Jeannette Madarasz untersucht in diesem knapp gehaltenen Band anhand von fünf Fallstudien die Rolle der Betriebskultur in den Sechziger und Siebziger Jahren der DDR für die Herausbildung von gesellschaftlichen Kompromissstrukturen. Wie aus ihrer Analyse deutlich wird, versuchte die SED-Führung nach dem Mauerbau drei Zielen gleichermaßen gerecht zu werden: die staatssozialistische Herrschaft ökonomisch produktiv zu machen, sie dabei zugleich politisch stabil zu halten und sie schließlich in der Bevölkerung als legitim anerkannt zu finden. Ihre Untersuchung bestätigt allerdings, dass die Erfolge auf diesen drei Feldern auch in den äußerlich stabilen Jahren zwischen Mauerbau und finaler Krise stets hinter den Erwartungen zurückblieben. Gleichwohl begreift Madarasz die gesellschaftlichen Verhältnisse dieser Phase als Ausdruck einer spezifischen "sozialistischen Normalität", die sich in einer Stabilisierung, Routinisierung und "unconscious internalization of at least some of the repeatedly propagated and experienced norms" (11) geäußert habe.
Eine gewichtige Rolle, so Madarasz, kam unter den Reformvorzeichen der Sechziger Jahre den Betriebsdirektoren zu. In einem paternalistischen Arbeitsregime, das kein Streikrecht und keine kollektive Interessenvertretung kannte, aber aufgrund des Anspruchs auf Vollbeschäftigung und der Legitimationsrolle der "Arbeiterklasse" durchaus Spielräume für die Beschäftigten eröffnete, lag es in ihrer Hand, Produktivitätserwartungen und Ansprüche der Mitarbeiter in Einklang zu bringen. Ab 1965 übernahmen die Staatsbetriebe die Verantwortung für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Beschäftigten und verwandelten sich damit in eigene Mikrokosmen. Die Direktoren hatten nun zu kämpfen mit Absentismus und Fluktuation, aber auch mit der zumindest als individuelle "Eingabe" zugelassenen vordemokratischen Anmahnung von verbesserten Arbeits- und Lebensbedingungen.
Die Fallstudien gelten dem Berliner Glühlampenwerk, dem Transformatorenwerk Oberspree, dem Erdölverarbeitungswerk in Schwedt, dem Halbleiterwerk in Frankfurt/Oder sowie dem Chemiefaserwerk in Premnitz, also Betrieben, die sich hinsichtlich ihrer Belegschaftsstruktur, ihrer Bedeutung für Export- und Investitionsstrategien sowie ihrer regionalen Position erheblich unterschieden. Ihr ökonomischer Erfolg war deshalb höchst unterschiedlich, doch für alle Betriebe kam es darauf an, dass die Betriebsleitungen die fehlende Elastizität des bürokratisch-zentralistischen Systems durch entsprechende "informelle" Kompetenzen zu kompensieren verstanden, ohne sich den zentralen Vorgaben explizit zu verweigern. Im Zentrum stand dabei die Vernetzung mit den wirtschaftsleitenden Institutionen und Partnerbetrieben sowie der regionalen SED-Führung und Staatsverwaltung.
Gegenüber den Belegschaften mussten die Betriebsleitungen die zentralen Vorgaben durchsetzen, konnten zugleich aber deren Lage nicht ignorieren. Mit dem stärkeren Gewicht von innerbetrieblichen Aushandlungsprozessen, so Madarasz, internalisierten die Beschäftigten zunehmend die Regeln der Diktatur, solange es für sie aufwärts ging. So gelang etwa im Transformatorenwerk Oberspree in der zweiten Hälfte der Sechziger Jahre mit Anreizen wie Wohnraumangeboten, Kinderbetreuung und verschiedenen sozialen, medizinischen und kulturellen Einrichtungen eine deutliche Reduzierung der Personalfluktuation und anderer Konflikte: "With time, large sections of the population supported official guidelines whereever they reflected their own expectations, for example regarding young people's attitudes to music, fashion and leisure time, behaviour in public and, as shown above, at the work place." (59)
Die damit verbundenen Aushandlungen auf Betriebsebene hätten im kleinen Rahmen, so Madarasz' These, die zentrale Rolle der Sozialpolitik als Stabilisierungsinstrument in der Ära Honecker vorweggenommen. Allerdings hätte die Akzeptanz der damit verbundenen Wertorientierungen ab Mitte der Siebziger Jahre aufgrund der abnehmenden Wirtschaftskraft nachgelassen. Fatalismus und Individualismus hätten sich breit gemacht: "By the late 1970s, the workforce's open criticism of the 1960s had turned into a constant undercurrent of grumbling and a strong reluctance to get involved in any effort to solve problems. The experience of the previous two decades had taught most employees to deal with existing circumstances rather than to demand improvements and, possibly, risk criminalization in a situation which, by many, was seen to be hopeless." (149)
Es gehört zu den Verdiensten dieser Studie, dass sie sich auf jene "stillen" Jahre konzentriert, in der die SED durchaus auf Bevölkerungsinteressen reagierte und zugleich Erfolge bei der Internalisierung von Elementen des realsozialistischen Werthorizonts durch größere Bevölkerungsteile erzielte. Hierzu zählte die Sympathie für sozialistische Wertorientierungen wie soziale Gerechtigkeit und Egalitarismus, aber auch die Einsicht, dass sich Anpassung an die Regeln der Diktatur in Geld und Lebenschancen auszahlte. Beachtung verdient auch ihr Hinweis auf die betriebliche Sozialpolitik der 1960er-Jahre als Erprobungsfeld für die Politik der Honecker-Ära. Ebenso zutreffend erscheint ihre Beobachtung, dass sich die Problemlagen der finalen Krise bereits ab Mitte der Siebziger Jahre ankündigten.
Madarasz verknüpft jedoch ihre Befunde zur betrieblichen Sozialpolitik mit gewagten Aussagen über die angebliche "sozialistische Normalität" als vorherrschende Bewusstseinslage der DDR-Bevölkerung. Für die frühen Siebziger Jahre spricht sie sogar von einer "initial euphoria" und "enthusiasm", von Stolz und Loyalität unter weiten Kreisen der Bevölkerung. Später hingegen hätte dann ein "entirely different value system" über Radio, Fernsehen und persönliche Kontakte Zugang in die DDR gefunden (168f.). Schon empirisch erscheint eine solche Gegenüberstellung unzutreffend: Euphorie und Enthusiasmus blieben wohl immer Sache einer Minderheit, und das westliche Wertesystem hatte auch zwischen 1961 und 1975 durchaus eine Basis. So bedeutsam die Arrangements in Betriebsleben und Sozialpolitik und die Sympathie für sozialistische Grundwerte waren, vernachlässigt die hier praktizierte arbeitsweltzentrierte Sozialgeschichte der kommunistischen Diktatur doch systematisch Faktoren wie die als "Anomalie" begriffene deutsche Teilung, die Selbstwahrnehmung als Bewohner eines eingemauerten und fremdbestimmten Landes oder auch die Einsicht in die verdeckte Hierarchie der egalitären Gesellschaft.
Irritierend ist auch Madarasz' Argument, dass 1989 nur eine Minderheit aufbegehrt habe, während sich die Mehrheit mit Wohlwollen an das Leben unter der sozialistischen Diktatur erinnere (17). Man muss hier in Erinnerung rufen, dass es im März 1990 eine Wahl gab, die hinsichtlich des Fortbestandes der DDR ein klares Ergebnis hatte. Die ursprünglich von Mary Fulbrook in die Debatte geworfenen und hier von Madarasz aufgenommenen Kategorien "Normalität" und "Normalisierung" der sozialistischen Diktatur sind mit guten Gründen von der zeithistorischen Forschung nicht aufgenommen worden. Dazu haben sie analytisch zu wenig Erklärungspotenzial und sind zugleich bedenklich einäugig. In einem früheren Buchtitel sprach Madarasz selbst von "prekärer Stabilität" [1] - ein Begriff, der die von ihr ausgebreitete Problematik weitaus besser charakterisiert.
Anmerkung:
[1] Jeannette Z. Madarasz: Conflict and Compromise in East Germany, 1971 - 1989. A Precarious Stability, Houndmills 2003.
Jeannette Z. Madarász: Working in East Germany. Normality in a Socialist Dictatorship, 1961-79, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2006, xi + 206 S., ISBN 978-0-230-00160-2, GBP 50,00
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