In der sozialgeschichtlichen Forschung erfreuen sich fiskalische Quellen eines wachsenden Interesses. Zwar sind ihre Schwächen bekannt - u.a. erfassen sie meist nur einen Teil der Bevölkerung eines bestimmten geografischen Raumes - , doch liegen für die Zeit des Ancien Régime meist keine die Gesamtbevölkerung eines bestimmten Terrains erfassenden Quellen vor. Für den linksrheinischen Raum stehen derartige demografisch relevante Überlieferungen erst für die Zeit ab der französischen Besetzung (und 1801 nachfolgenden Annexion) zur Verfügung.
Der Jülicher Geschichtsverein veröffentlicht bereits seit 1985 unter der Federführung von Günter Bers Bearbeitungen von Bevölkerungsaufnahmen der Stadt Jülich und des sie umgebenden Landes. Für die Stadt Jülich sind so bisher Listen aus französischer (1799 [1], 1812 [2]) und preußischer Zeit (1858 [3]) ausgewertet worden. Mit der vorgelegten Arbeit über eine Bevölkerungsliste des Jahres 1745 hat Chantal Kröber nun eine relativ frühe Quelle des Ancien Régime erschlossen. Erklärte Zielsetzung ihrer Arbeit, so die Herausgeber im Geleitwort, ist eine Analyse der Sozialstruktur der Stadt am Ende des zweiten Schlesischen Krieges insbesondere hinsichtlich demografischer Spezifika, "so dass auch den Lesern, die an genealogischen Informationen interessiert sind, reichhaltiges Material geboten wird". Die Verfasserin selbst hat sich für ihre Arbeit als Aufgabe vorgenommen "nicht nur eine empirisch-statistische Auswertung historischer Fakten [vorzulegen], sondern auch [den] Versuch [zu unternehmen], die ermittelten Parameter in einen übergeordneten Kontext im besonderen Hinblick auf die Stadt Jülich, unter Berücksichtigung der politisch-rechtlichen, sozioökonomischen sowie konfessionellen Bedingungen der Zeit in Beziehung zueinander zu setzen." (7)
Den historischen Hintergrund markiert das 1745 durch den pfälzischen Kurfürsten und Herzog von Jülich-Berg, Karl Theodor, erlassene Edikt, demzufolge in seinen beiden Herzogtümern alle steuerpflichtigen Personen mitsamt denjenigen, die zu ihrem Hausstand gehörten, durch Amtleute vor Ort in Listen zu erfassen waren. Anzugeben waren die Ehepartner (Ehefrauen nicht namentlich), die Zahl der Kinder und die der Mägde und Knechte, jeweils unterschieden nach Alter (unter oder über zehn Jahre). Das Ergebnis der Erhebung, die überlieferten undatierten Listen von Jülich und Stetternich unter Einbeziehung eines Steuerheberegisters für das Dorf Broich, bilden die Hauptquellen der Arbeit. Ergänzend hinzugezogen wurden u.a. Ortsfamilienbücher und weitere Steuerheberegister.
Kröber hat ihre Arbeit in zwei etwa gleich große Teile gegliedert. Der erste beschäftigt sich in sechs Hauptkapiteln mit dem historisch-politischen Kontext, in dem die Listen entstanden, und beschreibt die sozialen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Stadt Jülich und ihrer Dörfer. Jülich war eine Garnisonsstadt, die sich im Jahr 1745 durch gute landwirtschaftliche Rahmenbedingungen auszeichnete und von ihrer verkehrsgünstigen Lage an einer der westeuropäischen Hauptverkehrsachsen vom Rhein in die Niederlande und zur Kanalküste profitierte. Für den linken Niederrhein nicht ungewöhnlich ist die Trikonfessionalität der Stadtbevölkerung zu dieser Zeit: Es lebten Katholiken, Reformierte und Lutheraner in Jülich. Außerdem gab es eine kleine Anzahl jüdischer Familien. Zu Jülich gehörten die Dörfer Stetternich und Broich. Kröber schildert die näheren Umstände, die die Erstellung der Listen begleiteten und grenzt die Entstehungszeit der Jülicher Liste unter Zuhilfenahme von Geburts- und Sterberegistern auf wenige Tage genau ein. Es folgen verschiedene statistische Untersuchungen vorwiegend demografischer Art.
Im Zusammenhang mit ihren Analysen ermittelt Kröber, neben den 1.807 in den Listen genannten, weitere Personen, die, weil nicht steuerpflichtig, in den Listen nicht aufgeführt wurden. Es handelt sich dabei vorwiegend um Klosterinsassen. Diese fließen allerdings genauso wenig in die statistischen Auswertungen ein wie die ebenfalls ermittelten ca. 1.600 Soldaten, die sich in der Garnison der Stadt zu dieser Zeit aufhielten und somit immerhin ca. 40% der Gesamtbevölkerung ausmachten.
Die Bevölkerungslisten selbst sagen nichts zur Konfessionalität der aufgeführten Einwohner aus. Kröber ordnet daher unter Zuhilfenahme von Ortsfamilienbüchern und weiterem Quellenmaterial die in den Listen genannten Haushalte konfessionell ein und ermittelt die prozentualen Anteile der verschiedenen Religionsgemeinschaften an der Gesamtbevölkerung. Im Rahmen dieser Auswertung macht sie auch die Haushaltsvorstände von neun jüdischen Familien namhaft (63 Personen) und stellt fest, dass es sich dabei bis auf eine Ausnahme (Händler) durchweg um Familien handelt, deren Hausvorstände sich als Schlachter betätigten.
Insgesamt bleibt diese Auswertung, so die Verfasserin selbst, ungenau: 27% der Haushalte konnten religiös bzw. konfessionell nicht eindeutig zugeordnet werden. Das Vorkommen von 'Mischehen' unter Christen erwähnt Kröber nur anhand eines Beispiels, ohne das Phänomen weiter zu untersuchen. Diese Unschärfe in der Auswertung ist repräsentativ für die folgenden Analysen. Das nächste Kapitel geht der Frage der Berufstätigkeiten nach. Die in den Listen durchaus vorzufindenden Mägde und Knechte bleiben dabei statistisch unberücksichtigt. Stattdessen werden die als Haushaltsvorstand genannten Tagelöhner erfasst und später in Verhältnis zu den Vorkommen in der französischen Bevölkerungsliste von 1799 gestellt. Diese Gegenüberstellung ist methodisch zwiespältig, da in der Liste von 1799 Berufsangaben zu allen Personen über 12 Jahren gemacht wurden. Berufsangaben zu den Ehefrauen und Kindern, speziell der über zehnjährigen, fehlen jedoch in den Listen von 1745 und verfälschen das Bild. Ein tabellarischer Vergleich der Anzahl der Nennungen einzelner Berufe mit ermittelten Daten aus der Bevölkerungsliste von 1799, an dieser Stelle übrigens einmalig, steht somit auf schwachen Füßen. Berufe, die 1799 genannt werden, aber 1745 nicht, fallen genauso durchs Raster wie zuvor anhand anderer Quellen ermittelte Berufe des Jahres 1745.
Im zweiten Teil kommen die Quellen selbst zum Abdruck. Es handelt sich dabei nicht um originalgetreue Wiedergaben im Sinne einer Edition. Die Autorin unterzieht den Aufbau der Bevölkerungslisten einer quellenkritischen Betrachtung und erläutert bei der Transkription vorgenommene Änderungen. Sie hat die Namen der Ehefrauen ermittelt, teilweise abweichende Berufsangaben aus anderen Quellen ergänzt, Straßenangaben hinzugefügt und anderes mehr. Die ursprünglichen Nummerierungen der Haushalte, wie sie die Listen aufwiesen, hat Kröber ebenfalls abgeändert, da sie ihr in sich nicht schlüssig schienen. Der folgende tabellarische Abdruck der so bearbeiteten und ergänzten Bevölkerungslisten erscheint achtspaltig im Querformat auf sechzig Seiten. Der Tabellenkopf wird dabei nicht auf jeder Seite wiederholt. Die Tabelle selbst ist so verkleinert worden, dass die Schriftgröße kaum lesbar ist.
Den Abschluss bilden ein Resümee, ein Anhang mit Diagramm-, Abbildungs- und Tabellenverzeichnissen, alphabetische Personenverzeichnisse, eine zweisprachige (deutsch - englische) Zusammenfassung im Stil eines Umschlagtextes und das obligatorische Quellen- und Literaturverzeichnis. Im Resümee fasst Kröber noch einmal kursorisch ihre statistischen Untersuchungsergebnisse zusammen, kommt aber auch hier zu keinen wirklich substanziell zu nennenden Erkenntnissen.
Bedingt durch die reduzierte Quellenbasis einerseits und die stellenweise unausgereifte Erfassung des Verwerteten kommt die Studie daher über eine geordnete Materialsammlung kaum hinaus. Gleichwohl verdient das methodisch zweifelsohne anspruchsvolle Vorhaben, aus 'nackten Zahlen' lebendige Geschichte zu schreiben, Anerkennung. Die Arbeit fügt sich in eine Reihe von Einzeluntersuchungen zum Raum Jülich ein, die diesem eine Vorreiterrolle hinsichtlich der Erforschung der kleinstädtisch-ländlichen Sozialgeschichte des Rheinlandes zukommen lassen. Insbesondere in der Kombination mit den ungleich reichhaltigeren französischen Verwaltungsakten in der Zeit ab 1794 bieten sich gleichwohl hier wie anderswo noch beträchtliche Potentiale zur Sozialgeschichte des späteren 18. Jahrhunderts bzw. der so genannten "Sattelzeit" am Ausgang der Frühen Neuzeit.
Anmerkungen:
[1] Claudia Wendels: Jülich im Jahre 1799. Alt und jung, arm und reich, Männer, Frauen, Kinder (= Forum Jülicher Geschichte, 24), Jülich 1998.
[2] Günter Bers: Das Sozialprofil der Jülicher Bevölkerung im Jahre 1812, in: Beiträge zur Jülicher Geschichte / Mitteilungen des Jülicher Geschichtsvereins 53 (1985), 67-81.
[3] Claudia Wendels: Die rheinische Kreisstadt Jülich im Spiegel der Bevölkerungsliste von 1858 (= Forum Jülicher Geschichte, 22), Jülich 1998.
Chantal Kröber: Die Einwohner der "Haupt- und Residenzstadt" Jülich einschließlich der Stadtdörfer Stetternich und Broich im Jahre 1745. Sozialstrukturelle Analyse einer amtlichen Bevölkerungsliste (= Forum Jülicher Geschichte; Bd. 38), Jülich: Verlag der Joseph-Kuhl-Gesellschaft 2004, 215 S., 3 Abb., ISBN 978-3-932903-27-4, EUR 16,00
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