Die marxistische Kunsttheorie hat auch vor 1989 eher nur am Rande Eingang gefunden in den Diskurs der Kunstgeschichte. In der Ausbildung der Studierenden ist sie oft ein weißer Fleck. Dies hängt nicht nur mit der weitverbreiteten Gleichsetzung von Marxismus und politischer (Parteien-) Ideologie zusammen, sondern wohl auch mit dem intellektuellen Anspruch, der Vorwissen über die Materie erfordert. Bis zu einem gewissen Grad hat sich die "Frankfurter Schule der Kunstgeschichte" etabliert. Antal, Schapiro, Bindmann oder Hinz werden als Kunsthistoriker mit sozialhistorischem Schwerpunkt rezipiert; Adorno, Lukács, Benjamin als Kultursoziologen.
Zwölf Aufsätze skizzieren den Weg der marxistischen und der "Neuen Linken Kunstgeschichte". Caroline Arscott schreibt über William Morris, Stanley Mitchell über Michael Lifschitz und Max Raphael, Paul Stirton über Frederick Antal, David Bindman über Francis Klingender, Frederic J. Schwartz über Walter Benjamin, Andrew Hemingway neben der Einführung über Meyer Schapiro und über die internationale "Neue Linke Kunstgeschichte", Marc James Léger über Henri Lefebvre, John Roberts über Arnold Hauser, Adorno, Lukács und den idealen Betrachter, Jutta Held über Faschismus in Deutschland und schließlich Otto Karl Werckmeister über die Wende von Marx zu Warburg 1968 bis 1990. Der quantitative Schwerpunkt des Readers liegt auf Deutschland, auch durch die Beiträge zur Faschismusforschung und zur Ideologie der NS-Zeit.
Der Herausgeber Andrew Hemingway liefert in einer umfangreichen Einführung die Interpretationsbasis des Readers: Mit dem politischen Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 habe die partikularistische Kunstgeschichte wieder Aufwind bekommen und den marxistischen kritischen Ansatz an den Rand gedrängt. Sie diskutiere keine Alternativen, sondern verschanze sich hinter dem Begriff "Reform" (der bekanntlich im marxistischen Begriffsfeld pejorativ besetzt ist).
Hemingway skizziert die historischen Stationen der marxistischen Kunsttheorien von Plechanov und der II. Internationale über die Neuorientierung marxistischen Gedankenguts 1917 und 1919 bis zur Stalinisierung und grenzt sie gegen die bourgeoise Kunstgeschichte ab. Eine der Denkschulen dieser Kunstgeschichte, so Hemingway, sei jene formalistische, die der Kunst eine logische Entwicklung rund um die Kategorie Stil beimesse, wie bei Riegl und Wölfflin. Der Name des österreichischen Kunsthistorikers Riegl verwundert hier. Auch marxistische Denker wie Karl Mannheim oder Walter Benjamin beriefen sich ausdrücklich auf Riegl. (Frederic J. Schwartz verweist in seiner Abhandlung über Walter Benjamins Essay über Eduard Fuchs auch mehrmals auf Riegl.) Auch Paul Feyerabend findet in Wissenschaft als Kunst seinen gedanklichen Anker bei Riegl. Und für Arscotts Forschung zu Morris bildet Riegl ein Hauptargument (siehe weiter unten). Riegl ist als Vertreter einer bourgeoisen Kunstgeschichte also zu streichen.
Drei Schwerpunkte ziehen sich wie ein roter Faden durch den Reader: Die Interpretation von Marx' scheinbarer Absolutsetzung der griechischen Antike als "Norm und unerreichbares Muster" in der Einleitung zu den "Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie", der Diskurs über die "Vulgär-Soziologie" in den Dreißiger Jahren und die Realismusdebatte, die untrennbar mit der Frage nach der Aufgabe der Kunst in einer marxistischen Gesellschaft zusammenhängt.
So unverzichtbar die Positionierung der Klassiker ist (Lukács, Lefebvre, Benjamin, Hauser, Adorno), liegt das Verdienst des Readers doch besonders in der Aufnahme bisher wenig rezipierter Vertreter der marxistischen Kunstgeschichte wie Lifschitz und Raphael und, als Sonderfall, auch Morris. Caroline Arscott fügt dem etablierten Morrisbild als Designer, sozialistischen Agitator und kommunistischen Utopisten eine intellektuelle Facette hinzu. Arscott klopft das ethnologische Terrain dieser Zeit ab. Damals hatten sich zwei gegensätzliche ethnologische Denkmuster herausgebildet: Hier die Meinung, dass das Körperornament (Tattoo) bei den Urvölkern semiotische Bedeutung (Kraft, Stärke) gehabt hatte, später aber unverstanden weiterlebte, "degenerierte". Dort die Meinung, dass das Körperornament ein den Menschen innewohnendes ursprüngliches künstlerisches Empfinden ausdrücke, wie es Morris, an Marx anschließend, in seiner Utopie News from Nowhere schildert. Als Beispiel dafür referiert Arscott die Forschungen Riegls zur Ornamentik. Damit stellt sie plausibel Ornament und Muster in ein marxistisch-ethnologisches Denkmodell.
Stanley Mitchell referiert über den Russen Michael Lifschitz und über den emigrierten Deutschen Max Raphael, zwei in mehrfacher Hinsicht "antipodische" Zeitgenossen. Der augenscheinlichste Gegensatz liegt in ihrer Stellung zum Sozialistischen Realismus. Während Lifschitz lebenslang gegen den "Modernismus" (Spätimpressionismus und abstrakte Kunst) kämpfte, war Raphael ein Proponent der Moderne. Wo Lifschitz über Inhalte sprach, sprach Raphael über Form und Komposition - über die er dann zur inhaltlichen Deutung vordrang. Lifschitz, der im Westen fast unbekannt blieb - auch bei Held oder Léger wird er nicht erwähnt, obwohl er "die zweite Hälfte" von Lukács war -, wird von Mitchell einerseits in seiner nicht immer unproblematischen Beziehung zum Staat geschildert, andererseits referiert er die Inhaltsästhetik von Lifschitz vor allem unter dem Aspekt der "Wahrheit" in Bezug auf die ausgebeuteten Klassen - und diese kann nur "realistisch" dargestellt werden. Mitchells Skizze der damaligen Sowjetunion bildet eine aufschlussreiche Erweiterung zum Vorwort Hemingways. (Eine perfekte Ergänzung dazu - wer sie sucht - liefert Lifschitz selbst 1959 im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Karl Marx und die Ästhetik.)
Trotz seiner Zuneigung zur Avantgarde und seiner Kennerschaft wurde auch Max Raphael in Fachkreisen wenig rezipiert. Auch Mitchell beschränkt sich auf Raphaels englische Texte (The Demands of Art, 1968) und auf seine Abhandlung über den dorischen Tempel. Dadurch entgehen ihm natürlich die frühen Aufsätze in den deutschen Kunstzeitschriften und die gestaltspsychologische Phase Raphaels, die seinen komplizierten Kompositionsanalysen zugrunde liegt. Raphaels Bildanalysen, die inhärenter Bestandteil seines marxistischen Ansatzes sind, bleiben solcherart ausgespart. Auch auf die entgegengesetzten Positionen von Lifschitz und Raphael zum Realismusproblem geht Mitchell nicht direkt ein. Eine interessante Erklärung bietet er für Raphaels Begriff des "kristallinen Schwebezustands" in dessen Cézanne-Essay. Darin sagt Raphael, dass der Künstler "hinabgehe zu den Müttern, wo Mensch und Kosmos ihren Ursprung haben." Allein bei Faust II sieht Mitchell eine solche Vorstellung von den Müttern (in der Unterwelt) und spinnt von da den Gedanken weiter. Über Goethe sieht Mitchell auch einen möglichen Weg, unübersetzbare Begriffe des Glaubens in ein marxistisches Denkmodell zu transponieren.
Gewissermaßen das Fortleben der marxistischen Kunsttheorien in der "Neuen Linken Kunstgeschichte" behandeln Hemingway, Held und Werckmeister. Jutta Held zeigt in ihrer Studie, wie die stufenweise Enthüllung des Phänomens des NS-Faschismus durch die "Linke Kunstgeschichte" mithilfe von neuen Ausstellungskonzepten (zuerst Frankfurt 1972) stattfand. (Dass sich diese bei Lifschitz präfiguriert finden, sei ergänzend erwähnt.) Held zeigt, was für eine bemerkenswert kreative Rolle dabei der "Linken Kunstgeschichte" zukam.
Hemingway beleuchtet die internationale Szene, wobei er auch kurz auf die Beziehung des "westlichen" Marxismus zur DDR eingeht und ebenso auf die initiative Rolle der feministischen Kunstgeschichte den USA.
Werckmeister bringt nicht nur die politischen Zäsuren 1968 und 1989, sondern die linken oder rechten Regierungen in Deutschland und in den USA im 20. Jahrhundert in einen direkten Zusammenhang mit dem Entstehen der Warburg-Schule und mit dem Aufblühen oder Zurückweichen der marxistischen Kunstgeschichte. Den Kunsthistorikern wird dabei unterstellt (ja, es liest sich tatsächlich so), nur Reflektoren der politischen Situation zu sein. Werckmeister stellt die Verlagerung der Schwerpunkte von einem kritischen marxistischen Konzept hin zur "harmlosen" Warburg-Schule als Anpassung an die Institutionen dar, allen voran bei Warnke und Bredekamp. Im Hamburger Kunsthistorikerkongress von 1990 sieht er diese Anpassung an den Kapitalismus vollendet. Dass heute, in einer neuen ökonomischen Krise, die "Linke Kunstgeschichte" wiederauflebe, sei nur konsequent... Diese meta-methodologische Skizze billigt der Kunstgeschichte selbst kaum eigene Manövrierfähigkeit zu und lässt zugleich den Reader seltsam fatalistisch ausklingen.
Dass man das Thema Marxismus hier nur punktuell abhandeln kann, versteht sich von selbst. Es fällt auf, dass die Kunstgeschichte der ehemaligen DDR nur am Rande im Beitrag Hemingways erwähnt wird. Auch bekannte Vertreter wie Dawydow, Kühne oder Schumann bleiben ausgespart. (Sollte das eine Konsequenz aus 1989 sein?) So bewegt sich der Reader innerhalb jenes Marxismus, der sich explizit als Gegenmodell zur "bürgerlichen" Kunstgeschichte versteht. Einen eigenen Beitrag über die wichtige Rolle Lunatscharskys in der Sowjetunion hätte man begrüßt. Die Erörterungen der historischen und politischen Hintergründe und der Aktivitäten marxistischer Gruppierungen, wie sie von mehreren Autorinnen und Autoren vorgenommen werden, sind nicht nur als Ergänzungen zu den elaborierten kunsthistorischen Theorien zu lesen. Vielmehr bieten sie die empirisch unverzichtbare Verlebendigung einer Materie, die in ihrer historischen Komplexität ihresgleichen sucht.
Andrew Hemingway (ed.): Marxism and the History of Art. From William Morris to the New Left, London: Pluto Press 2006, xi + 276 S., ISBN 978-0-7453-2329-9, GBP 19,99
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres letzten Besuchs dieser Online-Adresse an.