Die rasante Entwicklung der Migrationsgeschichte und -studien hat seit drei Jahrzehnten auch in zunehmenden Maße die politischen und ethnischen Fluchtwanderungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa und, seit den 1950er Jahren, in der sich dekolonialisierenden Welt einbezogen. In dem von Susanne Lachenicht herausgegebenen Band greifen Autoren aus fünf Ländern dies Thema für religiöse Flüchtlinge in der Makroregion vom östlichen Mittelmeerraum über die atlantische Welt bis nach Nordamerika - und vereinzelt Südamerika - auf. Angesichts der hervorragenden Annotation der einzelnen Beiträge wird eine Synthese des Forschungsstandes erreicht. Auf der Basis solider empirischer Forschungen stellt die Mehrzahl der Autoren/innen innovative theoretische Überlegungen an.
Der Band beginnt mit einer Sektion zu mittelalterlichen Wanderungen, der peregrinatio des irischen Columbanus auf den Kontinent (Eric Graff) und der Präsenz von Menschen jüdischen Glaubens in England und ihrer Vertreibung von dort (Seymour Phillips). Dabei wird eine viele der folgenden Beiträge durchziehende Fragestellung aufgenommen: Wo liegen die Grenzen zwischen Flucht und freiwilliger Wanderung? Die peregrinatio wird als selbst gewähltes Exil interpretiert, die jüdische Zuwanderung als Suche nach Schutz vor Verfolgung und nach ökonomischen Chancen. Es geht nicht um die Bestimmung von Grenzen, wie es die kategorial vorgehende Forschung früherer Jahrzehnte versucht hat, sondern um fließende Übergänge, um komplexe Motivationslagen und vielfältige Optionen im Rahmen von oft ebenfalls vielfältigen Zwängen. Die jeweils untersuchten Wanderungen werden in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge eingeordnet, zum Beispiel die Machtaspirationen christlicher Intellektueller oder die "persecuting societies" des mittelalterlichen Europas.
Im zweiten Teil "'Modern' states and religious diversity in Europe (16th - early 20th centuries)" behandelt W. Douglas Catterall schottische und portugiesische (jüdische) Migranten in den Vereinigten Provinzen der Niederlande im 16. und 17. Jahrhundert; Rosalind J. Beiler thematisiert die Netzwerke Schweizer Anabaptisten und die Dynamik der Interaktionen mit den (unwillig) aufnehmenden Gesellschaften; Sandra Maria Hynes widmet sich den transnationalen Kontexten der Quäker in Irland für die Zeit von 1660 bis 1690; Susanne Lachenicht untersucht die Verbindungen zwischen hugenottischen Flüchtlingen in Irland, Britannien und Brandenburg-Preußen, 1660-1750; Colm James Ó Conaill stellt eine intergenerationelle Familien(flucht)wanderung zwischen Irland, England und Frankreich vor und Róisin Healy die Ausweisung der Jesuiten aus Deutschland, 1872-1917.
Die Autoren/innen betonen, in welchem Maße die Position der Flüchtlinge von der ständischen Ordnung der jeweiligen Gesellschaft abhängt, die separaten, ausgehandelten Status ermöglicht. Der verwendete englische Begriff "corporations" verweist stärker auf die rechtlich festgelegten Aspekte als der deutsche Begriff "Stand". Terminologisch schwierig - aber nicht zu umgehen - sind die Begriffe "modern" und "(vormodern) transnational". Meist handelt es sich um translokale und -regionale Wanderungen im Rahmen gesellschaftlicher Ausgrenzungen und Verfolgungen, um dynastisch-staatliche Rahmenbedingungen, die auf der Ankunftsseite aushandelbar waren, und um Verfolgungen durch Vertreter institutionalisierter Religion. Die Autoren/innen verbinden die Analyse von Gruppen- und Familienstrategien, zeigen komplexe Veränderungen auf, wie im Fall der Spannungen, die sich aus der Treue katholischer Iren zum anglikanisch gewordenen englischen Königshaus ergaben.
Der dritte Teil, "Migration and integration of religious refugees in the Atlantic World (17th-18th centuries)", beginnt mit einer differenzierten historiographischen Reflexion von Bertrand Van Ruymbeke zu den Wanderungen der Hugenotten im atlantischen Raum und der Frage der Bedeutung von "Diaspora". Der Autor analysiert sensibel Prozesse der Kreolisierung und der Entwicklung eines "post-diasporischen" Bewusstseins. Es folgt eine detailreiche Darstellung der Herrnhuter in Europa und den Britischen Kolonien (Hermann Wellenreuther), in der die "closed world" oder - angesichts interner Spaltungen und Abgrenzungen - die "closed worlds" dieser Gruppe(n) exemplarisch dargestellt werden. Der Kontrast zu Flüchtlingen, die sich der Empfängergesellschaft öffnen und sich schrittweise, wenn auch oft zögerlich, eingliedern, ist augenfällig. Christopher Hodson stellt die Vertreibung der frankophonen und katholischen Akadier durch den britischen Gouverneur Nova Scotias, 1755, in die Kontinuität von Vertreibungen bis zum 20. Jahrhundert. Die Brutalität der Deportation und der Ausgrenzung an den Ankunftsorten ist hervorragend analysiert. Diese Beiträge nehmen das implizierte Thema des Bandes, die Frage von zu Flucht zwingender Verfolgung und Flucht nahelegender Diskriminierung, wieder auf.
Der abschließende Teil, "Christians, Jews, and Muslims. Migration within and from South-East-Europe, the Near an Middle East (17th-21st centuries)", enthält Beiträge zu Gegenreformation und Migration in Ungarn (Claus H. Gattermann); zu Wanderungen iranischer Schiiten als Kaufleute, Pilger und Flüchtlinge im Osmanischen Reich (Anja Pistor-Hatam); zu den arabisch-christlichen Wanderungen im 19. und 20. Jahrhundert nach Nord- und Südamerika (Kate Daniels) und zu den linguistischen, ideologischen und identitären Veränderungen irakisch-jüdisch-kommunistischer Journalisten in Israel (Makram Khoury-Machool). Auch hier werden historiographische Fragen aufgenommen, so das Verschweigen früher muslimischer Wanderung nach Nord- und Südamerika und die Notwendigkeit betont alle Wanderungsprozesse vielschichtig zu untersuchen und nicht auf eine einzige Motivationslage zu reduzieren.
Dabei werden Entwicklungen einbezogen, in denen religiöse Gruppen im Ausgangs- und Zielgebiet zu Objekten werden, ihrer Menschlichkeit von den Ordnungsmächten beraubt werden. Der hohe Reflexionsgrad dieser Beiträge lässt auch hier terminologische Probleme besonders auffällig werden. Der Titel dieses Teil hätte besser statt der westeuropäischen Namensgebungen die Selbstbezeichnung "cultures of the Eastern Mediterranean" aufgenommen und der Beitrag zum Osmanischen Reich nicht vereinzelt unpräzise "osmanisch" durch "türkisch" ersetzt. Diese Kritik, scheinbar kleinlich, soll hinweisen auf das im gesamten Band implizit und explizit angesprochene Verhältnis von üblichen, aber verfälschenden Begrifflichkeiten und wissenschaftlicher Analyse. Forscher/innen sind in ihre Sprachen hinein sozialisiert und müssen ständig um eine neutrale neue und damit manchmal nicht übliche Begrifflichkeit ringen. Dafür sind alle Beiträge musterhaft.
Bei der zusammenfassenden Bewertung dieser Konferenzbeiträge ist anzumerken, dass die Herausgeberin sich entschieden hat, den ersten drei Teilen die Kurzbeiträge der Kommentatoren/innen der jeweiligen Sitzung anzuhängen. Wünschenswert wären umfassende Einleitungen zu den jeweiligen Teilen gewesen, und zwar in der Form, wie die Herausgeberin selbst dem Band eine solche Einleitung vorangestellt hat. Die Auswahl der Autoren/innen und der Ort der Konferenz, auf der die Beiträge zuerst diskutiert wurden, Galway, führt zu einer besonders starken Repräsentation von irischen Themen. Insgesamt stellt der Band jedoch eine gelungene Synthese des Forschungsstandes religiöser Fluchtwanderungen im mediterran-atlantischen Raum dar. Die theoretischen Überlegungen werden weitere Forschungen anregen und die Kombination von Empirie und - klug abwägender - Theoretisierung ist mustergültig.
Susanne Lachenicht (ed.): Religious Refugees in Europe, Asia and North America. (6th - 21st century) (= Atlantic Cultural Studies; Bd. 4), Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2007, 293 S., ISBN 978-3-8258-9861-8, EUR 29,90
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