Nach mehreren Jahrzehnten, in denen sich die öffentliche Diskussion Großbritanniens intensiv der kolonialen Vergangenheit des Landes zuwandte, haben seit etwa einem Jahrzehnt Studien zum Britischen Empire wieder Konjunktur. Die einflussreichste Strömung dieser jüngeren Empire-Geschichtsschreibung ist ohne Zweifel die "New Imperial History". Im Gegensatz zur traditionellen imperialen Geschichtsschreibung, welche den überragenden Einfluss Großbritanniens auf die Kolonien betonte, stellt diese die Verflochtenheit der Geschichte von Metropole und Kolonien in den Vordergrund. Anstelle der Vorstellung von getrennten kulturellen- und geografischen Räumen der Inselnation auf der einen und der weltweit verstreuten Territorien auf der anderen Seite gehen die Vertreter der "New Imperial History" von einem gemeinsamen Raum aus, in dem der Transfer von Ideen und Praktiken nicht nur von der Metropole in die Kolonien, sondern in alle möglichen Himmelsrichtungen, mithin quer durch den gesamten imperialen Raum stattfand (vom Mutterland in die Kolonien und vice versa oder von einer Kolonie in eine andere).
Gerade hier setzt das von den historisch orientierten Kulturgeografen (historical geographers) David Lambert und Alan Lester herausgegebene Werk an. Von den Ansätzen der "New Imperial History" ausgehend und die Wechselseitigkeit von Wirkungen sowie die Interaktion zwischen Kolonien und Metropole in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stellend, platziert sich der Band im Rahmen des "spatial turn" in der Geschichtswissenschaft und greift das zentrale, wenngleich in der historischen Forschung zum Britischen Empire kaum explizit behandelte Thema der raumkonstituierenden Kraft von Netzwerken auf. Galt das britische Kolonialreich als ein gemeinsam geteilter Raum, so bestand es gleichzeitig aus spezifischen Orten, Schauplätzen der historischen Ereignisse bzw. der imperialen Erfahrung, die sowohl die imperiale Herrschaftsideologie als auch -praxis grundlegend beeinflussten. Während sich die "New Imperial History" bislang eher mit den Verbindungen zwischen der Metropole und einer spezifischen Kolonie befasst hat, gehen die Herausgeber des Bandes von einer "vernetzten" Konzeption der Verflochtenheit des gesamten imperialen Raums ("a networked conception of imperial interconnectedness") (11) aus, von einer aus und durch Netzwerke(n) bestehenden imperialen Räumlichkeit ("an imperial spatiality consisting of networks") (13) oder eben von einem aus multiplen "Bewegungskurven" (trajectories) bestehenden Raum. Vor diesem Hintergrund erschließt sich die Bedeutung, die Orten (in den Kolonien und im Mutterland) des "transimperialen" Raums in dem vorliegenden Band zukommt. Sie gelten eben nicht als in sich geschlossene Entitäten, sondern als Knotenpunkte oder eben Konstellationen multipler Bewegungskurven, durch welche die (sich immer ändernden, subjektiven) lokalen Erfahrungen und Wahrnehmungen der kolonialen Akteure miteinander verbunden wurden. Denn Bewegungskurven und Netzwerke bestanden unter anderem aus Individuen, die als eine Art Dauerpendler zwischen der Metropole und den verschiedenen Kolonien teilweise ihr ganzes Leben verbrachten. Dadurch erlebten und gestalteten sie sowohl die kolonialen Orte als auch den gesamten imperialen Raum mit und fungierten gleichzeitig als "Erfahrungs-Träger" von multiplen Orten des Empire. Der biografische Ansatz des Bandes wird damit im Sinne einer "networked spatial imagination of the British empire" (21) begründet.
Neben der ausführlichen, konzeptionell angelegten bzw. gezielt in der Empire-Historiografie positionierten Einführung werden zwölf "imperiale Karrieren" verfolgt - jeweils von acht Männern und vier Frauen (darunter ein Epilog von Catherine Hall, der sich auf das Leben der Harriet Martineau bezieht). Dabei stehen Menschen ganz unterschiedlicher Berufe im Mittelpunkt: von Kolonialbeamten über Missionare und Unternehmer bis hin zu einer berühmten kreolischen Krankenpflegerin aus Jamaika. Aber was die Aufsätze ineinander fügt, sind nicht die Personen, die Berücksichtigung finden, sondern vielmehr die Orte, die die sehr zerstreuten Karrieren innerhalb des Empire verbinden und sowohl dem Band als auch dessen Hauptthese eine große Kohärenz verleihen. Irland spielt beispielsweise für einige Beiträge eine zentrale Rolle, entweder als ursprünglicher Ort des formativen Einflusses (wie z.B. auf unterschiedliche Art und Weise bei Leigh Dale in "George Grey in Ireland: narrative and network" und Zoë Laidlaw in "Richard Bourke: Irish liberalism tempered by empire") oder eben als Ort des Experimentierens, wie dies bei Val MacLeish in "Sunshine and sorrows: Canada, Ireland and Lady Aberdeen" deutlich wird. In beiden Fällen ist Irland ein Ort in einer vernetzten Kette von Orten, die die Akteure bereisen und über die Ideen und Praktiken transferiert werden. Im Verständnis der Autoren des Bandes sind Orte nicht passiv und statisch, vielmehr bieten sie den Akteuren erhebliche Änderungs- bzw. Anpassungsmöglichkeiten, wie dies die Aufsätze von Matthew Brown "Gregor MacGregor: clansman, conquistador and coloniser on the fringes of the British empire" und Alan Lester/David Lambert "Missionary politics and the captive audience: William Shrewsbury in the Caribbean and the Cape Colony" demonstrieren. Damit wird die in der Empire-Geschichte lang gepflegte These einer gradlinigen, einheitlichen, vom "Zentrum" aus auf die "Periphere" übertragenen, "imperial ideology", die das ganze Empire durchdrungen habe, widerlegt. Denn, so die These des gesamten Bandes, Herrschaftsideologie und Praxis seien nie starr und unveränderbar gewesen, sondern genau das Gegenteil: Sie hätten sich in ständiger Auseinandersetzung mit den lokalen, örtlichen Gegebenheiten entwickelt und verändert.
Diese These der Anpassungsfähigkeit der Herrschaftspraktiken des Britischen Empire an die lokalen Umstände der verschiedenen Kolonien ist an sich nichts Neues, aber das Hauptverdienst der Autoren und Herausgeber des Bandes liegt darin, dass sie die sehr unterschiedlichen Lokalitäten des Britischen Empire in einem fokussierten und damit systematisch anwendbaren Vergleichsmuster und analytischen Rahmen zu fassen vermögen. Dabei ist es den Autoren gelungen, die Fluidität des Transfers von Ideen und Praktiken in jegliche Richtung innerhalb (unter Umständen auch außerhalb) des imperialen Raums darzustellen. Der biografische Ansatz scheint in dieser Hinsicht durchaus sinnvoll zu sein, denn nur anhand solcher Mikrostudien ist es überhaupt realistisch, das Chaotische, das Ungradlinige, das Improvisierte sowohl bei der Gestaltung von imperialer Herrschaftspolitik als auch bei der generellen Erfahrung des Kolonialismus aufzugreifen. Dennoch ist der Band keine Sammlung von Biografien. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die kluge Mischung von multiplen Erzählperspektiven, an denen der eindeutige Einfluss der "Cultural Studies" zu sehen ist: Gute Beispiele dafür sind u.a. der o.g. Aufsatz von Leigh Dale, in dem die Autorin versucht, die Karriere Greys anhand von einem "textual network through which Grey's reputation has been made and unmade" (145) aufzugreifen; der Beitrag von Anita Rupprecht ("Wonderful adventures of Mrs Seacole in many lands (1857): colonial identity and the geographical imagination"), in dem sie das koloniale Leben Mary Seacoles aus deren Autobiografie heraus konstruiert; und Anna Johnstons Studie "A blister on the imperial antipodes: Lancelot Edward Threlkeld in Polynesia and Australia" zur Missionartätigkeit Threkelds selbst, aber eben auch zur Reaktion der "London Missionary Society" auf seine Berichte.
Auch bei einem sehr gelungenen Band bleiben am Ende einige Kritikpunkte. Zum einen - wie bei Sammelbänden kaum zu vermeiden - sind nicht alle Aufsätze gleichermaßen in die theoretische Fragestellung eingebettet. In ihrem Beitrag "Mary Curzon: 'American Queen of India' " z.B. problematisiert Nicola J. Thomas zwar die amerikanische Identität der Vizekönigin Indiens bzw. ihre Sehnsucht nach einer Heimat, von der sie durch Ehe und die Karriere ihres Mannes zweifach entfernt war; dennoch bleibt unklar, inwiefern die verschiedenen Schauplätze ihres Lebens ein Netzwerk imperialen Selbstverständnisses bildeten. Etwas mehr Kritik gilt der Entscheidung der Herausgeber, fast ausschließlich (ausgenommen der Beitrag zur Mary Seacole) bei den Leben der Kolonisierenden und dadurch weiterhin bei der binären Trennung zwischen der kolonialen und antikolonialen Erfahrung zu bleiben. Die Begründung "Fewer colonised and anti-colonial subjects were themselves as voluntarily mobile in this period as the largely colonial figures included in this book" (12) scheint nicht gerade plausibel zu sein. Denn gerade beim biografischen Ansatz ist die Frage der Quantität wohl deutlich geringer zu veranschlagen als die der qualitativen Erfahrung des Kolonialismus. Ferner kann mittlerweile auf befruchtende Forschungen zu Reisenden aus den Kolonien ins Mutterland im 19. Jahrhundert zurückgegriffen werden, für die das Britische Empire genauso als ein aus vernetzten Orten bestehender Raum galt.[1] Die Berücksichtigung der Sicht der "Kolonisierten" hätte zu einem ganzheitlichen Bild des imperialen Raums beitragen können, anstelle eines solchen, das zwischen Kolonialherren und Untertanen trennt. So hätte auch der spannende Aufsatz über Mary Seacole einen angemesseneren Platz in dem Band finden können. Diese Kritik soll indes keinesfalls das große Verdienst des Bandes um den Aufbau einer raumorientierten Geschichte des Britischen Empires schmälern.
Anmerkung:
[1] Z.B. Peter Fryer: Staying power: the history of black people in Britain, London, 1984; Rozina Visram: Ayahs, Lascars and Princes: Indians in Britain, 1700-1947, London 1986; John M. MacKenzie/ Shompa Lahiri (Hrsg.): Indians in Britain: Anglo-Indian Encounters, Race and Identity 1880-1930, London 2000.
David Lambert / Alan Lester (eds.): Colonial Lives Across the British Empire. Imperial Careering in the Long Nineteenth Century, Cambridge: Cambridge University Press 2006, xv + 376 S., ISBN 978-0-521-84770-4, GBP 55,00
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