Gegenwärtig leben in Westeuropa mehr als zehn Millionen Muslime. Seit vielen Jahren, insbesondere aber nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, handelt die breite politische und publizistische Diskussion zur Integration in den europäischen Zuwanderungsländern vornehmlich vom Integrationswillen muslimischer Zuwanderer, von den Integrationskapazitäten als "abendländisch" verstandener Gesellschaften, aber auch von der Frage, welchen rechtlichen Rahmen der Staat bieten kann und will, um Muslimen die Ausübung ihres Glaubens zu ermöglichen. Diese Diskussionen werden, wie so viele andere auch, regelmäßig ohne Bezug auf die vielfältigen historischen Erfahrungen und Entwicklungen geführt, die das Feld Migration und Religion bietet.
Diese Beobachtungen dienten als Hintergrund für die Entwicklung des Konzepts der Tagung "Migration und Religion" am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg i.Br. im November 2004, deren Beiträge in dem hier zu besprechenden Sammelband dokumentiert sind. Entstanden ist ein ausgesprochen facettenreiches Bild der aus räumlichen Bevölkerungsbewegungen resultierenden Muster der Verbreitung religiöser Orientierungen, der Entwicklung religiöser Vorstellungen und der Ausübung religiöser Praktiken vom europäischen Mittelalter bis in die Gegenwart.
Die ausnehmend gut gelungenen acht Beiträge des von Hartmut Lehmann herausgegebenen Bandes behandeln die Situation religiöser Gemeinden am Beispiel von Hugenotten im deutschsprachigen Mitteleuropa (Barbara Dölemeyer), von Sephardim im Osmanischen Reich bzw. in der Türkei (Silvia Tellenbach), von masurischen Zuwanderern im Ruhrgebiet an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (Christoph Ribbat) sowie von Chinesen im gegenwärtigen Westeuropa (Max Deeg). Das Wechselverhältnis von Staat und Religion steht im Mittelpunkt der Beiträge zur aktuellen Situation in Griechenland (Altana Filos) und zu den völkerrechtlichen Bindungen in der Frage der Religionsfreiheit von Flüchtlingen (Tobias Lochen und Thilo Marauhn). Hinzu treten epochenübergreifende vergleichende Beobachtungen über die Entwicklung religiöser Konflikte als Folge groß angelegter Umsiedlungen in Südostasien (Bernhard Dahm) und schließlich allgemeinere Überlegungen über die Bedeutung des Religiösen für Zuwanderer am Beispiel Los Angeles.
Im einleitenden Aufsatz bietet der Herausgeber einige einführende Überlegungen zum Wechselverhältnis von Migration und Religion. Es lassen sich fünf Thesen herauslesen, die Hartmut Lehmann für zentral erachtet: 1. Eine zugewanderte religiöse Gruppen könne in der Diasporasituation nur dann über einen längeren Zeitraum bestehen, wenn sie wirtschaftlich erfolgreich sei. 2. Migration müsse als biographischer Bruch verstanden werden, dessen häufig schwerwiegende mentale Folgen (Lehmann verweist auf die Thesen von Oscar Handlin aus den 1950er Jahren und spricht von "Traumatisierungen") in einen verstärkten Rückzug ins Religiöse münde. Das habe beispielsweise im Kontext der transatlantischen europäischen Massenauswanderung des 19. Jahrhunderts zu einer ausgesprochen starken Stellung der Kirchen in Nordamerika geführt. 3. Die Kirchengemeinde bilde eine wichtige, wenn nicht gar die zentrale Integrationsagentur. 4. Migration führe nicht selten zur Bildung von religiösen Kleingruppen bzw. Sekten. 5. Die Bedeutung des Religiösen in der Aufnahmegesellschaft wachse in Zeiten starker Zuwanderung.
Zweifelsohne bieten diese Beobachtungen sehr wichtige und für die Diskussion um die Wechselbezüge von Migration und Religion weiterführende Aspekte. Dem Rezensenten allerdings erscheint das Bild als noch wesentlich vielgestaltiger. Das gilt nicht zuletzt deshalb, weil die für die Thesenentwicklung in der Einleitung des hier besprochenen Bandes vornehmlich herangezogenen Beispiele aus dem Kontext der europäischen transatlantischen Massenauswanderung des 19. Jahrhunderts nur einzelne Facetten des europäischen Migrationsgeschehens in der Neuzeit beleuchten können.
Migration muss keineswegs als biographischer Bruch verstanden werden, die Migrationsforschung betont seit langem die Bedeutung von Kettenwanderungen und verwandtschaftlich-bekanntschaftlichen Netzwerken, die zur allfälligen Bildung von zum Teil eng geschlossenen Herkunftsgemeinschaften und nicht selten zur "Verpflanzung" heimatlicher Strukturen führten. Migration als räumliche Bewegung innerhalb eines vertrauten Netzes aber führt nicht zu Traumatisierungen und schwerwiegenden mentalen Verletzungen. Religion kann - muss aber keineswegs - als Orientierungsressource verstanden werden; religiöse Bindungen und Institutionen können kohäsiv in migratorischen Netzwerken wirken.
Die Ablehnung vorgeschriebener oder vorgelebter religiöser Orientierung kann sich aber ebensogut zu einem Element entwickeln, das die Abwanderung motiviert. Religion kann an Bedeutung in der Integrationssituation gewinnen, aber auch verlieren, vor allem zu berücksichtigen sind die Rahmenbedingungen in der Herkunfts- und in der Aufnahmegesellschaft: Bildete die Migrantengruppe in der Herkunftsgesellschaft eine religiöse Minderheit? War die religiöse Orientierung für die Migrationsentscheidung von hoher Bedeutung? Galt sie in der Aufnahmegesellschaft als abweichend, gar als Hinderungsgrund für eine erfolgreiche Integration? Gelang es, eine Form der rechtlichen Integration der religiösen Gemeinden der Zuwanderer zu finden, die anschlussfähig war angesichts der spezifischen Muster der rechtlichen Rahmung im Verhältnis von Staat und religiösen Gemeinschaften?
Religiöse Orientierungen können sich mithin in der Spannung zwischen Kohäsion und Diffusion im Integrationsprozess unterschiedlich entwickeln und unterschiedlich rasch verlieren. Veränderungen religiöser Orientierungen und religiöser Praktiken in der Integrationssituation können sogar auf die Herkunftsgesellschaft wirken, zum einen aufgrund der weiterhin bestehenden Kontakte zwischen Abgewanderten und Zurückbleibenden, zum anderen durch den Import neuer (oder alter, weil konservierter) religiöser Vorstellungen durch Rückwanderer.
Der Wandel der religiösen Orientierungen in der Aufnahmegesellschaft kann dabei nur nachvollzogen werden, wenn Integration als generationenübergreifender Prozess verstanden wird, in dem die verschiedenen Generationen religiöse Bindungen durchaus unterschiedlich verstehen, als Orientierungsressource für sich nutzbar machen oder aber in einer religiösen Minderheitenposition verharren, die von der Aufnahmegesellschaft als Integrationsverweigerung verstanden wird.
Im Rahmen dieser Rezension lassen sich nur einige Dimensionen und Aspekte im Wechselverhältnis von Migration und Religion andeuten. Unzweifelhaft kann dem Herausgeber zugestimmt werden, dass die Bezüge von Migration und Religion bislang erst peripher untersucht sind. Es bedarf aber offensichtlich eines sehr anspruchsvollen Forschungsprogramms, um die Bedeutung des Religiösen für unterschiedlich motivierte Migrantengruppen (auch und gerade vergleichend) in den Blick nehmen und dabei sowohl die religiöse Situation in den Herkunfts- als auch in der Aufnahmegesellschaft beleuchten zu können. Ohne die explizite Berücksichtigung des längerfristigen Wandels der Bedeutung des Religiösen für unterschiedliche Gesellschaften und Gesellschaftstypen und der Veränderung der Konstellationen zwischen Staat und Religion ließe sich eine übergreifende Perspektive auf das Wechselverhältnis von Migration und Religion wohl nicht gewinnen.
Hartmut Lehmann (Hg.): Migration und Religion im Zeitalter der Globalisierung (= Bausteine zu einer europäischen Religionsgeschichte im Zeitalter der Säkularisierung; Bd. 7), Göttingen: Wallstein 2005, 143 S., ISBN 978-3-89244-938-6, EUR 19,00
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