Wo sie nun beginnt und endet, ist in Deutschland nicht weniger umstritten als in Großbritannien: Meint Zeitgeschichte die "Epoche der Mitlebenden", umfasst sie, ganz pragmatisch, die gesamte Geschichte des 20. Jahrhunderts, orientiert sie sich an den historischen Problemlagen der Gegenwart oder einfach am möglichen Aktenzugang? Gibt es gar eine "ältere" und eine "neueste" Zeitgeschichte? Keineswegs war es so, dass nur in Deutschland die akademische Zeitgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg vor erheblichen Schwierigkeiten stand und mit massiven Vorbehalten zu kämpfen hatte. Auch in Großbritannien galt dieses Feld lange Jahre nicht als Domäne der Historiker und manch Arrivierter rümpfte abschätzig die Nase. Denn wie konnte ein und derselbe Gegenstand zugleich "contemporary" und "history" sein? Es sollte einige Zeit dauern, bis 1966 mit dem Journal of Contemporary History eine erste Fachzeitschrift erschien, die freilich vor allem jungen angelsächsischen Faschismus- und NS-Forschern ein Forum bot und weniger denjenigen, die sich mit der britischen Geschichte nach 1945 befassten. Erst 1986 entstand in London das Institute of Contemporary British History (heute das Centre for Contemporary British History at the Institute for Historical Research). Anthony Seldon, zusammen mit Peter Hennessy damals Mitbegründer, formulierte das Ziel des Instituts und gleichzeitig das Unbehagen der Umgebung: "We live in an era of the most exciting and rapid change in the country`s history, yet few of our schoolchildren, history undergraduates or, dare one say it, university historians, know much about the period, which has witnessed the end of empire, the birth of the welfare state, the emergence of Britain as a nuclear power, and British accession to the European Community, against the background of a generally declining economy and the attempts of successive Labour and Conservative administrations to find a role for Britain in the contemporary world." (1)
Damit waren die zentralen Themen benannt: Nicht etwa die Suche nach dem Ursprung der "Katastrophe", dem Aufstieg des Nationalsozialismus und einem vermeintlichen "Sonderweg" lenkte wie in Deutschland den Blick allen voran auf das Jahr 1933. Es waren die als tiefe Zäsur empfundenen Jahre der Regierung Thatcher, die wirtschaftliche und politische Krise der 1970er Jahre, die den Impuls zur Auseinandersetzung mit dem britischen "decline" und dem "post war consensus" gaben. Damit ging es vor allem um Erfolg und Misserfolg des Wohlfahrtsstaats, die Geschichte des "Transfer of Power", das Ende des Empire als Erfolgs- oder Misserfolgsgeschichte und das neue Verhältnis zu Europa.
Waren die Themen und Perspektiven auch anders ausgerichtet, so hat sich die britische Zeitgeschichte doch ähnlich wie in Deutschland in den letzten zwanzig Jahren von einem einstmals universitären Außenseiter zu einer funkelnden Disziplin mit eigenen Zeitschriften und Forschungsnetzwerken entwickelt. Der Companion to Contemporary Britain 1939-2000 ist Teil dieses akademischen Institutionalisierungsprozesses und zugleich Bilanz einer über die Jahre immer weiter gewachsenen Forschung.
Das von Paul Addison und Harriet Jones herausgegebene Einführungswerk richtet sich vornehmlich an Studierende, die mit zentralen Themen britischer Zeitgeschichte vertraut gemacht werden sollen - und das aus unterschiedlichen Perspektiven. Schwerpunkte sind vor allem die Wirtschafts-, Sozial- und Geschlechtergeschichte. So ist das Themenspektrum breit und man wünschte sich, etwas vergleichbar Kompaktes gäbe es auch für die deutsche Zeitgeschichte: Sexualität, Jugend und Familie, Wohlfahrtsstaat und Bildung, Gesundheit, Konsum und soziale Ungleichheit werden auf knappen Raum ebenso behandelt wie die Entstehung sozialer Bewegungen, der Nordirlandkonflikt oder die Außen-, Sicherheits- und Europapolitik.
Besonders Gewicht haben die Herausgeber auf die Bedeutung des Zweiten Weltkriegs und die innen- und außenpolitischen Wirkungen des Kalten Kriegs gelegt. Paul Addison beispielsweise, der zu den besten Kennern der britischen "Home Front" gehört, erläutert präzise den sozialen Wandel und den Legitimationsgewinn interventionistischer Politik im und durch den Krieg. Zugleich zeigt er die unterschiedlichen Aufgaben und Konflikte, vor der die neue Labour-Regierung 1945 stand: Den Auf- und Ausbau des Wohlfahrtsstaats, die Veränderung der Klassengesellschaft, den Einflussverlust des Empire und die neue "special relationship" mit den USA. Freilich hätte man gerne mehr darüber erfahren, wie er zu der Einschätzung gelangte, die Folgen des Zweiten Weltkriegs seien "conservative" (18) gewesen, wie es sicher auch hilfreich gewesen wäre darüber nachzudenken, wie die inzwischen etablierte Sozialgeschichte des Krieges durch neuere methodische Zugriffe aufgebrochen werden könnte.
Vorzüglich und pointiert sind außerdem die Beiträge von Ina Zweiniger- Bargielowska über "Lebensstand und Verbrauch", die eindringlich die Ambivalenz von steigendem Wohlstand und bestehenden Armutsstrukturen nach 1945 deutlich macht, von Bill Scharz über die Dekolonisierungsgeschichte und von Steven Fielding über die Parteienlandschaft, der mit feinem Gespür die Veränderung des einstmals so festen Zweiparteiensystems untersucht und zugleich das - auch in Deutschland keineswegs unbekannte - Wehklagen über die Krise der politischen Parteien historisiert. Nicht alle Beiträge erreichen dieses hohe Niveau, was bei einer solchen Fülle auch nicht verwunderlich ist. Dennoch bietet die Einführung eine ebenso wert- wie gehaltvolle Orientierung für fast alle Bereiche britischer Zeitgeschichte. Es fällt auf, dass das politische System, überhaupt Politik und politische Kultur, insgesamt eher stiefmütterlich behandelt werden, was insbesondere für (deutsche) Studierende ein Manko ist.
Während man über Schwerpunktsetzungen sicher streiten kann, ist ein anderer Punkt problematischer: Die Herausgeber haben in ihrer allzu knappen Einleitung darauf verzichtet, genau zu klären, was sie mit ihrem Begriff der "Zeitgeschichte" meinen, was ihre Disziplin und deren Methoden möglicherweise auch von anderen unterscheidet. Welche Gründe stehen hinter der Entscheidung, die Anfangszäsur 1939 zu setzen? War hier bloßer Pragmatismus am Werk? Gilt diese Zäsur für alle Themen oder nur für manche? Wie sieht die Periodisierung in anderen Ländern aus? Überhaupt fällt auf, dass nur in den allerwenigsten Beiträgen der Versuch gemacht wird, wenigstens ansatzweise vergleichbare Entwicklungen in anderen europäischen Staaten anzudeuten. Möglicherweise hätte dann auch die Frage an Bedeutung gewonnen, wie insbesondere die Medialisierung und der Siegeszug des Fernsehens Wahrnehmungen und politische Konflikte verändertet haben - gerade mit Blick auf Studierende und neue Seh- und Rezeptionsgewohnheiten ein wichtiges Thema, das einen eigenen Beitrag verdient gehabt hätte. Trotzdem: Gerade aus Deutschland blickt man auf den "Companion" mit einer gewissen Ehrfurcht, ja beinahe Neid, auf all das, was dort in den letzten Jahren gerade von sozialhistorisch arbeitenden Zeithistorikern angeschoben wurde. Vor einem solchen Projekt kann man nur den Hut ziehen.
Anmerkung:
[1] Anthony Seldon (ed.): Contemporary History. Practice and Method, Oxford/New York/London 1988, 119.
Paul Addison / Harriet Jones (eds.): A Companion to Contemporary Britain. 1939-2000 (= Blackwell Companions to British History), Oxford: Blackwell 2005, xvi + 583 S., ISBN 978-0-631-22040-4, GBP 85,00
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