Die vorliegende Monographie wurde 2005 als Dissertation an der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum angenommen. Die Autorin geht der Frage nach, inwieweit sich germanistische Wissenschaft und deutsche Nationalbewegung bedingt haben und wie groß der Beitrag der frühen Germanisten zur Nationsbildung war. Die beiden ersten deutschen Germanistentage 1846 in Frankfurt/Main und 1847 in Lübeck bieten dafür ein geeignetes Untersuchungsfeld, da auf wissenschaftlicher Basis grundlegende Fragen im Zusammenhang mit der deutschen Nationswerdung diskutiert wurden. Basierend auf Zeitungsberichten, Briefen der Hauptorganisatoren und den beiden Veröffentlichungen der Germanisten-Versammlungen, stellt Netzer diese Debatten in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung: die "Schleswig-Holstein-Frage", das "deutsche Recht" und die "Geschworenengerichte", "Auslandsdeutsche" und "deutsche Kolonisation", sowie ausgewählte Einzelreden und Verhandlungen in den Sektionen "juristische", "historische" und "sprachliche" Abteilung. Der Analyse der inhaltlichen Debatten vorausgestellt sind ein Kapitel zur "Organisation der Versammlung" und eines zu acht ausgesuchten "Teilnehmern".
Die der Arbeit zugrunde liegende These geht von einer engen Verbindung zwischen Wissenschaft und Politik im Vormärz aus, da die Teilnehmer der beiden Germanistentage als die "intellektuelle Avantgarde der Nationalbewegung zu verstehen" (18) sind. Im Unterschied zu Klaus Röthers Untersuchung [1] legt sie jedoch den Schwerpunkt auf die "personelle, strukturelle und ideelle Verbindung zur Nationalbewegung" (18), die exemplarisch herausgearbeitet wird. Dieser grundsätzlich richtige Ansatz stellt jedoch eine Simplifizierung dar und müsste qualifiziert werden. Dieter Langewiesche und andere konnten eindrucksvoll nachweisen, dass es nicht nur keine einheitliche Nationalbewegung gab, sondern die kleindeutsche Lösung zumindest in Süddeutschland bis zum Ersten Weltkrieg durchaus nicht als endgültige kleindeutschen Lösung der Deutschlandfrage gesehen wurde, denn "nicht alle zuvor beschrittenen Wege [führten] ... dorthin und die nicht zuende gegangenen müssen keine historischen Sackgassen gewesen sein." [2]
Diese Komplexität wird in der ausführlich behandelten Organisation der Versammlungen sichtbar (Kapitel 2). Dabei sind die Abschnitte besonders interessant, die die Ein- beziehungsweise Ausladungspolitik der federführenden Organisatoren Friedrich Christoph Dahlmann, Jacob Grimm und August Ludwig Reyscher betreffen, da sie die politischen Implikationen der Wissenschaft im Vormärz deutlich machen. Die Annahme, dass durch die öffentliche Einladung "auf den ersten Blick, keine geschlossene Tagung mit einem ausgewählten Teilnehmerkreis" geschaffen werden sollte (33), kann Netzer mannigfach widerlegen. Zum einen wurden politisch missliebige Germanisten ausdrücklich ausgeschlossen (33). Zum anderen sollten katholische Germanisten aus Süddeutschland von vornherein nicht beachtet werden, da sie sich durch ihre religiösen beziehungsweise politischen Standpunkte wissenschaftlich (!) disqualifizierten, so Jacob Grimm (42). So wurde laut Augsburger Allgemeine Zeitung mit Görres, Kopp, Philipps, Chmel und Karajan "die Hälfte des deutschen Vaterlandes" nicht berücksichtigt (43). Vor solchen Ergebnissen ist es dann verwunderlich, wenn Netzer im Fazit lapidar von "der Nationalbewegung", "Einheit der Nation" (273), und "eine[r] gemeinsame[n] nationale[n] Vergangenheit" (276) schreibt. Hier hätte der Arbeit eine genauere Formulierung gut getan, da es sich bei den untersuchten Wissenschaftlern zumeist um die Verfechter einer protestantischen, auf Preußen zentrierten Vorstellung von einheitlicher Nation und Staat handelt. Diese Widersprüche schmälern die ansonsten klar strukturierte Arbeit.
Daran anschließend muss die Frage nach den politisch-wissenschaftlichen Gelehrtennetzwerken der Teilnehmer der beiden Germanisten-Versammlungen ausgedehnt werden auf die Gelehrten, die nicht eingeladen waren beziehungsweise fern blieben. Es bleibt im Ansatz deutlich, dass die Gründung der Germanistik, wie bei allen Disziplinen, einen "sehr langfristige[n] Prozess" und "ein hochkomplexes, gelegentlich diffuses oder doch zumindest diffus anmutendes Beziehungsgeflecht" [3] darstellt. Bis es zu der Germanistik kam, mussten noch viele Grabenkämpfe zwischen Geschichts-, Rechts- und Sprachwissenschaft ausgetragen werden. Dies ist auch anhand der Teilung der Tagungen in drei Sektion zu sehen: So gab es zumindest beim ersten Treffen in Frankfurt fachinterne Verhandlungen der juristischen, der historischen und der sprachlichen Abteilungen. Diese wurden aus organisatorischen Gründen für Lübeck gestrichen, auch um ein Kennenlernen aller "germanistisch" Arbeitenden zu ermöglichen.
Zu den inhaltlichen Unstimmigkeiten, die sich durch die Untersuchung ziehen, kommen kleinere technische Unzulänglichkeiten, die den Eindruck der Arbeit schmälern. So gibt Netzer die Teilnehmerzahl für Lübeck mit 171 an (79); in der nach Herkunft sortierten Tabelle können jedoch nur 161 Teilnehmer ausgemacht werden; das Album zur Erinnerung an die Zweite Germanisten-Versammlung zu Lübeck weißt indes 167 Teilnehmer auf, von denen 113 im Album unterschrieben haben. Dies setzt sich fort, indem etwa zeitgenössische Literatur mit direktem Bezug zu den Germanistentagen unter Literatur und nicht unter Quellen eingeordnet wurden. Während die Dichte der benutzten Quellen adäquat für die Fragestellung erscheint, sind gerade im Bereich der Nationalismus-Forschung zum 19. Jahrhundert Lücken im Literaturverzeichnis auszumachen, aus denen sich die genannten inhaltlichen Unstimmigkeiten erklären lassen. Das Fehlen eines Namensindexes bei einer Arbeit, die sich auch um die Aufdeckung von Netzwerken bemüht, ist durch die Zentrierung der Arbeit auf die Hauptorganisatoren noch zu verschmerzen.
In ihrer stark empirischen Studie schneidet Katinka Netzer Fragen zu Themenkomplexen an, die über die reine Beschreibung der Germanisten-Versammlung hinausgehen. So sind für weitergehende Forschungen besonders detaillierte Aussagen über die Gelehrtennetzwerke und politische Überzeugungen im Vormärz vonnöten, die über die Gebrüder Grimm hinausgehen. Fächerübergreifend muss zudem der Frage nach der Verflechtung von wissenschaftlichen und politischen Diskursen zu dieser Zeit in den "germanistischen" Disziplinen der Sprach-, Rechts- und Geschichtswissenschaft nachgegangen werden. Die vorliegende Arbeit kann dies nicht leisten. Hierzu bedarf es, neben weiteren Einzelstudien, breit angelegter, multidisziplinärer Forschungsverbünde.
Anmerkungen:
[1] Klaus Röther: Die Germanistenverbände und ihre Tagungen. Ein Beitrag zur germanistischen Organisations- und Wissenschaftsgeschichte, Köln 1980, 10-85.
[2] Dieter Langewiesche: Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichsnation. Über Föderalismus und Zentralismus in der deutschen Nationalgeschichte, in: Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, hg. von Dieter Langewiesche / Georg Schmidt, München 2000, 215.
[3] Lothar Blum: Die Gebrüder Grimm und der Beginn der Deutschen Philologie. Eine Studie zu Kommunikation und Wissenschaftsbildung im frühen 19. Jahrhundert, Hildesheim-Zürich 1997.
Katinka Netzer: Wissenschaft aus nationaler Sehnsucht. Die Verhandlungen der Germanisten 1846 und 1847, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2006, 291 S., 7 Abb., ISBN 978-3-8253-5133-5, EUR 35,00
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.