Das Elsass und Teile Lothringens waren im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder Austragungsort nationalpolitischer Konflikte zwischen Deutschland und Frankreich. Von 1870 bis heute hat diese Region vier Mal ihre nationale Zugehörigkeit gewechselt. Ungeachtet alternierender Regierungssysteme (oder vielleicht gerade deswegen) wurde der Kunstbesitz der Stadt Straßburg kontinuierlich vermehrt.
Tanja Baensch hat im Rahmen ihrer Dissertation die Gründungsgeschichte der Straßburger Gemäldegalerie durch Wilhelm von Bode (1845-1929) aufgearbeitet. Sie schildert die historischen Voraussetzungen und kulturpolitischen Zusammenhänge der Sammlungstätigkeit eines preußischen Museumsbeamten für das Reichsland Elsass-Lothringen zwischen 1889 und 1914.
1889, 18 Jahre nach dem Deutsch-Französischen Krieg, forderte Richard Schöne (1840-1922), Generaldirektor der Berliner Museen, seinen damaligen Abteilungsleiter der Sammlung christlicher Bildwerke und Direktorialassistenten der Gemäldegalerie, Wilhelm von Bode, auf, dem Statthalter des neu gegründeten Reichlands Elsass-Lothringen, Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, einen Gefallen zu erweisen. Er bat ihn, die zum Verkauf stehende Sammlung eines italienischen Geistlichen auf ihre Eignung zum Ankauf durch die Stadt Straßburg zu prüfen, die damit ein neues Museum bestücken wollte. Bode, wohl Europas bedeutendster Kunstkenner des 19. Jahrhunderts, votierte gegen diese Erwerbung, revanchierte sich aber mit einem Programm zum Aufbau einer Sammlung alter Gemälde in Straßburg und bot seine Hilfe bei dessen Umsetzung an.
Abgestimmt auf Straßburgs Profil einer "Provinzhauptstadt mit Universitätsanschluss" sollten die hier präsentierten Originale sowohl "gefällig" sein als auch einem gewissen Bildungsanspruch genügen. Bode plante einen Überblick "der gesammten Entwicklung der Malerei bis auf die neuere Zeit", bei dem, bedingt durch Straßburgs Vergangenheit als deutsches Kunstzentrum des Mittelalters und der Renaissance, ein besonderer Schwerpunkt auf altdeutsche Schulen gesetzt werden sollte. [1] Seine hervorragende Vernetzung auf dem internationalen Kunstmarkt und sein Gespür für Qualität ermöglichten es Bode schon im ersten Jahr, einen Bestand von 68 Werken für Straßburg zusammenzutragen. 1899, als die Kunstsammlung ihren Aufstellungsort im Palais Rohan, dem ehemaligen Bischofspalast der Stadt, fand, waren es bereits 180. [2] Aus Berlin bestimmte Bode die Hängung der Bilder und lenkte teilweise auch Publikationen und Personalpolitik. Zur fortlaufenden Unterstützung der Galerie versuchte er, Freundeskreise zu gründen und private Förderer zu finden, stieß dabei jedoch auf unerwartete Schwierigkeiten. Denn obwohl Bode eine Gemäldesammlung von hoher kunsthistorischer Bedeutung für Straßburg zusammentrug, rief der starke Einfluss, den dieser Vertreter des deutschen Kaiserreichs auf die museale Entwicklung des politisch wie hinsichtlich seiner Bevölkerung zweigeteilten Reichslands nahm, nicht ausschließlich Zuspruch hervor und wurde sogar als kulturelle Fremdbestimmung interpretiert. Nicht nur potenzielle Mäzene kritisierten Bodes Vorgehen und sein Sammlungsprogramm, auch mit den die Kunstwerke vor Ort betreuenden Museumsdirektoren kam es zu verschiedenen Konflikten. Dass Bodes Machtposition dennoch lange Zeit unangetastet blieb, verdankte er seiner guten persönlichen Beziehung zum Straßburger Bürgermeister Otto Back (1834-1917).
Mit dem Aufkommen einer neuen Generation nach der Jahrhundertwende zeigte sich ein gestärktes elsässisches Selbstbewusstsein. Zeitgleich lockerte die deutsche Regierung ihren Kurs der imperialistischen Dominierung, der letztlich die Grundlage für Bodes Straßburger Mission dargestellt hatte. Über dem Versuch, die verschiedenen kunst- und kulturhistorischen Sammlungen Straßburgs in Form eines Landesmuseums zusammenzuführen, gewannen auch Kunsthistoriker mit elsässischem oder französischem Hintergrund Mitspracherecht an der Weiterentwicklung des Gemäldebestands. Dieser Anflug einer kulturellen Liberalisierung fand jedoch sein jähes Ende mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Tanja Baensch betrachtet das Straßburger Museum als Politikum. Bereits in der Einleitung ihrer Arbeit zitiert sie Ernst Polaczek (1870-1939), einen der späteren Direktoren der Gemäldegalerie, der sie in diesem Ansatz bestärkt: "Es gibt kaum ein Gebiet des öffentlichen Lebens im Elsass, dessen Gestaltung und Entwicklung zwischen 1870 und 1918 nicht durch Politik beeinflusst gewesen wäre. Auch Kunst- und Denkmalspflege sind Politica gewesen." [3]
Belege für diese These findet die Autorin viele. Angefangen bei Bodes Ausstattungsprogramm, das die Straßburger Sammlung und somit das Reichsland wie selbstverständlich in die Museumspolitik des deutschen Kaiserreichs einbindet, über die Beschränkung seiner Ankäufe auf alte Kunst und die zeitgleiche Ablehnung der Moderne bis hin zur Kritik der Zeitgenossen, bei der immer wieder Bodes mangelnde Auseinandersetzung mit der Situation des Elsass und dessen auch im Kunstbereich Ausdruck suchenden doppelten nationalen Zugehörigkeit im Vordergrund steht. Die Beweisführung kulminiert in der Behauptung, dass die Straßburger Gemäldegalerie Bode als Modellmuseum diente, in dem er die von ihm entwickelten Gestaltungsprinzipien für preußische Provinzialmuseen idealtypisch umgesetzt hat. Seine an den Berliner Museen gesammelten Erfahrungen schlagen sich in der Struktur dieser Sammlung nieder und begründen so den Titel der Arbeit: "Un petit Berlin"?
Für Bode war das Elsass eine Provinz mit deutscher Vergangenheit, der er durch "seine" Gemäldesammlung allgemeines kunsthistorisches Wissen und Geschmacksbildung am Berliner Vorbild angedeihen lassen wollte. Andere sahen hier ein von zwei Nationen beeinflusstes Land mit (oder ohne) bundesstaatlicher Zukunft, das in seinem Museum ausschließlich Werke regionaler Kunstschaffender konservieren sollte. Germanisierungspolitik, Autonomiebestrebungen und Ansätze, die die "double culture" des Elsass in Rechnung stellen, stehen sich beim Aufbau dieser Sammlung gegenüber und finden ihren Ausdruck in dem einen oder anderen Gemäldeankauf und somit in der Sammlungsgeschichte des Musée des Beaux-Arts de Strasbourg.
Im Aufzeigen der Zusammenhänge zwischen historisch-politischen Ereignissen auf Staatsebene und den daraus resultierenden Konsequenzen für die Kommune Straßburg und ihre Kunst liegt die besondere Stärke dieser auf breiter Quellenbasis angelegten Untersuchung. Die Zusammenführung bislang getrennter Korrespondenzen aus Straßburger Archiven und dem Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin eröffnete der Verfasserin wertvolle Details. Dem Leser wird nicht nur die Gründungsgeschichte einer Gemäldekollektion nahegebracht, sondern das gesamte politische Panorama der reichsländischen Problematik Elsass-Lothringens vor dem Ersten Weltkrieg vor Augen geführt.
Das Buch gliedert sich in vier zeitliche Abschnitte: 1. Straßburg und seine Kunst in der Zeit vor dem Deutsch-Französischen Krieg, 2. die Grundlagen der deutschen Museumspolitik im Elsass ab 1871, 3. die Phase des Sammlungsaufbaus ab 1889, 4. Wege zur kulturellen Autonomie ab 1900. Inhaltlich sind dieser Unterteilung zwei Themenbereiche eingeschrieben: die Schilderung von Bodes musealer Aufbauarbeit und die Annahme der Gemäldegalerie durch das Publikum. Die in diesem Zusammenhang von Baensch vorgelegte Analyse sowohl der zeitgenössischen Diskussion in den Kunstvereinen als auch einiger repräsentativer Publikationen von elsässischen, französischen und deutschen Personen des öffentlichen Lebens, die mit Bezug auf die museumspolitischen Veränderungen in Straßburg verfasst wurden, bereichert die Arbeit um einen wertvollen Aspekt der Rezeptionsgeschichte. Der streng chronologische Aufbau der Erzählung und Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels liefern Orientierung, sodass der Text trotz seines Umfangs von 537 Seiten und der damit einhergehenden Informationsfülle gut zu erfassen ist. Als wertvolle Ergänzung findet sich im Anhang eine von der Autorin zusammengestellte Übersicht sämtlicher von Bode für das Straßburger Museum erworbenen Gemälde und ihres heutigen Verbleibs.
Mit der vorliegenden Studie hat Tanja Baensch nicht nur die weitgehend unbekannte Aktivität Wilhelm von Bodes für kleinere Museen außerhalb Berlins vorgestellt, sondern am Beispiel der Straßburger Gemäldegalerie eine veritable Forschungsgrundlage geschaffen. Ihre Ergebnisse könnten, wie sie im Epilog selbst bemerkt, für vergleichende Untersuchungen kaiserzeitlicher Museen in grenznahen Städten (etwa Posen/Poznán) herangezogen werden, um so die (kultur-) politischen Strategien dieser Zeit in ihrer Gesamtheit zu erschließen. Dass die Inanspruchnahme von Kunst als Instrument zur Durchsetzung machtpolitischer Ziele jedoch nicht nur im 19. Jahrhundert eine Methode war und die Arbeit insofern noch weitere Vergleichsoptionen bietet, belegt ein Blick auf das Schicksal der Straßburger Kunstsammlung zwischen 1940 und 1944. Auch während der Besatzungszeit im Zweiten Weltkrieg unternahmen die Deutschen den Versuch, die Bevölkerung des Elsass durch eine gelenkte Kulturpolitik für sich zu gewinnen, die in der Neuausstattung des Museums ihren Ausdruck fand. [4]
Anmerkungen:
[1] Wilhelm von Bode an Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, 1. August 1889, in: ADBR, AL-27/692.
[2] Vgl. Georg Dehio: Vorwort, in: Verzeichnis der Städtischen Gemälde-Sammlung in Strassburg, Strassburg 1899, I-VII (hier III).
[3] Ernst Polaczek: Die Kunstpflege 1870-1918, in: Süddeutsche Monatshefte 29,3 (1931), 207-211 (hier 207).
[4] Eine Dissertation zum hier angesprochenen Themenbereich wird derzeit von der Verfasserin dieses Beitrags vorbereitet.
Tanja Baensch: »Un petit Berlin«? Die Neugründung der Straßburger Gemäldesammlung durch Wilhelm von Bode im zeitgenössischen Kontext. Ein Beitrag zur Museumspolitik im deutschen Kaiserreich, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 678 S., ISBN 978-3-89971-380-0, EUR 86,10
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