Es ist in der heutigen Zeit der Kirchenaustritte, der Kirchenschließungen und einer verbreiteten "Kirchenmüdigkeit" schon bemerkenswert, dass eine kirchliche Gemeinde sich zur teuren Sanierung ihres baufälligen Kirchengebäudes entschließt, das noch nicht einmal eine architektonische Besonderheit zu sein schien. Mit dieser mutigen Entscheidung hat das Presbyterium von Solingen-Dorp, wahrscheinlich anfangs kaum beabsichtigt, später hochwillkommen, ungeahnte Kräfte weit über die engen Grenzen der eigenen Gemeinde hinaus mobilisiert, die sich an der Restaurierung des Gebäudes beteiligt haben. Damit ist erneut deutlich geworden, dass eine Kirche für alle Bewohner, auch für die kirchenfernen, in unvergleichlicher Weise "Heimat" prägt, und dass die Menschen nicht auf "ihre" Kirche verzichten wollen, selbst wenn sie sie nie betreten.
Gewissermaßen als "Nebenprodukt" der jahrelangen und umfangreichen Baumaßnahmen ist der hier zu besprechende prächtig ausgestattete Band entstanden, in dem ein Redaktionskreis aus der Gemeinde Solingen-Dorp in zehn Kapiteln die Geschichte der Kirche sowie der erst im späten 19. Jahrhundert entstandenen Gemeinde ausbreitet und ihre heutige Gestalt beschreibt. Kein Geringerer als der Bundespräsident hat das Buch mit einem Geleitwort nobilitiert und der Präses der rheinischen Kirche sowie der Oberbürgermeister Solingens haben sich ihm angeschlossen.
Die Geschichte der Gemeinde Solingen-Dorp - einer evangelischen Gemeinde in der von Solingen unabhängigen Bürgermeisterei Dorp - beginnt 1877, als ein fünfter Solinger Pfarrbezirk eingerichtet wurde. Für ihn wurde bald ein Pfarrhaus und kurz vor dem Ersten Weltkrieg eine Kirche errichtet. Detailliert beschreibt Peter Riech die Vorbereitungen zum Bau, die 1906 begannen und mit der Grundsteinlegung 1913 einen ersten sowie mit der Einweihung im Mai 1914 einen zweiten Höhepunkt fanden. Architekt war der Elberfelder Baumeister Arno Eugen Fritsche, ein Schüler des für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts bedeutenden Baumeisters Johannes Otzen, Mitverfasser des so genannten evangelischen "Wiesbadener Kirchenbauprogramms" von 1891, das auch für die Gestalt der Dorper Kirche von Bedeutung war.
Nach diesem Programm sollte die Funktion eines Kirchengebäudes, aufgefasst als einheitlicher Raum einer sich versammelnden evangelischen Gemeinde, im Mittelpunkt stehen. Eine Chorabtrennung oder Raumgliederung in Schiffe oder auch eine besondere Stellung des Altars durfte nicht stattfinden. Gezielte antikatholische Tendenzen waren dem Programm und sind diesem Kirchenbau jedoch fremd. Stattdessen liegt ihm und damit auch der Dorper Kirche theologisch die Neubestimmung der Gemeindearbeit durch den Dresdner Pfarrer Emil Sulze (1832-1914) zugrunde. Danach müssten die anonymen Großstadtgemeinden, die infolge der Industriellen Revolution in wenigen Jahren über alle Maßen gewachsen waren, ein starkes soziales Engagement entwickeln und insbesondere viele Gruppen und Vereine, in denen die Anonymität der unüberschaubar gewordenen Gemeinden aufgebrochen wurde, auch architektonisch unterstützen, etwa durch die Hinzufügung von kleineren Gemeinderäumen zu dem sakralen Raum.
Diese Konzeption wurde auch in der Dorper Kirche verwirklicht, wie bereits in der aus Anlass der Einweihung 1914 erschienenen Festschrift herausgestellt wurde. Eine heutigen Maßstäben genügende eindringliche architektonische Analyse und Einordnung des Gebäudes liefern Hella Nußbaum und Hermann J. Mahlberg, die sehr klar die damalige Modernität des Gebäudes herausarbeiten. Der Architekt legte großen Wert darauf, die schlichte Langhausanlage vor allem im Dach zur Geltung zu bringen und sie nicht aufzulockern. Rechteck, Quadrat, Dreieck und Kreis sollten aus sich heraus wirken - fast schon eine Ästhetik der "neuen Sachlichkeit", die man etwa beim frühen Peter Behrens findet, auf den die Autoren zu Recht verweisen. Aufgenommen wurden in Dorp aber auch Anregungen des "Heimatstils" und der "Bergischen Bauweise", etwa in der Farbgebung bei den kleinen grünen Schlagläden an den Fenstern der Nebenräume, und unterhalb des Daches wurde "im bergischen Stil" dunkelgrauer Schiefer angebracht.
Die von Fritsche in Dorp vollzogene Abwendung von dem jahrzehntelang im Kirchenbau üblichen Historismus wird auch an anderer Stelle deutlich. Sie wurde allerdings nicht immer durchgehalten, zum Beispiel finden sich barocke Zitate in der Ornamentik an den Außenfassaden, klassizistische in den Portalen, aber auch Jugendstil-Ornamente an den Hauptflächen der Außenmauern. Horst Sassin ergänzt diesen Teil des Bandes durch eine Erklärung der Schmuckelemente des Hauptportals mit den Symbolen der vier Evangelisten und der Trinität.
Dass diese damals moderne Konzeption nicht überall in Solingen Zustimmung fand, lässt sodann ein Aufsatz über die Begleitumstände der Einweihung der Kirche erkennen. Auch in Solingen war das Pfarrerkollegium in Liberale und pietistisch geprägte Positive gespalten und auch in Solingen hatten etliche Gemeindemitglieder mit der neuen Architektur der Kirche ihre Schwierigkeiten.
Leider wird das Schicksal der Kirche und der Gemeinde im und nach dem Ersten Weltkrieg nicht weiter verfolgt. Die Darstellung von Gisela Vogel setzt erst mit der weitgehenden Zerstörung der Kirche 1944 ein, lässt Augenzeugen des Bombenangriffs zu Wort kommen, berichtet über das kirchengemeindliche Leben nach dem Zweiten Weltkrieg und konzentriert sich auf den allmählichen Wiederaufbau des Kirchgebäudes zu Anfang der 1950er Jahre. Dabei kam es im Presbyterium zu gegensätzlichen Auffassungen hinsichtlich der inneren Ausgestaltung der Kirche: Sollte die Kirche wie früher als reformiert geprägte "Predigtkirche" mit einer zentralen Kanzel oder statt dessen mit einem herausgehobenen Altar, mit Kerzen und einem Großkreuz im Chorraum doch eher als "Sakramentskirche" konzipiert sein? Eine Mehrheit entschied sich für die letztere Lösung - ein Hinweis darauf, dass nach dem Zweiten Weltkrieg in der Solinger Gemeinde, wie häufig in anderen Gemeinden im Rheinland, der lutherischen Gottesdienstauffassung der Vorzug vor der reformierten Schmucklosigkeit gegeben wurde.
In einem eigenen Kapitel hat Horst Sassin sich mit dem Verhalten von Solinger evangelischen Christen in der Zeit von 1933 bis 1945 beschäftigt. Insbesondere hat er das Schicksal von Solinger Juden und die Leistungen der Bekennenden Kirche für die Verfolgten des NS-Regimes erforscht. Mit Pfarrer Johannes Lutze, dem "roten Pfarrer von Solingen", besaß die Solinger Gemeinde ein prominentes Mitglied der Bekennenden Kirche.
1961 wurde der bisherige Gemeindebezirk Solingen-Dorp zur selbständigen Gemeinde mit eigenem Presbyterium erhoben. Für das Kirchengebäude war dies unerheblich, aber für die gemeindliche Arbeit, etwa für die Kirchenmusik, folgenschwer: Dorp erhielt eine eigene, gut dotierte Kantorenstelle und beschäftigte in der Folgezeit vorzügliche Kantoren und Chorleiter. Die Dorper Kantorei entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einer gewichtigen Stütze des musikalischen Lebens in Solingen und darüber hinaus.
Besonders ausführlich und der Chronologie folgend wird die Sanierung der Dorper Kirche in den Jahren 2004 bis 2007 dokumentiert. Im Zuge einer geplanten Umgestaltung des Innenraums stellten Statiker die Baufälligkeit der gesamten Kirche fest, rieten zu ihrer sofortigen Schließung und überraschten das Presbyterium mit kostspieligen Restaurierungsplänen. Man erörterte in Dorp auch kostengünstigere Alternativen, etwa den Teil- oder sogar den vollständigen Abriss der denkmalgeschützten Kirche. Ein "runder Tisch", aus dem 2004 ein Förderverein hervorging, beschloss Maßnahmen zur Rettung der Kirche. Die Gemeinde konnte natürlich nur den geringeren Teil der Sanierungskosten tragen. Auch die Landeskirche und die öffentliche Hand zeigten sich interessiert, machten aber zunächst keine verbindlichen finanziellen Zusagen. So entwickelte der Verein ein professionelles "Spendenmarketing". Auch packten viele freiwillige Helfer mit an, die baufällige Kirche weckte eine erstaunliche Hilfsbereitschaft in der Stadt.
Im sechsten Kapitel des Bandes erläutert ein Baufachmann die tatsächlichen Sanierungsmaßnahmen, die Beton-, Zimmerer-, Dachdecker-, Maler- und anderen handwerklichen Arbeiten. Auch der Laie kann dies verstehen, denn das Kapitel ist - wie übrigens die anderen Kapitel auch - vorzüglich bebildert. Das folgende Kapitel beschäftigt sich ausführlich mit der unterschiedlichen Gestaltung des Altarraumes und damit des Kircheninneren in den Jahren 1914, 1953 und 2007. Gerade die hohen Kosten der Restaurierung der letzten Jahre und die Konzeption der Gemeinde, ihre Kirche als ein "Gasthaus am Wege" zu verstehen und diesem Gedanken folgend auch das Gebäude zu einem gastlichen Haus zu machen, führten dazu, den Gottesdienstraum vielfältiger als bisher zu nutzen. Neben Gottesdiensten und Andachten sollten auch Ausstellungen, Konzerte und Gemeindefeste hier stattfinden. Die Baupläne und Abbildungen zeigen, dass diese Funktionserweiterung gelungen ist.
Ein Kapitel über die Dorper Pfarrer mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Biographie des BK-Pfarrers Johannes Lutze, ein weiteres über "Dorper Perspektiven" und über Pläne zur zukünftigen Nutzung der frisch restaurierten Kirche in der Gemeinde - Stichwort: offene Kirche, Kirche und Kunst - und schließlich eine ausführliche Zeittafel zur Geschichte der Dorper Gemeinde beenden den Band. Seine reiche Ausstattung und seine Anschaulichkeit machen ihn zu einem besonders attraktiven Exemplar der Gattung "Gemeindegeschichte". Allerdings bleibt offen, ob diese Kirche wirklich ein "Symbol des bergischen Protestantismus im Aufbruch" ist, wie der Untertitel suggeriert. Vielleicht hätten die Redakteure dazu auch ein paar Hinweise zum Gegenstand "Bergischer Protestantismus" geben müssen.
Jaan Bruus / Eberhard Emmert / Axel Heibges u.a.: Die Dorper Kirche. Ein Symbol des bergischen Protestantismus im Aufbruch, Solingen: Initiative Rettung Dorper Kirche 2007, 304 S., ISBN 978-3-928956-15-4, EUR 25,00
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