Kriegsgefangenschaft war während des Zweiten Weltkriegs ein Massenschicksal. Um die 30 Millionen Soldaten mussten Monate, wenn nicht Jahre hinter Stacheldraht verbringen. Selbst unter den günstigsten Bedingungen - wenn die Gewahrsamsmacht die Bestimmungen der Genfer Kriegsgefangenenkonvention von 1929 korrekt einhielt - bedeutete dies erzwungenes Zusammenleben mit vielen anderen auf engstem Raum, den Verlust jeglicher Privatsphäre, schlechte Ernährung, für einen großen Teil der Gefangenen harte Arbeit und vielfältige Gefährdungen. Die Masse der Gefangenen - die sowjetischen Gefangenen und die italienischen Militärinternierten in deutscher Hand, die deutschen Gefangenen in der UdSSR und die Gefangenen der Japaner in Ostasien - war aber dem Schutz der Genfer Konvention entzogen. Ihr Dasein war bestimmt von jahrelanger schwerster Zwangsarbeit bei völlig unzureichender Ernährung und vom täglichen Sterben ihrer entkräfteten Kameraden.
Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer Tagung zum 10-jährigen Bestehen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgenforschung in Graz im Jahr 2003. Die Herausgeber nennen die 26 Artikel bescheiden eine "Annäherung an die Extremsituation Kriegsgefangenschaft aus unterschiedlichen Perspektiven" (16). Der Band ist freilich mehr als das.
Die Aufsätze sind unter fünf Fragestellungen gefasst: Kriegsgefangenschaft als internationales Forschungsthema; Kriegsgefangene in der Hand der Westalliierten; westliche Gefangene in deutscher Hand; Kriegsgefangene in sowjetischem Gewahrsam; sowjetische und polnische Gefangene in deutscher Hand. Die beiden letzten Themen bilden mit mehr als der Hälfte der Artikel den Schwerpunkt des Bandes.
In den letzten Jahren ist über Kriegsgefangenschaft erheblich mehr geforscht worden als in früheren Jahren. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass nach dem Zusammenbruch der UdSSR in den Archiven im ehemaligen sowjetischen Machtbereich ein enormer Quellenfundus zugänglich wurde.
Ziel des Bandes war es nicht, knappe Gesamtdarstellungen des Schicksals einzelner nationaler Gefangenengruppen zu geben (eine Ausnahme ist der Beitrag über die polnischen Kriegsgefangenen in deutschen Lagern), vielmehr werden höchst unterschiedliche Aspekte der Gefangenschaft sehr informativ behandelt. Das reicht von allgemeinen Themen wie der Entwicklung der völkerrechtlichen Bestimmungen vom 19. Jahrhundert bis 1945 (Rüdiger Overmans in einem sehr anregenden Beitrag) über die Bemühungen des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz, vor konkurrierenden Hilfsorganisationen die führende Rolle zu behaupten, bis zur ganz speziellen Frage nach dem Schicksal von etwa zwei Dutzend österreichischen Gefangenen bei sowjetischen Partisaneneinheiten.
Reizvoll ist, dass manche Aspekte aus der Sicht der jeweils beteiligten Nationen behandelt werden. So schreibt Harald Knoll über das Schicksal österreichischer Gefangener, die als Kriegsverbrecher verurteilt wurden, während der russische Historiker Vladimir Motrevitch über verurteilte Kriegsgefangene im Gebiet Sverdlovsk berichtet. Diese doppelte Sicht wurde nicht zuletzt durch die vielfältigen Verbindungen möglich, die der Leiter des Ludwig Boltzmann-Instituts, Stefan Karner, mit seiner Arbeit seit den frühen Neunzigerjahren geknüpft hat.
Einige Beiträge verdienen besondere Erwähnung. Andreas Hilger arbeitet in seinem Beitrag über die Repatriierung der deutschen Kriegsgefangenen in der UdSSR in einer nüchternen Analyse heraus, dass wirtschaftliche und außenpolitische Erwägungen, nicht ideologische Motive die immer wieder hinausgeschobene Repatriierung der deutschen Gefangenen verzögerten. Die ursprüngliche sowjetische Konzeption der Gefangenenbehandlung, die sich an den völkerrechtlichen Grundsätzen orientierte, verlor bald an Bedeutung, da angesichts der Zerstörungen des Krieges das Interesse an der Ausnutzung der Arbeitskraft der Gefangenen dominierte. Die hohe Sterblichkeit war sowohl Folge der verzweifelten Ernährungslage des Landes wie auch der Unfähigkeit der Zentrale, die Erfordernisse an den Möglichkeiten vor Ort auszurichten. Davon waren aber die Gefangenen aller Feindnationen gleichermaßen betroffen - auch darin sieht Hilger einen wichtigen Unterschied zur nationalsozialistischen Politik den sowjetischen Gefangenen gegenüber.
Mehrere Beiträge berühren ein Projekt, über das Rolf Keller ausführlicher berichtet. Keller und Reinhard Otto hatten Anfang der Neunzigerjahre im Zentralarchiv des russischen Verteidigungsministeriums in Podolsk einen erheblichen Teil der von der Wehrmacht erstellten und verloren geglaubten Personalunterlagen der sowjetischen Gefangenen gefunden. Inzwischen sind, auch aus anderen Archiven der ehemaligen UdSSR, rund 750.000 Personalien erfasst, also die von etwa einem Siebtel der sowjetischen Gefangenen. Das daraus entstandene deutsch-russisch-weißrussische Gemeinschaftsprojekt erschließt mit der EDV-Erfassung aller Daten die Quellenbestände nicht nur für vielfältige Fragestellungen der historischen Forschung. Es dient auch einem sehr wichtigen humanitären Zweck: Es eröffnet für viele Angehörige der in Gefangenschaft Umgekommenen endlich die Möglichkeit, über deren Verbleib Klarheit zu gewinnen. Da die überlebenden sowjetischen Gefangenen vom Staat bis zum Ende der Sowjetzeit als "feige Deserteure" diskriminiert wurden - selbst von der Gestapo in die KZs selektierte Gefangene galten als Kollaborateure -, ermöglichen die Daten auch ihre Rehabilitierung.
Die westalliierten Gefangenen in deutschem Gewahrsam wurden weitgehend nach der Genfer Konvention behandelt. Danach waren Offiziere und Unteroffiziere nicht zur Arbeit verpflichtet. Für sie war der Kampf gegen die Monotonie des Lagerlebens eine stete Herausforderung, kulturelle und sportliche Aktivitäten gewannen deshalb eine große Bedeutung. Andreas Kusternig beschreibt, wie französische Gefangene des Offizierslagers XVII A im niederösterreichischen Waldviertel die Organisation einer "Lageruniversität" sehr erfolgreich mit Widerstandsaktivitäten verbanden. Barbara Stelzl-Marx zeichnet in ihrem Beitrag die Entwicklung nach, die von den lebhaften Theateraktivitäten amerikanischer Unteroffiziere im Stalag XVII B zu Billy Wilders erfolgreichem Film "Stalag 17" und schließlich zu der seit den Siebzigerjahren auch im deutschen Fernsehen vielfach wiederholten amerikanische Fernsehserie "Hogan's Heros" ("Ein Käfig voller Narren") führte.
Hervorzuheben ist auch die für einen Sammelband dieser Art ungewöhnlich reiche Bebilderung, die die Vorstellungskraft des Lesers unterstützt. Einige kleinere Fehler hätten bei sorgfältiger Lektorierung vermieden werden können. Sie beeinträchtigen zwar nicht den Wert des Ganzen, wohl aber stellenweise die Verständlichkeit. Beim Übersetzen wurden mehrfach nicht die deutschen Fachbegriffe verwendet, sondern Begriffe aus der Fremdsprache wörtlich ins Deutsche übersetzt. Die "Heeresbezirke" (515) sind wohl die Wehrkreise. Was aber sind die "Straforgane", von denen sich "das Oberkommando" (welches?) zu distanzieren suchte, was sind die "normativen Protokolle" der Wehrmacht (494 f.), was ist ein "preziös bestimmte[r] Machtbereich" in einem Lager (514)? Alfred Jodl war Chef des Wehrmachtführungsstabes, nicht "Stabschef des Oberkommandos des Heeres" (495), der Generalquartiermeister des Heeres hieß Eduard und nicht Robert Wagner, der Chef des Reichsicherheitshauptamtes Reinhard und nicht Heinrich Heydrich (493). Und es ist nicht unwichtig, ob eine bestimmte Gefangenengruppe "um" 17.500 oder 20.000 Personen anstieg oder - wie es richtig heißen müsste - auf die jeweilige Zahl (509, 511).
Gunter Bischof / Stefan Karner / Barbara Stelzl-Marx (Hgg.): Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Gefangene - Lagerleben - Rückkehr. Zehn Jahre Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung. Unter Mitarbeit von Edith Petschnigg (= Bd. 4), München: Oldenbourg 2005, 599 S., ISBN 978-3-486-57818-8, EUR 29,80
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