten Zeitzeugeninterviews erschließt die promovierte Biologin in fünf chronologischen Kapiteln die Naturschutzgeschichte Baden-Württembergs für die Jahre 1945 bis 1996. Dabei setzt die Autorin bewusst die Dekadenwechsel als Zäsur: "Nachkriegsjahre" (1945-1951), "Aufbaujahre" (1952-1959), "Umbruchjahre" (1960-1969), "Aufbruchjahre" (1970-1979) sowie "Fruchtbare und wechselhafte Jahre" (1980-1996) sind der chronologische Untersuchungsrahmen. Das letzte Kapitel bricht mit diesem chronologischen Ansatz, da es unter dem Titel "Offene Jahre" (1996 mit Ausblick) themenbezogen zeitgenössische wie aktuelle Bezüge aufgreift. Die Binnenstruktur der ersten fünf Kapitel gliedert sich in den zeitgenössisch-historischen Kontext des Jahrzehnts, in Rechtsgrundlagen, Naturschutzverwaltung, privater Naturschutz sowie Naturschutzaufgaben. Ein umfangreicher biografischer Anhang zu den befragten Zeitzeugen und Portraits früherer, bereits verstorbener Naturschützer rundet das Werk ab.
Die Einführung der Autorin verwundert: "Ergänzt habe ich die aus den Interviews gewonnenen Fakten und Erkenntnisse durch ein umfangreiches Literaturstudium, um die erhaltenen Informationen zu verifizieren und zu vervollständigen" (8). Dies ist methodisch insofern bedenklich, als dass der Prozess der Quellenkritik eines quellentechnisch so problematischen Oral-History-Projekts hier umgekehrt wird. Zudem "werden die Erinnerungen [...] eingestreut und sollen der Veranschaulichung dienen, sollen die Befindlichkeiten des Naturschutzes in den jeweiligen Zeitabschnitten besser verdeutlichen" (8). Die Interviews erscheinen nun als Beiwerk einer literatur- und quellenbasierten Studie. Spätestens mit der Aussage "komplettiert wurden die faktenbezogenen Aussagen der Zeitzeugen durch Anekdoten, an die sich der ein oder andere erinnerte" (8) fragt man sich, welches Interviewmuster und Frageraster der Studie zu Grunde lag. Leider gibt Häcker hierauf keine Antwort.
Die Argumentationskraft des Werks ist bereits in seiner Anlage geschwächt. Zusätzlich zu den methodischen Mängeln im quellenkritischen Umgang einer Oral-History erscheint die bewusste Gliederung wenig geglückt: "bewusst habe ich darauf verzichtet," so Häcker, "die geradlinige Darstellung z. B. der Rechtsgrundlagen oder der Personalentwicklung aufzuzeigen, da eine solche zergliederte Sichtweise meiner Meinung nach nicht geeignet ist, die Situation einer Dekade wiederzugeben" (8). Hier wird ein wesentliches Grundproblem der gesamten Studie deutlich: Es werden Zäsuren gesetzt, die Kontinuitäten und Brüche in der Naturschutzarbeit über die Dekadenwechsel hinaus ausblenden. Der gewählte Ansatz bewirkt geradezu dort eine Zergliederung, wo keine bestand. Das von Häcker als Beispiel herangezogene Europäische Naturschutzjahr 1970 (8, 99 ff.) war ohne Zweifel eine Zäsur der Naturschutzgeschichte, dennoch stellt es ein Paradebeispiel dafür dar, dass die Gliederung anhand der Dekaden zu kurz greift. So ging das Europäische Naturschutzjahr auf Planungen des Europarats ab 1963 zurück und spiegelt somit ein prozessuales Umdenken im Mensch-Natur-Verhältnis von den 1960er- in die 1970er-Jahre hinein wider - ein Prozess, der nicht erst an der Demarkationslinie 1970 ansetzte.
Durch einleitende Unterkapitel zu den jeweiligen Rahmenbedingungen eines Jahrzehnts ist die Autorin um eine Kontextualisierung über die Dekadenwechsel hinaus bemüht. Leider schaffen auch sie es nicht, die durch das Dekaden-Schema verengte Sicht aufzubrechen. Zwangsläufig verbunden mit dieser Gliederung sind Redundanzen, die bei einer sektoralen Betrachtung ausgeblieben wären. Beispiel hierbei wäre etwa eine geschlossene Betrachtung des Aspekts "Bauboom und Naturschutz", der ab den 1950er-Jahren zum bestimmenden Naturschutzthema der kommenden Jahrzehnte avancierte.
Bei der Untersuchung handelt es sich um eine institutions- (Organisation, Personal, Finanzen, Arbeitsbereiche und -schwerpunkte) sowie rechtsgeschichtliche Studie. Auffällig ist, dass keine übergeordnete erkenntnisleitende Fragestellung vorliegt. Auch wirft die Autorin keine Fragen zu speziellen Themenaspekten auf. Infolge trifft der Leser auf einen größtenteils deskriptiven Erzählstil, der von einer kritischen Hinterfragung der Akteure, ihrer Handlungen und Zeitzeugenaussagen, Methoden sowie Strategien in der 50-jährigen Naturschutzgeschichte Baden-Württembergs absieht.
Ein weiteres Manko der Studie ist die fehlende Einbettung der untersuchten Naturschutzarbeit in Baden-Württemberg in ihren historischen Kontext, also die Kontextanalyse. Im rechtsgeschichtlichen Teil werden oftmals Gesetze und Verordnungen vorgestellt, ohne ihren konkreten Niederschlag in der historischen Realität zu prüfen. So erscheint etwa das Reichsnaturschutzgesetz von 1935 als uneingeschränkter Erfolg (14 ff.), obwohl der Naturschutz dem Primat der NS-Wirtschaft sowie der NS-Autarkiepolitik untergeordnet war. [1] Auch die programmatische Aufnahme des Naturschutzes durch die bundesdeutsche Parteienlandschaft (105), insbesondere die Voreiterrolle der FDP, wird in keinen größeren Bezugsrahmen eingebettet. So war es nicht allein das Europäische Naturschutzjahr, sondern primär der "Import" des Umweltschutzes aus den USA und dessen Wirkmächtigkeit zur politischen Profilierung, den die Parteien - allen voran die FDP - erkannten. [2] Zu kurz greift auch die Kontextualisierung der 1980er-Jahre (171-173). Hier werden Antiatomkraft- und Friedensbewegung, Waldsterben sowie die Tschernobyl-Katastrophe angerissen, wobei deren Auswirkungen auf Baden-Württemberg mit der einschlägigen Forschungsliteratur nicht analytisch abgeglichen werden. [3] Zu diesen und weiteren von Häcker behandelten Sujets liegt ein umfangreicher Forschungsstand vor, der erstaunlicherweise keine Berücksichtigung findet, obwohl die Autorin ihrer Aussage nach ein "umfangreiches Literaturstudium" (8) betrieben hat. Dieses entpuppt sich als eine zwar durchaus respektable Sichtung zeitgenössischer publizierter Quellen, deren Erkenntniswert quellenkritisch jedoch hätte analysiert werden müssen.
Die Publikation ist ohne Zweifel für ein breites Publikum (Vorwort des Herausgebers, 6 f.) eine adäquate Gesamtschau der naturschützerischen Tätigkeiten und ihrer Akteure nach 1945, die anschauliche Beispiele konkreter Naturschutzarbeit einbringt. Die Unterkapitel zum privaten Naturschutz finden hier Gefallen, ebenso die Passagen zu den verschiedenen Naturschutzstellen und deren Tätigkeit. Eine Stärke des Bands liegt im biografischen Anhang und den bemerkenswerten Illustrationen, die die Publikation von anderen umweltgeschichtlichen Veröffentlichungen der Vergangenheit positiv absetzt. Im Vergleich zu Studien ähnlichen Sujets und gleichen Umfangs sowie angesichts der Dienstleistungen an den Leser (Register) ist die Hardcover-Publikation mit € 34,90 relativ erschwinglich. Der Erkenntniswert für die Umweltgeschichtsschreibung ist indes eher gering einzuschätzen, hält die Studie doch heutigen historisch-wissenschaftlichen Ansprüchen, insbesondere denen einer methodisch-analytischen Auswertung der Zeitzeugen-Interviews, nicht stand.
Anmerkungen:
[1] So etwa bei Joachim Radkau / Frank Uekötter (Hg.): Naturschutz und Nationalsozialismus, Frankfurt / New York 2003. (Vgl. die Rezension in sehepunkte: http://www.sehepunkte.de/2004/11/4499.html)
[2] Ausführlich bei Edda Müller: Innenwelt der Umweltpolitik. Sozial-liberale Umweltpolitik - (Ohn)macht durch Organisation? Opladen 1986.
[3] Vgl. Franz-Josef Brüggemeier: Tschernobyl, 26. April 1986. Die ökologische Herausforderung, München 1998.
Bärbel Häcker: 50 Jahre Naturschutzgeschichte in Baden-Württemberg. Zeitzeugen berichten, Stuttgart: Eugen Ulmer 2004, 305 S., 31 Farb-, 141 s/w-Abb., ISBN 978-3-8001-4472-3, EUR 34,90
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