Harald Wiggenhorn ist innerhalb weniger Jahre bereits der zweite Autor, der eine wissenschaftliche Monographie zu den Prozessen gegen deutsche Kriegsverbrecher vor dem Leipziger Reichsgericht vorlegt. Im Unterschied zur 2003 erschienenen Untersuchung von Gerd Hankel, der die Tatvorwürfe in den Mittelpunkt stellte, analysiert Wiggenhorn detailliert jedes einzelne Verfahren vor dem Hintergrund der politischen Entwicklungen und des rechtswissenschaftlichen Diskurses in Deutschland. Dabei geht er nur knapp auf die konkreten Gräueltaten während des Ersten Weltkrieges ein. Viel wichtiger ist ihm die genaue politische und rechtswissenschaftliche Genese der beiden im Anhang auch im Wortlaut aufgeführten Gesetze zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Kriegsvergehen vom 18. Dezember 1919 und 24. März 1920. Leider widmet er sich dabei nicht der eigentlich interessanten Frage, weshalb die deutschen Behörden den damals in Deutschland noch wenig gebräuchlichen Begriff Kriegsverbrechen verwendeten. Wiggenhorn zeichnet detailliert und präzise nach, weshalb frühe Bemühungen und Gesetzesentwürfe für eine Verfolgung deutscher Kriegsverbrechen scheiterten. Er betont, dass die Entstehung der beiden Gesetze schließlich nicht der Einsicht in die Notwendigkeit zur Verfolgung solcher Straftaten entsprang, sondern ein bewusster Schachzug der deutschen Regierungsparteien im Verhandlungspoker mit den Alliierten war, um eine Auslieferung führender Politiker und Militärs der Kaiserzeit, wie sie der Versailler Friedensvertrag vorsah, vermeiden zu können.
Im Februar 1920 hatte diese Taktik Erfolg. Die Alliierten verzichteten vorerst auf ihre Forderung nach der Auslieferung deutscher Kriegsverbrecher und akzeptierten das deutsche Angebot von Prozessen vor dem Leipziger Reichsgericht. Sie übergaben der deutschen Regierung zu diesem Zweck eine Liste mit 45 Beschuldigten, deren Verurteilung sie verlangten, und boten in diesen Fällen auch Rechtshilfe an. Wiggenhorn zeigt genau auf, wie das Außen- und das Justizministerium sowie das auf seine Unabhängigkeit bedachte Reichsgericht sich bemühten, den gegensätzlichen Erwartungen sowohl der Entente als auch der alten Eliten in Deutschland zu entsprechen. Aus diesem Grund wurde das erste Verfahren vor dem Reichsgericht nicht gegen eine oder mehrere der auf der alliierten Liste genannten Personen geführt, sondern gegen drei einfache Pioniere. Ihnen wurde vorgeworfen, im belgischen Edlingen einen Gastwirt und Bordellbesitzer überfallen und ausgeplündert zu haben. Der Entente konnte damit die eigene Entschlossenheit zur Verfolgung von Kriegsverbrechern demonstriert werden, während nach innen signalisiert wurde, dass weiterhin primär Verstöße gegen die militärische Disziplin sowie eigennützige Verbrechen und nicht völkerrechtswidrige Kriegshandlungen geahndet werden sollten. Beide Ziele dieses ersten Prozesses wurden verfehlt. In Deutschland wurde - nicht zu Unrecht - der Vorwurf der Klassenjustiz laut und in den Ländern der Entente wurde kritisiert, dass das Reichsgericht sich nicht um die wirklich bedeutsamen, von den Alliierten geforderten Prozesse kümmere.
Unter diesen Umständen verständigten sich Außen- und Justizministerium sowie Reichsanwaltschaft auf eine rasche Durchführung der von den Alliierten verlangten Prozesse. Gleichzeitig sorgten sie aber mit einem zweiten Ergänzungsgesetz am 12. Mai 1921 dafür, dass die Reichsanwaltschaft auch in denjenigen Fällen ein Hauptverfahren beantragen konnte, in denen die Beweislage nicht ausreichend erschien. Ziel eines solchen Verfahrens war ausschließlich ein Freispruch für den Beschuldigten. Wiggenhorn regt deshalb eine Erweiterung des Begriffs Schauprozess an: "Es gibt nicht nur den Schauprozess gegen, sondern auch den Schauprozess für einen Beschuldigten." (141) Anschließend wendet er sich der Reihenfolge der Prozesse zu und weist auf das Kalkül der deutschen Stellen hin, dass sich Fälle, in denen Freisprüche wahrscheinlich waren, mit solchen abwechselten, in welchen ein Schuldspruch zu erwarten war. Akribisch beschreibt Wiggenhorn danach die einzelnen Prozesse. Er geht dabei systematisch auf die alliierte Anzeige, das deutsche Ermittlungs- und Voruntersuchungsverfahren, die Anklage, das Hauptverfahren, das Urteil sowie die Reaktionen darauf ein. Er zeigt dabei, dass die deutsche Taktik - trotz einzelner außenpolitischer Debakel wie den Freisprüchen für den U-Bootoffizier Robert Neumann und den Brigadekommandeur Karl Stenger - auf alliierter Seite ihre Wirkung nicht verfehlte. Während Frankreich und Belgien ihre Vertreter bei den Prozessen enttäuscht abzogen und eine weitere Kooperation ablehnten, kommentierte die britische Delegation die Verfahren trotz aller Enttäuschung über die milden Urteile dennoch grundsätzlich positiv.
Die unterschiedlichen Bewertungen der Verfahren durch die Delegationen Belgiens, Frankreichs und Großbritanniens schlugen sich zwar nicht in der offiziellen Stellungnahme der Alliierten zu den Leipziger Gerichtsverfahren nieder, führten aber immerhin dazu, dass die britische Regierung die Forderung ihrer französischen und belgischen Partner nach einem Rückgriff auf die Auslieferungsartikel des Versailler Vertrages ablehnte. Damit verringerte sich der außenpolitische Druck auf Deutschland, und die übrigen in Leipzig anhängigen Verfahren konnten nun nach und nach gemäß den Regeln des Schauprozessgesetzes vom 12. Mai 1921 abgewickelt werden. Wiggenhorn schließt seine außerordentlich überzeugende Studie nach einem Kapitel über die juristische und rechtshistorische Rezeption der Leipziger Kriegsverbrecherprozesse mit dem Fazit, dass die Verfahren von deutschen Politikern wie Juristen gegen ihre eigene innere Überzeugung geführt wurden. Rechtliche Aspekte hatten daher nicht dasselbe Gewicht wie die Frage der gekränkten nationalen Ehre. Dieses von Wiggenhorn als Verliererjustiz bezeichnete Vorgehen wurde von alliierten Juristen während des Zweiten Weltkrieges als wichtiges Argument aufgegriffen, weshalb die nationalsozialistischen Verbrechen von den Siegern abgeurteilt werden sollten. Es begründete gleichzeitig die langjährige Skepsis der deutschen Diplomatie gegenüber einer internationalen Strafgerichtsbarkeit. Die Mitte der 1990er Jahre erfolgte Änderung dieser Haltung deutet Wiggenhorn als eine Folge der internen Neubewertung sowohl der lange als Siegerjustiz bezeichneten Verfahren von Nürnberg als auch der als Verliererjustiz zu bezeichnenden Prozesse in Leipzig.
Harald Wiggenhorn: Verliererjustiz. Die Leipziger Kriegsverbrecherprozesse nach dem Ersten Weltkrieg (= Studien zur Geschichte des Völkerrechts; Bd. 10), Baden-Baden: NOMOS 2005, 548 S., ISBN 978-3-8329-1538-4, EUR 98,00
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