Martin Bucer wurde nach dem Zweiten Weltkrieg als der dritte große deutschsprachige Reformator neben Luther und Zwingli wiederentdeckt, der zwischen der Schweizer und der nord- und mitteldeutschen Reformation vermittelte. Auf Grund seiner Bedeutung für Calvin, seiner Ausstrahlung nach Frankreich, nach Italien und in die Schweiz, dann auch auf Grund seines Wirkens in England war er zugleich eine Figur des frühen sich internationalisierenden reformierten Protestantismus. So konnte er nach dem Weltkrieg auch symbolisch für eine Vermittlung zwischen West und Ost stehen, die Aufnahme der Edition seiner Werke durch Robert Stupperich Anfang der 1950er Jahre zusammen mit anderen deutschen und ausländischen Kollegen - unter anderem François Wendel in Strasbourg - war gleichsam Teil einer Arbeit an der Wiedereinbindung auch der deutschen Kirchengeschichte in "den Westen". Nach langen Jahren der Arbeit in Münster ist die mit der Herausgabe der Deutschen Schriften beauftragte Bucer-Forschungsstelle nun in Heidelberg an der Akademie angesiedelt und publiziert in dermaßen hoher Frequenz das Werk des ungemein produktiven Theologen und Reformationspolitikers, dass langsame Rezensenten kaum nachkommen.
Im zu besprechenden Band sind eine Reihe von Abendmahlsschriften Bucers zusammengefasst, die bislang in den anderen Bänden noch nicht veröffentlicht wurden (zur Begründung des Umstands, dass eine konsequent chronologische Reihenfolge der Edition seit den 1950ern einzuhalten unmöglich war, vgl. das Vorwort von Gottfried Seebaß, 7f.). Er gibt so Einblick in den innerprotestantischen Abendmahlsstreit, wie er insbesondere seit 1525 zwischen den Schweizer bzw. oberdeutschen und den lutherischen Protestanten schwelte - und nur in diesen: keine der edierten Schriften betrifft den katholisch-protestantischen kontroverstheologischen Kontext.
Bucer hatte hier bekanntlich die Rolle eines Vermittlers übernommen, der die Gemeinsamkeit der theologischen Positionen betonte, die Differenzen kleinzuhalten versuchte, um so auch politisch den Weg des Anschlusses der oberdeutschen Reichsstädte an den norddeutschen Protestantismus zu ermöglichen, was für diese überlebenswichtig war, während die Schweizer sich ihre stärkere theologische Eigenständigkeit politisch eher leisten konnten. Die zehn edierten Stücke haben teils Bekenntnis-, teils Gutachtenform, ein Briefgutachten ist ebenfalls aufgenommen. Sie betreffen einerseits den Versuch der Straßburger selbst, an die anderen protestantischen Reichsstände, vor allem Kursachsen, Anschluss zu finden, die die Oberdeutschen als "Sakramentierer" und "Zwinglianer" verschrien. Diesem Ansinnen war mit der Unterschrift der Ulmer und Straßburger unter die Confessio Augustana 1532 in Schweinfurt Erfolg beschieden (Texte Nr. 2, 3).
Zum anderen wurde Bucer als Autorität in Kemptener und Augsburger Abendmahlsstreiten angerufen, woraufhin er gutachtete (Texte 4, 5, 7). Schließlich zeugen vier Quellen vom Austausch Bucers mit den Schweizern: zum einen das Protokoll der verhörartigen Befragung Bucers auf der Zürcher Tagsatzung 1538, in der Bucer gleichsam mit dem Rücken an der Wand zum Exegeten und Verteidiger Luthers wurde, weil er sich nicht, wie die Zürcher es forderten, gänzlich von ihm lossagte (Text 6); zum anderen drei Texte, die aus dem Austausch Bucers mit den Churern 1539-41 stammen, insbesondere mit dem Bullinger nahe stehenden Reformator Johannes Comander (Texte 8 bis 10). Das "Filetstück" des Bandes ist das - lateinisch verfasste, wegen des engen Sachbezugs aber in die Deutschen Schriften aufgenommene - Gutachten von 1539 an Comander: nicht, weil Bucers Ausführungen hier so unterschiedlich zu den übrigen Texten wären, sondern weil Stephen E. Buckwalter in der Einleitung die besondere Wirkungsgeschichte des Textes bis ins 18. Jahrhundert aufzeigen kann (337-343). Während die anderen Quellen des Bandes eng auf den zeitlichen Entstehungskontext bezogen blieben, kann hier die dauerhafte Umstrittenheit Bucers zwischen den konfessionellen Lagern nachgewiesen werden: Derselbe, handschriftlich kursierende Text fand bei den Bernern um Simon Sulzer großen Anklang, wurde 1573 vom eher calvinistischen Johann Jakob Grynaeus als seiner eigenen Position nahe stehend, von anderen Theologen als Bekenntnis Bucers zum Luthertum interpretiert - so auch in Straßburg, wo 1581 Johannes Sturm wiederum in dem Brief die Nähe Bucers zum Schweizer Reformiertentum bestätigt sah, während Johannes Pappus insbesondere auf Grund einer Briefstelle (in der Edition: 391f.) Bucer als orthodoxen Lutheraner im Sinne der religiös-theologischen Entwicklung in der Reichsstadt in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vereinnahmte. Bucers Mittelstellung ließ diesen Streit um seine Verortung im Gedächtnis der Konfessionsgruppierungen in besonderem Maße zu, letztlich setzte sich diese Diskussion bis in die Forschungskontroversen der Moderne über die eher "ehrlich gemeinte" oder eher "taktische" Positionierung Bucers fort.
Es können hier nicht alle Texte eingehend im Detail besprochen werden. Trotz der unterschiedlichen Kontexte wird in diesem Band die Einheitlichkeit von Bucers Ansatz und seiner Argumentationsschritte deutlich; der Straßburger Theologe schrieb hier - wie zu anderen Themen - in einem steten, durchaus sich selbst wiederholenden und höchstens langsam weiterentwickelten Fluss, wie man z.B. an der wiederholten Verwendung derselben Beispiele (etwa für synekdochetische Redeweisen, 50, 92f., 426) sehen kann. Entscheidend für alle Texte des Bandes war die Lektüre von Luthers 1528 erschienener Schrift "Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis" gewesen, die auf Bucer befreiend wirkte, weil er in ihr ein komplexeres Realpräsenz-Verständnis des Wittenbergers erkannte, als er vorher bei ihm vermutet hatte (Selbstaussage auf 391f.). Entscheidend für Bucer war, dass Luther offenbar nicht von einer "inclusio localis" Christi in Brot und Wein ausging, sondern das Verständnis der Präsenz sich auf das Abendmahl als Handlung bezog [1]. Damit konnten im Einklang mit Luther die Einsetzungsworte tropisch, aber auch nicht rein symbolisch verstanden werden.
Man merkt Bucer den Kampf um die Wahrheit, um die Vermittlung zwischen den Positionen an, auch - was nicht einfach war in dieser Stellung zwischen Wittenberg und der Schweiz - um die Aufrechterhaltung einer eigenen; man spürt, wie ihn die vielen Textkämpfe zuweilen auch belasten ("Es ist ja zu erbarmen, das mann in diser sachenn ßo wortlen müß", 114), wie er um Worte ringt, wie er die Möglichkeiten des (Frühneuhoch-)Deutschen ausschöpft: Eigentlich ist ihm die Wissenschaftssprache Latein für die Materie eher "im Blut", was man daran sieht, dass er zu begutachtende deutsche Bekenntnisse für seine eigene Vorbereitung privat lateinisch annotiert (Beilagen 1 bis 3 zu Text 4). Aber gerade dort, wo es ihm wichtig ist, bei der Ablehnung der inclusio localis, dringt er zu großer Ausdruckskraft auch im Deutschen, mit Adjektivabstrakta wie "Reumlicheit/Reimligkeit" (52, 76) vor.
Buckwalters Edition ist von höchster Sorgfalt, die sprachlichen wie inhaltlichen Anmerkungen führen überhaupt erst in das Textverständnis ein, die unzähligen ganz kursorischen Zitate Bucers sind in mühevoller Arbeit nachgewiesen. Bibelstellen-, Quelltext, Personen-, Orts- und Sachregister erschließen die Quellen bestens. Zudem ist in diesem Band erstmals ein alphabetisches und chronologisches Gesamtverzeichnis zu den bisher edierten deutschen und lateinischen Werken Bucers beigegeben, was dem Forscher die Orientierung in Zukunft wesentlich erleichtern dürfte. Manchmal ist vielleicht die Detailliertheit der Anmerkungen sogar zu groß, was sich etwa in der Doppelung der Erklärung von Bucers Synekdoche-Verständnis (74, Anm. 4 und 266, Anm. 2) niederschlägt.
Ob angesichts der doch ersichtlichen Repetitivität der Bucerschen Argumentation in vielen Themenbereichen über die Jahre hinweg der Anspruch der Vollständigkeit des Editionsunternehmens nicht zuweilen der Auswahl und dafür noch stärker rezeptionsgeschichtlichen Dokumentation von besonderen Kristallisationstexten wie dem Comanderbrief weichen dürfte, die Arbeit der Herausgeber also auch stärker in Richtung auf Erschließung der Wirkung von Bucer im Gedächtnis der Konfessionskulturen gehen darf, wäre zu überlegen. Jedenfalls ist die Arbeit an Bucer und seinem ganz spezifischen Denkstil der großen Mühe wert.
Anmerkung:
[1] Bezeichnend ist, wie Bucer, sonst meist ganz frei zitierend, hier sogar exakt die Bogenzahl ("vom R3 byß vffs S4") aus dem Augsburger Nachdruck von Luthers Text angibt, um seine Luther-Lektüre für diese Frage zu belegen (76 mit Anm. 12).
Martin Bucer: Deutsche Schriften, Bd. 8: Abendmahlsschriften 1529-1541. Bearbeitet von Stephen Buckwalter, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2004, 515 S., ISBN 978-3-579-04894-9, EUR 128,00
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