Deutschland und Japan weisen im 20. Jahrhundert bemerkenswerte strukturelle Gemeinsamkeiten auf - bei historisch und kulturell völlig unterschiedlichen Voraussetzungen. Beide haben in der ersten Jahrhunderthälfte Wege 'gegen' den Westen eingeschlagen, beide waren die Hauptaggressoren des Zweiten Weltkrieges, beide haben sich nach 1945 zu wirtschaftlich und politisch erfolgreichen demokratischen 'Musterbeispielen' entwickelt. Auf diesem gemeinsamen Entwicklungspfad seit Kriegsende stellte sich für beide Länder die Herausforderung, die eigene totalitäre Vergangenheit "aufzuarbeiten". Das haben beide auf unterschiedliche Weise getan, wobei die politischen Turbulenzen um die Besuche des Regierungschefs im Yasukuni-Schrein in den letzten Jahren gerade auch im Ausland den Eindruck erwecken könnten, als hinke Japan dem deutschen Vorbild hinterher. Doch vor einem derartigen Urteil sollten gründliche Analyse und Vergleiche stehen - die es trotz wichtiger Vorarbeiten bisher praktisch nicht gibt.
Deshalb ist es eine Leistung an sich, dass Manfred Kittel einen solchen Vergleich unternimmt. Das Ergebnis ist durchaus beachtlich. Er konzentriert sich bei seiner Studie - das ist sein expliziter Anspruch - auf Japan, da zu Deutschland vieles bekannt sei. Sein Ziel ist es, vor allem die frühe japanische Vergangenheitsthematisierung auf der Grundlage der in westlichen Sprachen vorliegenden Literatur "darzustellen" und das mit den als bekannt vorauszusetzenden bundesdeutschen Befunden zu vergleichen. Indem er sich auf die Zeit bis 1968 konzentriert, bleibt die Dynamik der bundesdeutschen Entwicklung seit den großen Prozessen der Sechzigerjahre und seit der Studentenbewegung - und damit auch die grundlegende Verschiebung hin zur Thematisierung der Opfer - außerhalb der Betrachtung. Dadurch rücken die deutsche und japanische "Vergangenheitsbewältigung" näher zusammen, als dies bei einem längerfristigen Untersuchungsrahmen geschehen würde.
Kittel bietet vor allem einen knapp gehaltenen, in den Details in der Regel aussagekräftigen Überblick über die wichtigsten Bereiche der Vergangenheitsthematisierung. In acht Kapiteln gibt er jeweils einen strikt parallel strukturierten Überblick über 'zweierlei Vergangenheiten', über Rahmenbedingungen, die alliierten Prozesse, die politischen Säuberungen, den Umgang mit den Kriegsverbrechen nach dem Ende der Besatzungsherrschaft, der Wiedergutmachung, der Studentenbewegung - das alles wird knapp und griffig präsentiert. Besonders zu begrüßen ist dabei sein Versuch, in einem längeren Kapitel auf Grundbedingungen der politischen Kultur und dabei auch auf Fragen der unterschiedlichen Religion in beiden Ländern als weichenstellende Bedingungen der Vergangenheitsthematisierung einzugehen. Hinzu kommen ein eigenes Kapitel über den Tenno, ein knapper Überblick über die Entwicklung seit 1968 in beiden Ländern, und ein bilanzierendes Resümee. Unter den von Kittel diskutierten Erklärungsansätzen ist außerdem, neben der bereits hinreichend diskutierten Unterschiedlichkeit der außenpolitischen Konstellationen, der Hinweis auf den Strukturwandel des nationalen Konservatismus in Deutschland, der in dieser Weise in Japan nicht stattgefunden habe, weiterführend und zu begrüßen.
Dennoch sind einige Punkte kritisch zu vermerken, die zum Teil der nicht immer ausreichenden Forschungslage zu schulden sind, zum Teil dem Ausblenden der japanischsprachigen Literatur, zum Teil aber auch auf Kittels Ansatz zurückzuführen sind.
Das Buch enthält eine Reihe sprachlicher (insbesondere bei der Transkription japanischer Begriffe) und auch inhaltlicher Detailfehler in den Passagen zu Japan, wobei Letztere sich vor allem auf Ausführungen zur japanischen Geschichte beziehen, die vor dem eigentlichen Untersuchungszeitraum Kittels liegen. So haben die Shôgune die Kaiser nicht erst seit dem Beginn der Edo-Zeit 1603 entmachtet (27); war Japan im Altertum auch nicht, wie von Kittel suggeriert, durch eine "ausländische Macht" besetzt (30). Das Gebäude, in dem das Tôkyô-Tribunal stattfand, war vor 1945 nicht die "Kaiserliche Militärakademie" (44), sondern zunächst die Offiziersschule des Heeres (Rikugun shikan gakkô), später, im Verlaufe des Krieges, dann Sitz des Kaiserlichen Hauptquartiers (Daihon'ei) usw.
Eine weitere strukturelle Schwäche des Bandes ergibt sich aus der Tatsache, dass Kittel den Forschungsstand zu Japan nicht vor dem Hintergrund der japanischen Forschung oder auch von vergleichenden Quellenstudien kritisch zu reflektieren vermag. Dieses Defizit sei an einer Stelle kurz aufgezeigt. Zu Recht verweist Kittel in seinen Ausführungen zur staatlichen Geschichtspolitik nach Wiedererlangung der Souveränität 1952 am Beispiel des notorischen Schulbuchzulassungsverfahrens auf Versuche insbesondere des Kultusministeriums, eine affirmative Sicht auf die jüngste Vergangenheit durchzusetzen und kontrastiert diese mit den Zuständen in der Bundesrepublik, wobei er zu dem Schluss kommt, dass ähnliche "restaurative Eingriffe [...] in der Bundesrepublik ganz und gar unvorstellbar gewesen" seien (112). Dieser Befund ist in dieser Form sicherlich richtig. Ein Vergleich der Darstellung der jüngeren konflikthaften Vergangenheiten in japanischen und deutschen Schulbüchern führt zu dem einigermaßen überraschenden Ergebnis, dass diese in den 50er- und frühen 60er-Jahren in Japan trotz aller geschichtspolitischen Interventionen des Kultusministeriums weit (selbst-)kritischer als in der Bundesrepublik ausfiel.
Insbesondere die Darstellung der Beziehungsgeschichte Japans und Koreas vor dem Krieg war offener und korrekter (im Sinne der UNESCO-Kriterien) als etwa die Passagen in den frühen bundesdeutschen Schulbüchern zu den deutsch-polnischen Beziehungen vor dem Zweiten Weltkrieg. Dieser Befund kehrt sich freilich für die Zeit seit den 1970er-Jahren und insbesondere in der Gegenwart wieder eindeutig um.
An kritischen Stimmen zum Umgang mit der jüngsten Vergangenheit durch den japanischen Staat und die (rechts-)konservativen Eliten in Politik, Bürokratie und Öffentlichkeit hat es in der japanischen Öffentlichkeit nie gefehlt, und zwar weder auf der Linken (in der mächtigen Lehrergewerkschaft oder der marxistischen oder linksliberalen Historiografie, der linken und liberalen Presse) noch auch innerhalb der gemäßigten Kräfte innerhalb der LDP. Was jedoch, und dies ist vielleicht der wichtigste Unterschied zur Lage in der Bundesrepublik, bisher nicht gelang, ist die Etablierung eines "nationalen" erinnerungspolitischen Konsenses. An dieser Stelle ergibt sich das Problem, ob ein Partialvergleich im Sinne Osterhammels, den Kittel anstrebt, tatsächlich in der Lage ist, die japanischen Befunde korrekt zu interpretieren. Letztlich muss dieser Befund weit stärker als von Kittel geleistet vor dem Hintergrund der einzelnen Akteure, ihren Motivlagen und den Bedingungen ihres Handels, der Strukturen des politischen Systems und der Gesellschaft in Japan diskutiert werden, muss gefragt werden nach der Relevanz des Themas Vergangenheit für die japanische Gesellschaft und Politik nach 1945. Denn wenn der gesellschaftliche und politische Rahmen so divergent ist, wie zwischen Deutschland und Japan, können Partialvergleiche Ähnlichkeiten suggerieren, die in einer umfassenderen Perspektive nicht bestehen.
Während etwa in der japanischen Diskussion insbesondere im linken und liberalen Spektrum die Tendenz besteht, die Vergangenheitsthematisierung in Deutschland insgesamt als Vorbild für Japan darzustellen, hat Kittel bisweilen die Tendenz, Einzelphänomene auf die gleiche Stufe zu stellen. Das ist für einige Bereiche sicherlich berechtigt, führt aber immer wieder zu inhaltlichen und methodischen Schwierigkeiten. So waren in Japan die USA die einzige Besatzungsmacht, wodurch jene Spannung unter den Alliierten fehlt, die sich in Deutschland durch die Teilung bekanntlich noch verschärfte. Vor allem aber neigt Kittel dazu, eine prinzipielle Gemeinsamkeit zu postulieren, bei einem gleichzeitigen Betonen von Unterschieden in Einzelheiten. Seine Darstellung ist dabei für die Teilaspekte sachlich jeweils richtig - sein Verfahren verfehlt aber die eigentliche Herausforderung der vergleichenden Analyse, Phänomene in ihrem Kontext zu analysieren und damit Konstellationen und Zusammenhänge zu bestimmen, die verglichen werden können. Dieser - auch theoretischen - Herausforderung stellt sich die Studie zu wenig.
Wenn Kittel hervorhebt, dass der Holocaust einen "wesentlichen Grundtatbestand" darstelle, der beide Länder unterscheide, ebenso wie die politischen Systeme des Nationalsozialismus und des japanischen Ultranationalismus sich gravierend unterschieden - so legt das die Frage nahe, ob die divergenten Vergangenheitsthematisierungen in den Nachkriegsdemokratien nicht anderen Faktoren geschuldet sind.
Wenn Kittel zu recht bemerkt, dass der japanischen Demokratie eine sehr viel weitergehende Integration der Ehemaligen, als es in Deutschland geschah, nicht geschadet habe, verweist das auf die Frage nach den Bedingungen der demokratischen Stabilität und der gesellschaftlichen Liberalisierung in beiden Gesellschaften. Analysierte man diese im Vergleich, dann scheint sich der Stellenwert zu relativieren, welcher der Vergangenheitsbewältigung in diesem Zusammenhang immer beigemessen wird - sowohl für die bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte als auch für die japanische.
Manfred Kittel: Nach Nürnberg und Tokio. "Vergangenheitsbewältigung" in Japan und Westdeutschland 1945 bis 1969 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte; Bd. 89), München: Oldenbourg 2004, 201 S., ISBN 978-3-486-57573-6, EUR 24,80
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