Das hier anzuzeigende Buch versammelt Texte, die vom Verfasser, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Marburg, über einen Zeitraum von 20 Jahren verfasst wurden. Sie dokumentieren somit eine langjährige, intensive und konzentrierte Beschäftigung Schneiders mit Johann Arndt, dessen "Vier Bücher vom Wahren Christentum" (1605-1609/10) das wohl meistgelesene Erbauungsbuch des Luthertums sind. Gleichwohl wird Arndt schon im Titel als ein "fremder" bezeichnet. Es ist diese durchweg spürbare Spannung, die dem Buch seine eigentümliche Faszination verleiht. Denn die einzelnen Beiträge zeigen eindrücklich, wie eine zunächst einigermaßen vage wahrgenommene Person - Schneiders Hinweise auf die desolate Forschungslage in den Beiträgen aus den frühen 1980er Jahren sind mitnichten konventionelle Formel! - durch insistierendes historisches Forschen klarere Konturen gewinnt, wobei dieser Klärungsprozess seinerseits neue, nicht unbeträchtliche hermeneutische Probleme aufwirft.
Schneiders historische Interessen gelten zum einen der insgesamt spärlich dokumentierten Biographie Arndts, zum anderen dem literaturgeschichtlichen Hintergrund seiner Schriften. Was den ersten Schwerpunkt betrifft, so ist der zweifellos interessanteste Text eine Recherche zu Arndts Studienzeit (83-129; vergleiche auch: 130-134). Mit großem Scharfsinn werden die (wenigen) erhaltenen Dokumente und Nachrichten gesichtet. Überraschend und provokant ist das Resultat der Recherche: Der spätere Pfarrer und Superintendent Arndt habe niemals Theologie studiert. Vielmehr ließ er auf das grundlegende Artistenstudium ein Medizinstudium folgen (115), wobei sein Interesse von Anfang an der paracelsischen, nicht der galenischen Medizin galt (100-101). Auch wenn angesichts der insgesamt dürftigen Quellenlage diese These kaum alle Zweifler wird überzeugen können, so unterstreichen Schneiders Resultate in jedem Fall eindrücklich Arndts großes medizinisches (und das heißt praktisch: hermetisch-naturphilosophisches) Interesse zu allen Zeiten seines Lebens.
Eben diese Einsicht drängt sich Schneider jedoch ebenso durch seine quellenkritischen Studien zu Arndts Schriften auf. Dass Arndts Bücher weitgehend Kompilationen sind, ist schon in der unmittelbaren Auseinandersetzung um seine Person im 17. Jahrhundert herausgestellt worden (198-199). Zunächst stand sein Gebrauch der vorreformatorischen, mystischen Schriftsteller (Johannes Tauler, Thomas à Kempis) im Vordergrund. Polemisch wurde ihm vorgeworfen, sein "Wahres Christentum" sei in Wahrheit ein "wahres Taulertum" (so Lucas Osiander der Jüngere; zitiert bei Schneider, 199). Schneider kann im Einzelnen eine große Zahl weiterer Quellen nachweisen. Der erste Text des Bandes ist eine exzellente Untersuchung zu Arndts möglichem Gebrauch der altkirchlichen, so genannten makarianischen Homilien (9-42).
Bestimmt werden Schneiders Arbeiten jedoch durch den Versuch einer Präzisierung des Einflusses hermetischer und spiritualistischer Quellen in Arndts Büchern (zu Paracelsus besonders: 135-155; zu Valentin Weigel: 232-234; zur Vermittlung mystischer Texte durch die Spiritualisten: 211-214), wobei er nicht immer der typischen Gefahr quellenkritischer Arbeit entgeht, im Zweifelsfall alles aus Einflüssen erklären zu müssen. Um ein markantes Beispiel herauszugreifen: Warum muss Arndts in der Tat massive Kritik an theologischer Streitlust und mangelnder Frömmigkeit mit dem Einfluss spiritualistischer Schriften erklärt werden (so 232)? Arndts regelmäßige Versicherung, dass dies die zentralen religiösen Defizite seiner Zeit seien, ist völlig glaubhaft - zumal er mit einer solchen Beobachtung keineswegs allein steht, was Martin Brecht zu der berühmten These einer Frömmigkeitskrise im Protestantismus jener Zeit bewogen hat.
Die quellenkritischen und die biographischen Forschungen Schneiders konvergieren also in einem Bild Arndts als das eines Menschen, der stärker als bisher beachtet naturphilosophisch-hermetischen Ideen verpflichtet ist - und deshalb auch nicht überraschender Weise von Spiritualisten (154), Täufern (247-256) und später radikalen Pietisten wie Gottfried Arnold (148-149) rezipiert wird. An diesem Punkt stellt sich nun für Schneider eine prinzipiell anders geartete, nämlich hermeneutische Frage: Was bedeutet diese historische Rekonstruktion für das Gesamtverständnis von Arndt als Theologe, was für seine historische Kontextualisierung, seine Rezeption und seine immense Wirkungsgeschichte? Die Antwort ist in Varianten immer dieselbe: Arndt ist im Grunde kein Lutheraner (79-80; 237 und öfter). Er vertritt, wie Zinzendorf früh feststellt (78), eine Theologie, die fundamental im Gegensatz zu der des Reformators steht. Anders geartete Bekenntnisse Arndts, an denen es natürlich nicht mangelt, sind "verschleiernde Apologetik" (237). Dementsprechend wird auch die kirchliche Wirkung Arndts zu einer quasi verfälschenden Umdeutung dessen, was er eigentlich gemeint hat (154; 245-246), wogegen Lesarten seiner 'linken' Schüler immer wieder als Beleg für die Richtigkeit von Schneiders eigener Interpretation angeführt werden (205).
Die interessante Frage angesichts dieser apodiktischen Urteile ist natürlich, welchem Maßstab sie folgen. Leider findet sich eine solche Reflexion bei Schneider nicht, doch wird hinreichend klar, dass er theologische, nicht historische Kriterien anlegt: Es geht also um Arndts Übereinstimmung mit einem lutherischen Lehrbegriff, nicht darum, ob und wie er sich in das konfessionelle Luthertum seiner Zeit einordnet. Der Verfasser fragt also nicht empirisch, was das Luthertum an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert ausmacht. Er rechnet nicht mit der Möglichkeit, dieses könne pluraler gewesen sein als es die, wie er schreibt, "rechtsverbindlich" formulierten Bekenntnisschriften (242) vielleicht nahe legen.
Dabei könnten gerade die Beobachtungen, die der Verfasser zur Person und zum Werk Arndts macht, in dieser Hinsicht hochinteressante, weiterführende Fragestellungen generieren, sobald man bereit ist, sich diesen Perspektiven zu öffnen. Insofern zeigt sich aus der Sicht des Rezensenten an diesem Punkt die deutlichste Grenze der vorliegenden Arbeiten. Zu viele relevante Aspekte einer Kontextualisierung und Deutung Arndts bleiben blass oder werden nur schematisch ausgeführt: Die orthodoxe Schultheologie ist kaum mehr als eine Folie, deren partielle Übereinstimmung mit Arndts Thesen daher für Schneider offenbar nicht diskussionswürdig ist. Auch die politische und soziale Einbettung des Luthertums in der frühen Neuzeit bleibt als Hintergrund von Arndts Person und als Stimulans für sein Werk fast unbeachtet.
Schneiders Buch bietet solide gearbeitete und über weite Strecken regelrecht spannend zu lesende historische Detailarbeit, die einen wichtigen Beitrag zu der in den vergangenen 20 Jahren erheblich verbesserten Kenntnis Arndts geleistet hat. Besonders bemerkenswert ist die von ihm eindrücklich herausgestellte, enorme Bedeutung des naturphilosophisch-hermetisch-spiritualistischen Hintergrunds für Arndts Denken, auch wenn diese Einsicht gelegentlich zur Blickverengung gegenüber den sicherlich nicht zufällig schul- und konfessionsübergreifend ungeheuer einflussreichen Schriften Arndts führt.
Hans Schneider: Der fremde Arndt. Studien zu Leben, Werk und Wirkung Johann Arndts (1555 - 1621) (= Arbeiten zur Geschichte des Pietismus; Bd. 48), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, 288 S., ISBN 978-3-525-55833-1, EUR 59,90
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