sehepunkte 7 (2007), Nr. 11

Mark A. Cheetham: Abstract Art Against Autonomy

Der Titel von Cheethams Essay weckt Erwartungen an eine Neubewertung abstrakter Kunst, die er leider mitnichten einlöst. Der Essay gibt sich streng gegliedert in vier Schritte: 1. Lagebestimmung der neuesten Abstraktion, 2. Reflexion der Rolle der Monochromie, 3. andere Formen nicht darstellender Kunst am Beispiel des Spiegels und 4. der Entwurf des Zukunftsmodells einer Abstraktion als Infektion und Heilung. Diese thematischen Vorgaben geben jedoch nur eine erste Orientierung, während Cheethams Gedankenführung dann durch alle Kapitel hindurch mäandriert, indem bestimmte Behauptungen und Figuren sowie Beispiele immer wieder vorkommen, zuweilen recht unverhofft.

Eingangs wird betont, das Thema 'Abstrakte Kunst' interessiere niemanden mehr, die Kunst, einst Inbegriff des 'high modernism', habe ohnehin ihren Höhepunkt überschritten und sei nur noch eine diskreditierte Form, die großen Erzählungen seien passé. Dennoch interessiert er sich für jüngere Entwicklungen, die offenbar diese Kunst weiter führen, und fragt sich, wie das sein könne, wenn doch Hegels Fortschrittsdiskurs kurzgeschlossen sei? Hier setzt nun seine These an: Nur jene Entwicklungen seien vorüber, die den herrschenden Diskurs von Reinheit und Autonomie führten, während die neueren Entwicklungen eher der epidemiologischen Rede von Infektion und Heilung folgten. Kunst wird mit Unreinheit in Verbindung gebracht - eine metaphorische Praxis biologischer Infektion, die jeglichen Anspruch auf ästhetische Autonomie unterliefe; diese Auffassung geht auf Kasimir Malevich und Yves Klein zurück. Zunächst wird an die Beziehung der abstrakten Kunst zum Modernismus und in extenso an die Thesen von Autonomie und Reinheit sowie Kants und Greenbergs Positionen erinnert, danach eine kleine Gegengeschichte der 'unreinen Abstraktion' und einer 'sozialen Sicht' nicht darstellender Kunst (Klein, Rauschenberg, Fontana, Manzoni, Zero) skizziert. Nochmals wird Malevichs Vorstellung von der 'Abstraktion als Infektion' und dessen These vom "zusätzlichen Element" erwähnt, dass nämlich Bakteriologie die Metapher für die Übertragung und dann Veränderung für neuere Kunst und Künstler darstelle.

Wieso man auch nach dem Ende der 'großen Erzählung' noch immer vom Weiterleben der Kunst nach der Postmoderne sprechen könne (20), bleibt jedoch eine rein rhetorische Frage. Wenn die Abstraktion in der Moderne eine wichtige Rolle spielte, was kann zum Verhältnis der heutigen abstrakten Kunst zur Geschichte gesagt werden? Nachdem er die Reden vom 'Ende der Kunst' und von der Geschichte der Moderne als Abfolge von 'Reinigungen' kurz gestreift hat, formuliert Cheetham erneut seine These, die abstrakte Kunst habe sich anhand der Themen 'Unreinheit' und 'Rhetorik der Infektion' (25) neu erfunden; es gehe aber nicht um eine dialektische Ablehnung der "Reinheit". Weil sich die heutige Generation oft auf die Rhetorik der Pioniere beziehe, befasst er sich mit den Fragen des Erbes und der Kontinuität bzw. Diskontinuität. "Unreinheit" sei zwar ein Trope und eine Praxis in heutiger Abstraktion, aber nicht hinreichend, um abstrakte Kunst seit 1960 zu verstehen.

In Kapitel 2 richtet Cheetham seine Aufmerksamkeit auf die Monochromie als Höhepunkt der Abstraktion und somit des Modernismus, um zeigen zu können, dass die neueren Abstraktionen gegen die Autonomie der Kunst gerichtet und sozial in ihrem Engagement seien. Ausführlich (33-58) wird Yves Kleins Auffassung von seiner Kunst als Eroberung des Raumes und Feier einer neuen Sensibilität dargestellt: Er trenne nicht zwischen Geistigem und Körperlichem, wolle die Welt imprägnieren, vertrete eine ganzheitliche Ästhetik und sei deshalb näher an Malevich als an modernistischen Vorstellungen. Rauschenbergs Beiträge und dessen Konkurrenz mit Klein - beide gelten als Neuerfinder der Monochromie (46) - werden gewürdigt; dabei werden die Besonderheiten der Oberflächen Rauschenbergs als Rezeptoren ihrer Umgebung (53) und die sich darin äußernde Verwandtschaft mit Malevich betont. Dann kehrt Cheetham zu Klein zurück, der das Monochrome über den Rahmen hinaus in den Raum befördert sowie die Rolle von Experiment und Erfahrung der Wirklichkeit belebt habe, und kommt auf Olafur Eliasson zu sprechen, der Kleins Ansatz weiter führe und die Wahrnehmung reflektierende Versuchsanordnungen schaffe, indem er das Licht als Erweiterung der Monochromie nutze (60). Dies führt zu einer Geschichte des Lichtes (Fontana, Turrell) und dann des Spiegels (Smithson, 68 ff.), der allerdings nicht als Repräsentationsmechanismus, sondern nur als Mittel zur Erweiterung des Raumes benutzt werde. Smithson wird dabei als "nicht reiner" abstrakter Künstler mit seiner 'non site Theorie' gewürdigt. Über den Spiegel kommt Cheetham zu Smithsons Verhältnis zur Natur, schließlich wieder zurück zum Spiegel mit seinen "taktilen Eigenschaften" (80) sowie seiner "performativen Logik". Entsprechend performativ und assoziativ fährt er mit Gerhard Richter, Pistoletto und wieder Eliasson fort. Über die Reflexion des Sehens bei Eliasson, Eckart, Kaprow und Moholy Nagy kommt er zu konkreten Beispielen: Als Erstes wird Taras Polataiko vorgestellt, der Abstraktion und Kunst als Wirkkräfte in Gesellschaft und Politik auffasse und für die zeitgenössische Einbeziehung der Unreinheit als Methode (100) paradigmatisch sei; die Bewertung der Werke Polataikos bleibt trotz Cheethams Interpretation (z. B. Tschernobyl-Problematik in 'Cradle', 102 ff.) schwer nachvollziehbar, der dem Künstler und dessen Intentionen wohl nahe steht und diese mit den Werken selbst gleich setzt.

Die Recycling- und Parodie-Strategien der Gruppe General Ideas und deren Attacken auf den Purismus werden als "Infektions"-Modelle verstanden (110 ff.); dies ist zwar nachvollziehbar, jedoch bleibt fraglich, warum es sich hier um eine "soziale Abstraktion" (18) handeln soll. Je weiter man in der Lektüre voran schreitet, desto unklarer wird, was Cheetham mit 'Abstraktion' eigentlich meint, wird der Begriff doch sehr flexibel eingesetzt und meint nicht selten eher 'konkret' oder schlicht 'nicht figurativ'. Cheetham betont zwar immer wieder, er meine ihn nicht im üblichen kunsthistorischen Sinne; was er jedoch meint, bleibt unausgesprochen. 'Abstraktion' dient ihm als Schlüssel zu freien Assoziationen, der ihm, künstlerische Positionen (Marcaccio, Stockholder, Dona, Serrano usf.) willkürlich aufzurufen erlaubt. Die Wahl der Beispiele (C. Wells, 118 ff.) ist mitunter stark idiosynkratisch, die Argumentation wird teilweise sogar beliebig. Besonders deutlich wird das, wenn ein Kontext positiver sozialer Infektion postuliert wird (126) und die Interpretationen der Werkbeispiele hauptsächlich aus unkritisch von den Produzenten übernommenen Intentions-Äußerungen (z. B. Byron Kim, 135 ff.) bestehen und sich an den Werken selbst keineswegs nachvollziehen lassen. Seine Assoziations- und Konnotationssprünge erlauben es Cheetham, von Burens Überführung der Abstraktion in den sozialen Raum (128) zu David Reeds Doppelgänger-Motiv (134 ff.) als Metapher für eine Krise der sozialen und kulturellen Ordnungen zu kommen oder Reed, Polataiko, Richter und Eliasson in einem Atemzug zu nennen. Dies zeugt von hoch entwickelter Gedankenakrobatik, der man als Argumentation schlechterdings nicht zu folgen vermag. Zwar begegnet man weniger bekannten, durchaus interessanten künstlerischen Positionen (z. B. Robert Houleoder Ian Wallace, 136 ff.); deren Werkbeispiele erscheinen jedoch nicht stringent, erst recht nicht als "soziale Kritik" (140) und in ihrer Beziehung zum Ikonoklasmus.

Abschließend wird immer wieder von einer "Dimension sozialer Abstraktion" (140) gesprochen, ohne dass deutlich wird, woraus sie bestehe. Immer wieder wird auf Greenberg als "Zombie" der Diskussion über Abstraktion zurück gegriffen, der reine Abstraktion als Gegenmittel gegen Kitsch auffasste, um dann heutige Kunst als Beispiel für 'Immersion' gegen 'Autonomie' dagegen zu setzen. Erst in den letzten Zeilen spricht Cheetham davon, dass die Künstler "hope for a change by participating in society" (143); dabei bezieht er sich vornehmlich auf Polataiko, und es wird deutlich, dass alles Vorangegangene lediglich Sehnsüchte artikulierte. Überraschend wird am Schluss auf Platon als Pate zurückgegriffen, und über eine Reflexion des Wortspiels 'cure/curator' werden letztlich Wunschvorstellungen artikuliert, Platons Höhle möge zum positiven Ort für die Kunst und Abstraktion zum fruchtbaren transformativen Agenten in der Gesellschaft werden. Im letzten Satz gibt Cheetham zu, man kenne zwar keinen einzigen Fall von "Kunst als Heilung von sozialen Problemen", dürfe die Hoffnung aber nicht aufgeben (144).

Auch wenn sich Cheetham eingangs zu induktivem und subjektivem Vorgehen bekennt, sollte dies keine Lizenz zu freien idiosynkratischen Assoziationen sein. Das Buch scheint der Forderung 'Publish or perish' entsprungen und mehrere Essays bzw. Gedankennotate ohne redaktionelle Überarbeitung zusammen zu fassen. Der Verfasser scheint zu glauben, die mantraartige Wiederholung der These von der Abstraktion als Infektion oder als sozialem Faktor genüge, diese durchzusetzen. Der Essay ist eine ärgerliche Mischung aus geistvollen Einfällen und hastig zusammen getragenen Assoziationen. Abgesehen vom Einfall, Malevichs Vorstellung von 'infektiöser Abstraktion' anwenden zu wollen, was leider nicht geschieht, erfährt man nichts Neues. Fazit: ein überflüssiges Buch, nach dessen mühsamer Lektüre man sich fragt: Cui bono?

Rezension über:

Mark A. Cheetham: Abstract Art Against Autonomy. Infection, Resistance, and Cure since the 60s, Cambridge: Cambridge University Press 2006, xii + 177 S., ISBN 978-0-521-84206-8, GBP 45,00

Rezension von:
Anne-Marie Bonnet
Institut für Kunstgeschichte und Archäologie, Universität Bonn
Empfohlene Zitierweise:
Anne-Marie Bonnet: Rezension von: Mark A. Cheetham: Abstract Art Against Autonomy. Infection, Resistance, and Cure since the 60s, Cambridge: Cambridge University Press 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 11 [15.11.2007], URL: https://www.sehepunkte.de/2007/11/11393.html


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